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Wo steht der Diskurs über einen umkämpften Begriff? Die Leitkultur – eine Leidkultur

Die Leitkultur – keiner kann genau sagen, was sie eigentlich ist. Vor knapp 20 Jahren stand sie als Synonym für das christlich-jüdische Abendland, dann auch für das Beherrschen der deutschen Sprache, für Fahne und Hymne (bei der AfD), für (Grund-)Werte, Grundrechte und das Grundgesetz, insbesondere seit den großen Fluchtbewegungen.

Aber auch wenn keiner sie so genau fassen kann, steht sie sicherheitshalber nach den Bundestagswahlen neben zwei anderen gerade gut laufenden Symbolbegriffen – der Obergrenze und dem Patriotismus – im Zehn-Punkte-Plan der CSU. Denn laut den Christsozialen sei in der aktuellen politischen Lage »das Konservative das neue Moderne« und »konservativ ist wieder sexy«. Dieser Zehn-Punkte-Plan lag ebenso wie schon die zehn Thesen zur Leitkultur von Thomas de Maizière der Bild am Sonntag vor. In Kombination beider Top Ten lässt sich damit sagen: Zum sexy sein gehören also die Hand geben und den Namen sagen, auch das Gesicht zeigen, denn wir sind ja nicht Burka. Sollte sich hier demnächst ein wirklicher Trend in Deutschland abzeichnen, ist es sicher gut, dass das gesagt wurde. Aber auch Musikeinlagen bei größeren Festakten sind demnach sexy. Dabei sind schon die zehn Thesen ohne Musik ein Fest für Karikaturisten und Kabarettisten. Wer versucht, die Leitkultur zu konkretisieren und dies als allseits gültige Werte zu proklamieren, bewegt sich schnell auf dünnem Eis.

Man könnte viel lachen, wenn da nicht dieser Missklang wäre. Die Leitkulturdebatte ist eine seit Jahren andauernde Stellvertreterdebatte, eine unglückliche Wertedebatte. Sie wird vehementer geführt als der eigentlich notwendige Diskurs über eine Agenda Migration, über politische Instrumente, die die Teilhabe für alle, für Menschen mit und ohne Migrationserfahrung sichern, zum Beispiel in den Systemen Bildung, Arbeit, Wohnen. Hier liegt aber ein zentraler Schlüssel, Abstiegsängsten – auch im Kontext von Migration – entgegentreten zu können.

Wertedebatten hingegen fungieren vor allem in Zeiten des Wandels und der Verunsicherung für politische Akteure als symbolisches Handeln. Sie suggerieren politische Aktivität und kosten scheinbar nichts. Dabei verfestigen sie, wie die Leitkulturdebatte zeigt, Grenzziehungen zwischen »uns« und »den anderen« und vergiften das gesellschaftliche Klima. Sie führen zu menschenrechtskritischen Diskursverschiebungen und hinterlassen Kratzer an unserer auf Anerkennung von Pluralismus beruhenden politischen Kultur.

Bei aller Notwendigkeit zu untermauern, was unsere freiheitliche Gesellschaft zusammenhält, hatte der Leitkulturbegriff schon mit seiner Einführung durch Bassam Tibi (1996) einen schalen Beigeschmack. Er war geprägt von der Vorgabe, woran sich Menschen zu halten hätten, die nach Deutschland bzw. nach Europa kommen und dort leben möchten: nämlich an einen vermeintlichen Konsens von Werten der »kulturellen Moderne«. Tibi selbst meinte damit Demokratie, Pluralismus, Aufklärung, Menschenrechte und den Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung. Damit ist so ziemlich unser demokratischer Grundkonsens benannt, ein im Sinne Ernst Fraenkels nichtkontroverser Sektor. Dieser setzt den Rahmen für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse unter Anerkennung von Vielfalt und Pluralismus, und zwar für alle. Die Anerkennung dieser Basis ist aber weder genetisch noch biologisch veranlagt – wie es der Ruf nach der Leitkultur suggeriert –, sondern muss in politischen Sozialisationsprozessen im Sinne eines »Prozesses der Einführung in die politische Kultur« (Gabriel Almond/Sidney Verba) erworben werden, und zwar von allen. Dass dies scheitern kann, zeigen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus mit zunehmenden antipluralistischen und antidemokratischen Tendenzen. Dass sich die politische Kultur in Deutschland selbst mit dem Einhalten der Leitkulturansprüche eher schwertut, belegen nicht nur die empirischen Ergebnisse der politischen Kulturforschung – übrigens seit Jahrzehnten. Auch Armin Laschet, heutiger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, konstatierte Anfang 2016 in Anbetracht der Übergriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten in Sachsen, dass »die Integration mancher Deutscher in unsere Leitkultur gescheitert sei«.

Dabei irritieren an dem Tenor des Begriffs mehrere Aspekte. Allein die Vorsilbe »Leit-« störe, so schon 2000 die Kritik des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel. Denn sie setze eine Hierarchie voraus und während vor dem Grundgesetz alle gleich sind, sind sie es in einer Leitkultur nicht (Navid Kermani). Sie diskriminiere per e, so Jürgen Habermas, selbst bei besten Vorsätzen – und das darf man nicht wollen. Womit das Projekt Leitkultur intellektuell praktisch für erledigt erklärt werden könnte.

Aber emotional scheint die Leitkultur die Sehnsucht nach einer definierten Volksgemeinschaft, nach einem kollektiven »Wir« im Kontext von Flucht und Migration zu sättigen. Damit haben Kategorien wie Volk, Kultur und implizit auch »Rasse« an Bedeutung gewonnen. In Anlehnung an Theodor W. Adorno (1954!) könnte man sagen, dass in der Leitkulturdebatte das vornehme Wort Kultur an die Stelle des verpönten Ausdrucks Rasse trete, aber sie damit ihre gefährliche Schlagseite des kulturellen Rassismus nicht verliert.

Denn seit Beginn der Debatte war diese geprägt von der Dichotomie zwischen zwei scheinbar existierenden, statischen Kulturkonzepten: der europäischen bzw. deutschen christlich-jüdisch-abendländischen Leitkultur versus der nichteuropäischen, vor allem einer als muslimisch stilisierten Kultur. So resümiert auch der Begriffsurheber Bassam Tibi im Mai 2017 zur – aus seiner Perspektive – misslungenen Leitkulturdebatte: »Wer keine europäische Identität und europäische Leitkultur wolle, bekomme stattdessen eine islamische Leitkultur für Europa«. In Bezug auf den antimuslimischen Tenor der Leitkulturdebatte ist auffällig, dass nun auch das Jüdische zur »deutschen Leitkultur« gezählt wird, wobei dessen Unterdrückung und sogar Vernichtung lange Merkmal derselben war.

Diese neue Solidarität stärkte die Ablehnung »des Islam«, welche seit Beginn – häufig synonym mit »Migranten« – die Debatte prägte und in Gesinnungstests, abgrenzende Diskurse à la »Gehört der Islam zu Deutschland?« und schließlich in Bewegungen wie Pegida floss.

So erklärt sich auch der Vorstoß von Friedrich Merz im Jahr 2000 als er in einer Bundestagsrede forderte, dass Migranten sich einer »gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen müssten« und einen Werte- und Verhaltenskatalog respektieren sollten. Politischer Kontext war die Arbeit der damaligen rot-grünen Bundesregierung an einem reformierten Staatsbürgerschaftsrecht sowie an einem neuen Zuwanderungsgesetz. Als konservative Abwehrreaktion wurde die Leitkultur in Stellung gebracht, nämlich als Gegenkonzept zu rot-grünen multikulturellen Gesellschaftsvorstellungen. Diese galten als dramatisch gescheitert und wurden z. B. mit Begriffen wie »Parallelgesellschaften« und »Integrationsverweigerung« in Gänze stigmatisiert. Es ging nicht um eine rationale Analyse struktureller Probleme in den Bereichen Bildung, Arbeit und auf dem Wohnungsmarkt. Vielmehr wurden soziale und politische Probleme kulturalisiert und die Menschen selbst für ihre strukturelle Benachteiligung verantwortlich gemacht.

Dabei hatte sich deutlich eine politische Zukunftsaufgabe offenbart. Denn das neue, von Rot-Grün angestoßene Staatsbürgerschaftsrecht senkte die Hürde, deutsch werden zu können – weg vom Abstammungsprinzip hin zum Geburtsortprinzip – und stellte einen Bruch mit dem Mantra »Deutschland ist kein Einwanderungsland« dar. Absehbar wurde damit, dass die Zusammensetzung der in Deutschland lebenden Menschen in nächster Zeit hinsichtlich des Herkunftskontextes sowie den kulturellen und religiösen Identitätskonstruktionen um einiges vielfältiger werden würde.

Zwar war Deutschland auch im Jahr 2000 aufgrund von Migration, Individualisierung und Wertepluralisierung schon lange keine homogene Gesellschaft mehr, aber die konservative Seite wurde von panischer Sorge erfasst, dass dieses Bild nun ins Wanken gerät, wofür auch die vehemente Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft stand.

Eine Renaissance erfuhr die Debatte im Kontext von Flucht und Migration 2014. Aber auch zwischendurch ist sie nie ganz zum Erliegen gekommen. 2005 forderte Norbert Lammert eine Fortsetzung der Debatte, um Möglichkeiten der Identitätsbildung auf einem gemeinsamen Fundament von Werten und Überzeugungen zu eruieren. 2007 fand der Begriff der Leitkultur Eingang ins Grundsatzprogramm der CDU. Als Regierungspartei führte sie bald darauf neue gesetzliche Regelungen ein – wie etwa bundesweite Integrations- und Einbürgerungskurse.

2014 erhielt die Debatte einen neuen Tenor, Leitkultur wurde jetzt stark auf das Grundgesetz und die Grundrechte fokussiert. Damit schien die Debatte auch für einige Vertreter der SPD wie den damaligen Vizekanzler Sigmar Gabriel oder den Vorsitzenden der Berliner SPD-Fraktion Raed Saleh ihren schalen Beigeschmack verloren zu haben, der 2000 noch zu scharfer Kritik des Begriffes geführt hatte.

Eine klare Abfuhr erhielt die Leitkultur allerdings von Rot und Grün im Dezember 2016 mit einer Klage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof, als der Begriff Eingang in die Präambel und Artikel des Bayerischen Integrationsgesetzes erfuhr.

Somit hatte sich die Stimmung hinsichtlich der Leitkultur von 2000 bis heute verändert, Fürsprecher gab es immer mal wieder von Vertreter/innen aller etablierten Parteien und natürlich von der AfD, die sich 2016 in ihrem Parteiprogramm für eine deutsche Leitkultur als Gegenbegriff gegen die »Ideologie des Multikulturalismus« aussprach, wie schon nach 2000 CDU und CSU. Strategisch wird von der AfD der antimuslimische Tenor bedient, indem man sich nach außen für die Rechte von Frauen und Homosexuellen stark macht. Man erscheint als Vertreter eines modernen deutschen Wertekonsenses und kann gleichzeitig den als frauen- und homosexuellenfeindlich stilisierten Islam diskreditieren.

Dabei ist die Suche nach einem deutschen Wertekonsens eine anachronistisch-utopische, so auch prinzipiell die Ergebnisse der Werteforschung. Offene Gesellschaften zeichnen sich gerade durch einen starken Wertepluralismus aus. Globalisierung und Migration haben sogar zu »transnationalen Meta-Milieus« geführt. Viele fühlen sich womöglich eher mit einer Akademikerin aus einem muslimisch geprägten Land verbunden als mit dem Nachbarn, der z. B. dem »konsumorientierten Arbeitermilieu« (Sinus-Milieu) angehört. Einen Minimalkonsens stellen lediglich die demokratischen Grundwerte dar: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc. Diese sind im Grundgesetz zwar als Grundrechte verankert, aber nicht »typisch deutsch«, sondern universale Leitbilder, wie sie auch den Menschenrechten zugrunde liegen. Und Migration ist immer auch ein Gesuch, an diesen demokratischen Grundwerten teilhaben zu dürfen. Dabei handelt es sich bei diesen – so schon Habermas – um ungesättigte Platzhalter, um einen wertegebundenen Rahmen, der aber nicht von vornherein die »richtigen Lösungen« bereithält. Konkretisiert werden sie erst im Nachhinein durch den demokratischen, oft konflikthaften Aushandlungsprozess. Insbesondere hier zeigt sich der Stil einer auf Anerkennung von Vielfalt und Pluralismus beruhenden politischen Kultur, nicht zuletzt besonders im Migrationskontext. Hier können »wir« unser politisches und gesellschaftliches Handeln an der Prämisse messen, dass in Deutschland das Grundgesetz und seine Grundwerte für alle Menschen gleichermaßen gelten. Denn diese regeln, was erlaubt ist und was nicht. Man kann vor dem Hintergrund von Wertevielfalt, Pluralismus und Migration nicht das Grundgesetz wollen und die Leitkultur predigen. Das ist ein Angriff auf die Rechtsgleichheit aller hier lebenden Menschen.

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