Ist Europa nun bald am Ende oder über den Berg? Während die einen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich und Österreich sowie die Parlamentswahlen in den Niederlanden bereits für einen Pendelschlag vom europaphoben Populismus zurück deuten, schütteln die anderen den Kopf und zeigen auf Viktor Orbán (Ungarn), Jarosław Kaczyński (Polen) und Robert Fico (Slowakei) in Ostmitteleuropa und auf die westeuropäische »Internationale der Nationalisten«. Während die Optimisten sich am »Pulse of Europe« aufbauen – Zehntausende demonstrieren Woche für Woche in dutzenden Städten Westeuropas –, nörgeln die Pessimisten, dass gerade in Ostmitteleuropa, wo autoritäre Euroskeptiker zum Zuge gekommen sind, es zwar am 23. März und am 6. Mai zahlreiche proeuropäische Demonstrationen gab, diese aber kleiner als in westeuropäischen Städten ausfielen.
Die Warschauer auf dem – nicht zufällig gewählten – Plac Na Rozdrożu (Platz Am Scheideweg) verstanden sich zwar als Teil jener europäischen Bewegung, die etwa 90 Städte in zwölf Ländern erfasste, aber eine Massenbewegung gegen die regierenden Euroskeptiker entstand daraus weder in Polen noch in Ungarn.
Ostmitteleuropäer sind keinesfalls träger als die Westeuropäer in Sachen Mobilmachung für die EU. Aber die Europabewegung wird nicht zentral gesteuert und die Querverbindungen funktionieren nicht sonderlich gut. Zudem führt die polnische Internetseite des »Pulse of Europe« keine Kontaktadresse oder weitere Hinweise auf. Vor allem aber ist der polnische Europadiskurs heute fast ausschließlich nach innen gewandt. Die EU ist das Herzstück der wohl heftigsten innenpolitischen Auseinandersetzung seit 1989. Es geht darin nicht allein um das entweder autoritäre oder liberaldemokratische Selbstverständnis des polnischen Staates, sondern auch um die Akzeptanz der EU als eine normgebende Instanz, die die nationalkonservative Regierung der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) im Streit mit Brüssel um das Verfassungsgericht, das Mediengesetz oder um den öffentlichen Dienst beanstandet. Während die Frankfurter, Münchner, Berliner oder Hannoveraner von »Pulse of Europe« eher marginalen Gruppierungen im eigenen Lande – Pegida oder AfD – entgegentreten und selbstbewusst Brücken zu Gleichgesinnten in anderen EU-Ländern schlagen, sind die polnischen Europafreunde seit bald anderthalb Jahren mitten im Clinch mit der euroskeptischen Regierung im eigenen Lande. Der direkte Impuls für die Gründung des »Komitees zur Verteidigung der Demokratie« (KOD) im November 2015 war die Lähmung des Verfassungsgerichtes nach den Parlamentswahlen durch die nationalkonservative Regierung. Doch der erste Ansporn für die Mobilmachung von unten war die Bestürzung über die demonstrative Entfernung der Europafahnen bei den Pressekonferenzen der Regierung. Schon die ersten Demonstrationen liefen unter den Parolen: »Freies, europäisches Polen«, sowie »Freie, europäische Medien«.
Deswegen sind KOD-Aktivisten irritiert, wenn man ihnen mit deutschen Sonntagsdemos für Europa als Vorbild kommt. In Polen herrscht eine völlig andere Situation: Wir haben kaum Zeit, um abstrakt für Europa zu demonstrieren. Wir demonstrieren unter den Europafahnen für das Verfassungsgericht, für die Pressefreiheit, gegen das Abholzen des Urwaldes, gegen eine fatale Schulreform und für die Frauenrechte. Das ist unser »Pulse of Europe«. Europa ist für uns leider wieder einmal mehr ein Halt im grundsätzlichen innerpolnischen Streit als ein nach außen getragener Auftrag. So äußerten sich einige Demonstranten am 23. März.
Die Initiative zu den polnischen proeuropäischen Demonstrationen ergriff Adam Michniks Gazeta Wyborcza. Am Vortag der Aufmärsche listete die Zeitung die Versammlungsorte in den polnischen Städten auf und veröffentlichte den Aufruf »Wir lieben dich, Europa«. Eine Sonderbeilage des Blattes veranschaulichte zudem, was alles auf dem Spiel stünde, sollten die Euroskeptiker in Warschau obsiegen. Wie würde Polen aussehen, sollte es 2020 die Strukturfonds, Freizügigkeit, Ökonormen und Einbindung in die kommunizierenden Röhren des europäischen Austauschs verlieren?
Der polnische Aufmarsch am 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge hatte wegen der Spannungen zwischen Warschau und Brüssel um die Wiederwahl Donald Tusks als EU-Ratspräsident eine besondere polnische innen- und europapolitische Note. Drei Wochen vor dem Jubiläum stimmte nämlich nur die polnische Regierung gegen die Wiederwahl des früheren polnischen Premiers. Die kuriose Schlappe 1:27 ließen die Regierenden als ihren moralischen Sieg und als »Zukunftsinvestition« mit riesigen Blumensträußen für die aus Brüssel heimkehrende Ministerpräsidentin feiern. Die polnische Bevölkerung teilte diese Hochstimmung allerdings keineswegs. Die Umfragewerte der PiS stürzten nachhaltig ab. 38 % der Befragten waren der Meinung, dass der vehemente Widerspruch der Ministerpräsidentin Beata Szydło gegen Tusks Wiederwahl das polnische Standing in Brüssel verschlechtert habe, 32 % fanden, es sei unverändert, und gerade einmal 9 % – der harte Kern der PiS-Wähler – glaubten dem Parteichef Jarosław Kaczyński, dass das Gewicht Polens in der EU dadurch größer geworden wäre. Insgesamt war die Erhebung eindeutig: Die große Mehrheit (61 %) der befragten Polen will in der EU bleiben, lediglich 9 % würden einen Polexit bevorzugen. Interessant ist auch, dass 68 % der Polen der EU ein Recht zur Intervention in einem Mitgliedsland im Falle seines Verstoßes gegen geltendes EU-Recht befürworten. 20 % sind dagegen, bei den PiS-Wählern sind es 41 %.
Gerade wegen dieser europafreundlichen Umfragewerte steht die EU im Zentrum des fundamentalen innenpolitischen Streits in Polen. Es geht dabei auch um die Frage, welches Europa man will, einen liberalen Staatenverbund oder eine lose Verbindung autoritärer Nationalstaaten. Die polnischen Nationalkonservativen sagen eines aber ganz deutlich: So nicht!
Dagegen erhofft sich die Opposition vom Rückschlag für die PiS durch ihr absurdes Veto gegen die Wiederwahl Tusks einen Schneeballeffekt in der Öffentlichkeit. Vor den Wahlen 2015 verstand es die PiS, sich als eine verjüngte und moderate proeuropäische Partei zu profilieren und erreichte damit Wähler, die ihre hektische Regierungszeit 2005 bis 2007 entweder schon vergessen oder gar nicht bewusst erlebt hatten. »Jetzt kehrt das Bild einer streitsüchtigen, irrationalen Partei zurück, die unverständliche Zerwürfnisse schürt und nicht kooperationsfähig ist«, schreibt in ihrer Polityka-Kolumne die ehemalige Europaabgeordnete der Bürgerplattform (PO) Lena Kolarska-Bobińska. Mit ihrer tollpatschigen Außenpolitik verschärfe die PiS die Spaltung zwischen denen, die eine starke EU wollen, und denen, die auf die staatliche Souveränität des Nationalstaates – nach eigenem Gusto – pochen.
»Wir sind es, die Europa verteidigen«, behauptet demgegenüber in der Regierungspostille wSieci der PiS-Europaabgeordnete Ryszard Legutko. Die liberal-demokratische Zivilisation installiere »unbemerkt Mechanismen, die wir aus dem früheren System, dem kommunistischen kennen«. Indem die PiS um den eigenen polnischen Weg kämpfe, rette sie auch die europäische Kultur der politischen Vielfalt. Tusk und sein Parteikollege, der ehemalige EU-Kommissar Janusz Lewandowski, seien »Leute ohne Ansichten, die ihre Kultur aufgegeben haben und das Polentum nicht mögen. Das ist kein Streit zwischen Leuten, die gegenüber der EU distanziert sind und deren glühenden EU-Anhängern. Das ist ein Kampf zwischen denen, die die nationale Identität bewahren möchten, und denen, die sie zerstören wollen.«
Deutschland spielt in diesem innerpolnischen »totalen Krieg« um Polen in Europa keine große Rolle. Anders als 2005 hielt sich die PiS im Wahlkampf 2015 – wenn man von der Breitseite gegen Angela Merkels Grenzöffnung für Flüchtlinge absieht – mit antideutschem Kanonendonner zurück. Die PiS-Regierung sah sich im Konflikt mit Brüssel und weniger mit Berlin. Martin Schulz als Präsident des Europaparlaments und nicht Bundeskanzlerin Angela Merkel war das Symbol für eine »unerhörte Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen EU-Mitgliedsstaates«. Und die polnische Opposition wiederum suchte in Brüssel, nicht etwa in Berlin, eine Berufungsinstanz im innerpolnischen Konflikt um die demokratischen Werte und Institutionen.
Sozialforscher sehen in Polen drei etwa gleich starke Gruppen. Erfolgreiche, die heute überwiegend mit der Protestbewegung KOD sympathisieren; die Anhänger der PiS-Regierung, die entweder zum nationalkatholischen harten Kern gehören oder aber auf der Strecke blieben, sei es infolge der Transformation oder eigener Unterlassungen; und junge Leute, die die Geschichte der letzten 25 Jahre kaum kennen und sich in einem Vakuum befinden.
Die Schwäche der KOD-Bewegung und der Anti-PiS-Opposition, meint Polens Staatspräsident a. D. Aleksander Kwaśniewski, sei, dass sie zwar den liberal-demokratischen Status quo ante PiS verteidigen, aber kaum notwendige Reformen vorschlagen. Die PiS wiederum sei mit ihren Versprechungen einer Polonisierung der Wirtschaft, der Umverteilung sowie einer autoritären Werte- und Vergangenheitspolitik nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch weitgehend unwillig, auswärtige normgebende Instanzen zu verinnerlichen.
Für den Sozialdemokraten Kwaśniewski sind die »Vereinigten Staaten von Europa« eine heute zwar irreale, aber in 50 Jahren vielleicht doch »natürliche, von niemandem angezweifelte« Vision. In Polen oder Ungarn werde heute »die letzte Schlacht der nationalen Kreise gegen die unausweichliche Globalisierung und steigende Interdependenz geschlagen«. Die Frage sei nur, welchen Preis Europa für die momentane Desintegration zahlen wird. Es sei durchaus möglich, dass seine Wiedergeburt sogar 30 Jahre in Anspruch nehmen werde. Deswegen reiche es heute nicht, nur den Status quo zu verteidigen, auch wenn die immer mehr antielitär aufgehetzten Bürger euroskeptisch und taub für neue Herausforderungen seien. »Eine dauerhafte Rückwärtsbewegung kann ich mir schlecht vorstellen«, sagt Kwaśniewski.
Wie kann man sich der »nationalkonservativen Welle« entgegenstemmen? Es gibt eine polnische Wendung róbmy swoje – was so viel bedeutet wie: »Lasst uns das Unsrige tun« –, das heißt Basisarbeit leisten. Selbstbildung, Selbstorganisierung der Willigen von unten, damit hat man in Polen gute Erfahrungen gemacht. Demokratie ist kein Selbstläufer. Jede Generation muss sie erlernen und sich für sie einsetzen. Die Ostmitteleuropäer sind dabei, dies zu vergegenwärtigen. Aber auch die Westeuropäer und selbst die Russen gehen für liberale Werte und eine offene Gesellschaft auf die Straße.
In ihrer im Frühjahr 2016 erschienenen – im Tonfall an das Kommunistische Manifest angelehnten – »Streitschrift gegen den Nationalismus« rief Evelyn Roll, engagierte Journalistin der Süddeutschen Zeitung zur allgemeinen Mobilmachung für Europa auf – die polnische Sprache hat dafür die etwas weniger militant klingende Formel pospolite ruszenie. Sie schreibt: »In den Jahren 1913 und 1932 gab es kein Internet, kein Facebook und kein Twitter, mit dem die Europäer sich untereinander über die Nationalgrenzen hinweg hätten vernetzen, schützen und ihre schlafwandelnden Staatsoberhäupter wachrütteln können. Das ist heute anders. Jeder kann sehr viel mehr machen, als jeden Abend bei den Tagesthemen meckern und schlechte Laune haben. Es sind mit dem Internet geniale Werkzeuge vorhanden, die das stille, unsichtbare und individuelle Unbehagen der Mehrheit in hörbare Empörung und erkennbare Aktion verwandeln werden.« Es folgt eine Auflistung von Twitter-, Facebook- und Internetadressen (spinelligroup.eu oder wemove.eu), NGOs und Organisationen wie die Internationale Europäische Bewegung (EMI), die Union Europäischer Föderalisten (UEF) mit Aktionen wie »Don’t touch my Schengen« oder die Gruppe »The Young European Collective« mit ihrer Initiative, jedem jungen Menschen in Europa zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket zu schenken.
Nach dem Brexit, der Wahl Donald Trumps und der offen EU-feindlichen Politik Wladimir Putins ist die Kondition Europas noch anfälliger geworden. Der Publizist Reinhold Vetter bescheinigt Evelyn Roll einen sympathischen guten Willen, beanstandet aber bei aller Notwendigkeit, die Proeuropäer zu mobilisieren, die konzeptionelle Magerkeit des Artikels und die Unterschätzung »der Unterschiede im kulturellen und historischen Bewusstsein« der EU-Mitgliedsländer. Das regionale und nationale Denken werde sich vorerst nicht ändern, auch wenn sich bestimmte Probleme – wie die Flüchtlingskrise – nicht mehr nationalstaatlich lösen lassen. Die EU als Wertegemeinschaft, so Vetter, sei bislang nur eine Fiktion. Mitgliedsstaaten verstoßen gegen diese Werte. Und da die Sanktionsmechanismen nicht greifen, stelle sich die Frage, ob man eine Wertegemeinschaft will. »Wenn ja, muss man nicht härter gegen diejenigen Staaten vorgehen, die diese Werte missachten? Mit finanziellen Konsequenzen? Mit Ausschluss aus der Gemeinschaft? Ich meine ja.«
Ich habe da meine Zweifel. Zum einen kann man sich kaum vorstellen, dass Länder wie Frankreich oder Deutschland je für ihre blauen Briefe bestraft werden könnten. Zum anderen verstärken frontale Sanktionen nur die Abwehrhaltung der Regierenden und treiben ihnen neue Anhänger aus gekränktem Nationalstolz in die Arme. Und schließlich könnte eine derartige Stigmatisierung uneinsichtiger Regierungen den Austrittswunsch bei den betroffenen Bevölkerungen entstehen lassen.
Nichtstun ist allerdings ebenso undenkbar. Die EU muss sich standhaft und geschmeidig zugleich verhalten. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat mir einmal gesagt, für ihn sei die EU eine »pädagogische Anstalt«, die ihn zwinge, eigene nationale Interessen im Zaum zu halten. Doch welche Pädagogik sollte zur Anwendung kommen? Die schwarze mit Spießrute, Eselsbank und Klassen- bzw. Schulverweis oder die des guten Beispiels, des Zuredens, der Geduld und Förderung, der Läuterung und positiven Kräfte bei den unbotmäßigen ABC-Schützen? Insofern wäre eine pospolite ruszenie pro Europa doch nicht ganz falsch.
Entscheidend dabei ist allerdings weniger, die euroskeptischen Gruppierungen zu treffen, als die Gesellschaften der betroffenen Länder insgesamt zu erreichen, damit sie die EU nicht als fremde Macht ansehen. Gegenüber den euroskeptischen Regierungen sollte man dies gebetsmühlenhaft betonen und gleichzeitig Initiativen der Opposition stärken, die im Land europäische Positionen vertreten. Selbst in einem Europa verschiedener Geschwindigkeiten und variabler Geometrien darf es nicht darum gehen, die »Unbotmäßigen« zu verstoßen, sondern ihnen die Möglichkeit offen zu halten, sich doch noch wieder einzureihen.
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