Ich telefoniere mit Anna, einer Freundin aus Mannheim. Sie erzählt mir vom Jahrgangsstufentreffen anlässlich ihres Abiturs vor 35 Jahren. Bis auf drei ihrer damaligen Mitschüler*innen waren alle da. Fast 100 Leute. Die meisten hat sie in den letzten Jahren immer wieder gesehen, sie wohnen immer noch dort oder ganz in der Nähe. Mit vielen ihrer Freundinnen von damals ist sie nach wie vor befreundet, ihre Kinder sind mehrmals wöchentlich bei den Großeltern, sie holen sie von der Schule oder vom Kindergarten ab, bringen sie zur Kinderfeuerwehr und zum Fußball. Anna wohnt mit Mann und Kindern im eigenen Haus, sie hat ein paar Jahre – wegen der Kinder – nicht gearbeitet, jetzt ist sie wieder halbtags in einem Reisebüro tätig. Ihre Eltern und Schwiegereltern haben sie finanziell unterstützt. Der Schwiegervater ist vor zwei Jahren verstorben, die Schwiegermutter lebt seither in einem »Betreuten Wohnen«, im selben Dorf wie meine Freundin. Annas Mann hat zwei Brüder, einer wohnt im Nachbarort, der andere in der 50 km entfernten Großstadt. Beide haben Frau und Kinder. Die ganze Familie trifft sich regelmäßig. Man fährt – in unterschiedlichen Konstellationen – gemeinsam in den Urlaub.
Bei mir ist das anders. Ich gehöre zur »fehlenden Generation« meiner Heimat. Aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, das bis fast zu meinem 19. Geburtstag noch Teil der DDR war. Viele Mitschüler*innen aus meiner Schulzeit sind wie ich nach 1990 weggegangen, für die Ausbildung, das Studium, den Job. Ich war auch auf einem Treffen meiner Jahrgangsstufe, wir bekamen nicht mal zahlenmäßig eine der sechs Klassen meines Gymnasiums zusammen. Wir wussten zum Teil nicht, wohin es die Mitschüler verschlagen hatte. Eltern waren weggezogen, meist nur aus der Stadt raus – aber damit auch nicht so leicht wiederauffindbar. Schulen schlossen, eröffneten anders neu, Unterlagen gingen verloren. Aus meiner Schulzeit habe ich kaum noch Freunde. 1990 habe ich Mecklenburg-Vorpommern verlassen: Ich wollte studieren, musste mich umorientieren, bin nach einem Semester von Potsdam nach Tübingen gewechselt. Denn dort war die Universität nicht im Umbruch, es gab stabile Lehrpläne und Lehrpersonal. Fast 20 Jahre war ich im Süden und Westen Deutschlands, bis ich dann eine für meine Generation seltene Möglichkeit nutzen konnte, zurück nach Mecklenburg-Vorpommern zu ziehen. In der Zwischenzeit hatte ich Mann und Kinder, süddeutsch »eingeheiratet«.
Ich habe Freunde an vielen Orten Deutschlands. Ich sehe sie leider nicht so oft wie ich es möchte, spontane Grillfeste oder ein Nachmittagskaffee sind nicht möglich. Auch die süddeutsche Familie sehen wir nicht oft. Als wir noch im Südwesten wohnten, war es mit der norddeutschen Familie ebenso. Wegziehen von zu Hause, manchmal auch sehr weit, das machen einige – aber nicht ganze Generationen: Ein Fünftel der 1975–1989 Geborenen hat Mecklenburg-Vorpommern verlassen. Zudem halbierte sich die Geburtenrate. Die Folgen nehmen viele erst in den letzten Jahren wahr.
Die harte Transformation hat das Generationengefüge verändert.
Die massive Abwanderung nach der friedlichen Revolution hat als harte Transformation das Generationengefüge verändert, sie hat nicht nur Auswirkungen auf innerfamiliäre Prägungen, sondern verändert die kollektiven Heimatgesellschaften im gesamten Osten Deutschlands. Und dies hält weiter an. War Mecklenburg-Vorpommern 1990 noch das Bundesland mit der jüngsten Bevölkerung, so hat sich das dramatisch verändert: Das Medianalter lag 2024 bei 52,8 Jahren; im Vergleich dazu Baden-Württemberg: 46,2 Jahre. 2040 werde ich, wie ein Drittel der Bevölkerung meines Heimatlandes, über 65 Jahre alt sein. Nur noch 15 Prozent der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sind jünger als 18 (und das wird auch 2040 nicht anders sein). In allen Landkreisen meines Heimatlandes sinken die Einwohnerzahlen beständig. Nach 1990 – und seither stetig – ziehen auch in Westdeutschland Geborene in den Osten. Diejenigen, die zwischen 1990 und 2005 kamen, waren jedoch in der Regel älter als diejenigen, die aus dem Osten weggingen. Sie konnten die Lücke nicht schließen, die die damalige Abwanderung riss.
Die starke Abwanderung aus den östlichen Bundesländern hat Auswirkungen auf die Familienmodelle, sie verändert Familienstrukturen und persönliche Netzwerke, sie ändert strukturell die Generationenbeziehungen. Das erschwert die Weitergabe von Familientraditionen und soziokulturellen Prägungen, denn es macht einen Unterschied für Familien, ob die Tanten, die Söhne, die Enkelkinder in der Nähe leben, oder ob ein Besuch lange geplant werden muss, großen Aufwand bedeutet und Alltag nicht wirklich miterlebt werden kann. Die Sozialisierung verändert sich, familiale Bindungen und die intergenerationale Weitergabe von Erfahrungen werden schwächer.
Das Ausbildungsangebot übersteigt zu mehr als einem Drittel die Nachfrage.
Die, die gegangen sind, fehlen auch auf den Arbeitsmärkten. Im Jahresdurchschnitt 2023/24 konnten fast 50 Prozent der offenen Stellen
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