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Zum Gedenken an den iranisch-deutschen Drehbuchautor und Regisseur Die langen Ferien des Sohrab S. Saless

Ruhelos, unstet, obsessiv – so kann man das Leben, Schreiben und Filmemachen von Sohrab Shahid Saless in aller Kürze beschreiben. Wer kennt diesen Mann heute in der Bundesrepublik noch? Die Frage sollte nicht erstaunen. Sie ist berechtigt. Denn der Drehbuchautor und Regisseur, der in seinem Heimatland Iran unter seinem vollständigen Nachnamen Shahid-Saless, hierzulande eher als S. Saless bzw. Saless bekannt ist, führte mehrere Leben in einem.

Mit seinen beiden preisgekrönten sozialkritischen Spielfilmen Ein einfaches Ereignis (1973) und Stillleben (1974) ist Saless nicht nur einer der bedeutendsten Akteure und Impulsgeber des modernen iranischen Kinos. Er ist auch – ein völlig zu Unrecht wenig bekannter – Teil des Neuen Deutschen Films wie Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Wim Wenders. Saless’ prämierte deutsche Filme wie die Literaturverfilmungen Grabbes letzter Sommer (1980) und Rosen für Afrika (1991) seien an dieser Stelle ebenso erwähnt wie sein Meisterwerk Utopia (1982).

So wenig bekannt Saless dem deutschen Publikum nach wie vor ist, gibt es seit ein paar Jahren doch Anzeichen einer Wieder- bzw. Neuentdeckung. So fanden Mitte 2016 in Berlin und Anfang 2017 in München Retrospektiven seines filmischen Schaffens statt. Und auch im Ausland ist das Interesse an Sohrab Shahid Saless gewachsen: Ebenfalls Anfang 2017 wurde erstmals eine ausgewählte Werkschau seiner Filme in Teheran organisiert. Mitte 2017 gab es eine weitere Schau in Brüssel.

Am 28. Juni 1944 in Teheran geboren, verlässt Saless den Iran, um, wie er in einer autobiografischen Skizze schreibt, »zu erfahren, wie die Welt eigentlich aussieht. Man sagte, die Erde sei rund, und ich wollte mich davon persönlich überzeugen«. Mit 18 Jahren geht er nach Paris und, weil diese Stadt zu teuer ist, weiter nach Wien. Von 1963 bis 1967 studiert er hier Regie und Dramaturgie für Theater und besucht danach die Schule für Filmgestaltung und Fernsehen. »Als Ausländer aber bekam ich selten den Photoapparat und die Filmkamera in die Hand: Ich könnte die teuren Geräte kaputt machen«, schreibt er seinem Regiekollegen Eberhard Fechner.

Um sein Leben zu bestreiten, arbeitet Saless in Wien als Treppen- und Fensterputzer. 1965 erkrankt er an Tuberkulose, wird behandelt, erkrankt jedoch ein Jahr später erneut. Anschließend setzt er sein Studium am Pariser Conservatoire Independant du Cinéma Français fort, erleidet einen Magendurchbruch und wird erfolgreich operiert. 1968 kehrt Saless in den Iran zurück, wo er bis 1973 über 20 Kurz- und Dokumentarfilme für das dortige Kulturministerium dreht.

Als Saless 1973 Geld für einen weiteren Dokumentarfilm erhält, entschließt er sich, stattdessen seinen ersten Spielfilm zu drehen: Ein einfaches Ereignis. Der Titel ist wörtlich zu nehmen: Es zeigt den monoton verlaufenden Alltag eines zehnjährigen Jungen, der mit seiner Familie in Armut in einer abgelegenen Stadt am Kaspischen Meer lebt. Der kahlgeschorene Junge geht in die Schule, lernt aber nicht; die Mutter ist tuberkulosekrank und erledigt stumm die Hausarbeit; der Vater bringt die Familie mit illegalem Fischfang durch. Ansonsten ist er im Café und trinkt.

»Es gibt so viele Kinder bei uns, die keine Jugend haben, sie sind Kinder und auf einmal werden sie alt. Der Junge aus meinem ersten Film wird ganz sicher den Weg des Vaters gehen, er wird auch Fischer sein, heiraten, alles ist ein geschlossener Kreis«, sagt Saless über sein Debüt, für das er beim Zweiten Internationalen Teheraner Filmfestival die Goldene Ibex für die beste Regie erhält.

Mit seinen beiden im Iran produzierten Spielfilmen entwickelt Saless einen unverwechselbaren Stil. Dieser ist von langen, ruhigen Einstellungen und ihren Wiederholungen, von Stille und der Konzentration auf die Personen geprägt. Saless lässt sie nur das Nötigste sprechen, fokussiert dagegen ihre Gestik und Mimik. Er will, dass das Bild spricht. Und das tut es meisterhaft, denn gerade das Einfache, Stumme und Immer-Gleiche hat eine Sogwirkung, die die Ereignisarmut vergessen lässt. Für diejenigen, die schnelle Schnitte und Verkürzungen gewohnt sind, mögen seine Filme langatmig wirken. Doch es braucht die Zeit, um den Menschen, wie ihn Saless sieht, in seiner Einsamkeit, Stummheit und Abgeschiedenheit zu zeigen, aus dem ein Entkommen unmöglich scheint.

»Mein Stil ist nicht von Vorbildern abhängig«, schreibt Saless einmal in einem Brief. »Ich finde, er passt einfach zu unserem Leben. Ich mag nicht durch Technik, durch Travellings, Schwenks, Zooms etc. den Zuschauer betrügen oder verwirren. Ich will ganz einfache Szenen haben, und was darin passiert, ist das Wichtigste für mich. Die Leute, die vom Kino nichts verstehen, die keine Cineasten sind, können in meinen langen Einstellungen in Ruhe zuschauen.« Ein Vorbild hat Saless dennoch – einen Schriftsteller. »Was mich sehr interessiert, ist die Art zu schreiben von Tschechow«, sagt er 1974 einem deutschen Journalisten. »Ich bemühe mich sehr, so zu filmen, wie er geschrieben hat.«

Mit seiner Erzählweise gehört Sohrab Shahid Saless, mit Dariush Mehrjui, Masoud Kimiai und anderen zu den ersten Regisseuren, die Teil der sogenannten Neuen Welle des iranischen Kinos sind, die in den 60er Jahren einsetzt und bis zur Revolution 1979 dauert. Ihre Erzählweise ist geprägt vom italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague. Die Neue Welle wirft abseits seichter, klischeehafter Unterhaltungsfilme, die das damalige iranische Kino gemeinsam mit US- und Karatefilmen dominieren, einen realistischen, ästhetisch anspruchsvollen Blick auf die iranische Gesellschaft mit ihren Normen und Problemen.

In der Fremde

Das Jahr 1974 bedeutet eine Zäsur in Saless’ Leben. Auf der Berlinale im Juni des Jahres ist er der erste Regisseur überhaupt, dem es gelingt, mit Stillleben einen Film im Wettbewerb und mit Ein einfaches Ereignis einen Film auf dem Internationalen Forum des jungen Films zu platzieren. Saless erhält für beide eine Vielzahl an Preisen, unter anderem den Silbernen Bären für Stillleben. Anschließend kehrt er in den Iran zurück, um einen Film zu realisieren, der in einem städtischen Waisenhaus spielt. Doch der Dreh wird nach zwei Tagen infolge staatlichen Drucks unterbrochen. Der linksorientierte Saless sieht ein, dass ein Arbeiten im vom Schah regierten Iran unter diesen Bedingungen für ihn nicht mehr möglich ist und entscheidet sich, in die Emigration zu gehen.

Westberlin ist seine erste Exilstation. Es folgen unter anderem München und Frankfurt. Saless bleibt stets nur für eine kurze Zeit. Das gilt auch für seine Beziehungen zu Frauen. Er wird Vater einer Tochter, doch auch das hält ihn scheinbar nicht. »Lebe und wohne in Zügen«, schreibt er 1982 dem Schriftsteller Ludwig Fels in einem Brief. Saless ist ein Unbehauster, ein von Unruhe getriebener, suchender Mensch, der unermüdlich arbeitet – einer, für den der Film das Leben bedeutet. Und so lässt sich sein filmisches Schaffen auch autobiografisch lesen.

In der Fremde (1975) etwa erzählt vom isolierten Leben eines türkischen »Gastarbeiters« im grauen Kreuzberg, der Geld spart, um in der Heimat zu heiraten. In Grabbes letzter Sommer (1980) erleben wir die Rückkehr des gleichnamigen Schriftstellers in seine Heimatstadt Detmold, den Versuch, mit seiner bürgerlichen Ehefrau wieder zusammenzukommen, und seinen frühen Tod, den Saless ausführlich in Szene setzt. Wechselbalg (1987), eine weitere Literaturverfilmung, porträtiert ein unscheinbares Ehepaar, das ein Mädchen adoptiert. Die Ehefrau kommt mit den Bedürfnissen und dem Wunsch des Kindes nach Freiraum jedoch nicht zurecht und schlägt, stets Böses ahnend, drauflos.

»Das Publikum ist immer aufnahmebereit. Es ist daran interessiert, von der Gesellschaft, in der es lebt, einiges zu erfahren«, schreibt Saless Anfang der 80er Jahre. Mit dieser Einstellung, die Realität unverfälscht wiederzugeben, hat es der Außenseiter des Neuen Deutschen Films nicht leicht. Die »Schwere« seiner Filmstoffe und seine kompromisslose Haltung gegenüber den Produzenten und Fernsehanstalten, mit denen er arbeiten muss, weil er als Ausländer nicht produzieren darf, erschweren ihm das Arbeiten genauso wie das Entstehen privater Fernsehsender unter Helmut Kohls Kanzlerschaft, wodurch der Quotendruck bei den Öffentlich-Rechtlichen stärker steigt. Fünf Jahre etwa versucht Saless das Drehbuch für Utopia, seine wohl beste Arbeit, unterzubringen. Der Film spielt im Berliner Bordellmilieu und räumt mit Klischees auf. Es gibt keine unbekleideten Frauen und keine ausgelassenen Freier zu sehen. Musik ist kaum zu hören. Saless durchleuchtet nüchtern den tristen Alltag von fünf Prostituierten, die von ihrem blonden Zuhälter terrorisiert werden. Er bedroht und schlägt sie, wenn sie nicht gehorchen, und bezahlt sie nicht. Stets im schicken Anzug und mit akkurat gekämmtem Schnurrbart, macht er ihnen klar, worum es geht: ums Geschäft – und dass eine Veränderung ihrer Situation unmöglich sei. Das verinnerlichen die Frauen.

Nach Saless’ Emigration nach Westdeutschland entstehen insgesamt vier Kino-, sieben Fernseh- und drei Dokumentarfilme, für die er eine Vielzahl an Preisen erhält. 1984 wird er als Mitglied in die Akademie der Künste in Berlin aufgenommen. Zwei seiner Fernsehfilme, Der Weidenbaum (1984) und Hans – Ein Junge in Deutschland (1985), dreht er größtenteils bzw. ausschließlich in der Tschechoslowakei. Nach dem Schnitt von Der Weidenbaum, übrigens seiner einzigen Tschechow-Verfilmung, siedelt Saless in die sozialistisch regierte ČSSR über und heiratet. Er erkrankt an Darmkrebs und wird erfolgreich operiert.

Um 1990 kehrt Saless in die Bundesrepublik zurück. Nach der Fertigstellung seines Films Rosen für Afrika (1991) zerschlagen sich die weiteren Filmpläne. Darum wirkt es fast wie ein Nachruf zu Lebzeiten, dass er Ende 1994 den Großen Preis der Stiftung des Verlags der Autoren für sein »Gesamtwerk« erhält. Verbittert und vom Alkohol gezeichnet, verlässt Saless im gleichen Jahr Deutschland in Richtung USA, wohin ein Teil seiner Familie bereits vor der Revolution 1979 im Iran migriert war. Die Hoffnung, neue Filme zu drehen, erfüllt sich aber auch in Amerika nicht.

Sohrab Shahid Saless stirbt am 2. Juli 1998 in Chicago an inneren Blutungen. Er wird nur 54 Jahre alt. Iranischen Boden hat er nach seiner Emigration nicht wieder betreten. Im Nachhinein nimmt der Titel eines Films, den er 1979 über die deutsch-jüdische Filmkritikerin Lotte H. Eisner (1896–1983) und ihr Leben im französischen Exil gedreht hat, sein Schicksal vorweg. Der Titel lautet: Die langen Ferien der Lotte H. Eisner. Im Film-Interview, das Saless mit ihr führt, erzählt Eisner an einer Stelle von ihrer Flucht vor den Nazis im Frühjahr 1933 zu ihrer Schwester nach Paris: »Und wie ich ankam, weiß ich nur, am ersten April, sozusagen als Aprilscherz, da sagte mein Schwager zu mir: ›Du bist auf Ferien hier.‹ Und ich sagte: ›Eugène, es werden sehr lange Ferien sein.‹«

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