Bücher über Konrad Adenauer, den ersten Bundeskanzler füllen bereits Regale. Hier also nun ein weiteres Werk. War über diese Gründungsfigur der Bundesrepublik eigentlich nicht schon alles gesagt? Werner Biermanns Biografie über den vormaligen Kölner Oberbürgermeister bereitet den Stoff aber in erfrischender Weise neu auf. Für junge Leser, die von Adenauer und seiner Zeit nur wenig wissen, vor allem aber auch für Ältere, die »den Alten« und die 50er Jahre als reaktionär und muffig restaurativ abgehakt hatten.
Der kurz vor Vollendung seiner Biografie im April 2016 verstorbene Werner Biermann war Journalist, Filmemacher und Schriftsteller. Er hat seinem Buch programmatisch Golo Manns Diktum, dass »die Biographie Erzählung sein muss«, als Motto vorangestellt.
In seinen Filmen und Büchern über historische Persönlichkeiten, vor zehn Jahren über Franz Josef Strauß und nun über Konrad Adenauer, stützt sich Biermann auf Gespräche mit den engsten Familienmitgliedern. Ausführlich sprach er mit den Kindern Georg Adenauer und Libet Werhahn-Adenauer und den Enkeln Konrad Adenauer und Jan Reiners.
Der Leser soll so ins Bild gesetzt werden, dass er sich selbst ein Urteil bilden kann. Dabei geht es Biermann nicht zuletzt um die Überprüfung und Revision seiner eigenen Vorurteile als junger Zeitgenosse Adenauers. Deshalb ist diese Biografie gerade für damalige Gegner des knorrigen Kanzlers, etwa ältere Sozialdemokraten, besonders lesenswert.
Adenauer und Schumacher
Zuerst ein Blick auf den zweiten Teil des Buches »Kanzler im kalten Krieg«. Ältere Zeitgenossen erinnern sich an den Zweikampf zweier Leitfiguren, zwischen Adenauer als dem Überraschungskandidaten der neugegründeten CDU und Kurt Schumacher als Vertreter der ehrwürdigen SPD. Im In- und Ausland rechnete man mit Schumacher als erstem Bundeskanzler. Nach der denkbar knappen Kanzlerwahl Adenauers im Jahr 1949 sah man Adenauer und Schumacher bis zu dessen frühen Tod 1952 als erbittert streitende Feinde. Schumachers Diffamierung Adenauers als »Kanzler der Alliierten« fand Eingang in die Geschichtsbücher.
Dabei wurde und wird übersehen, in welchen Punkten die beiden sich ähnlich und einig waren. Beide waren als »Preußen« erzogen worden, der eine aus einer rheinisch-katholischen Unteroffiziersfamilie, der andere aus einer westpreußisch-evangelischen Kaufmannsfamilie. Beide waren unerbittliche Antikommunisten. Und beide entschiedene Gegner einer Großen Koalition, die sich führende Vertreter sowohl der CDU als auch der SPD 1949 erhofften.
Die Stalin-Note vom 10. März 1952 mit dem Angebot eines wiedervereinten, aber neutralisierten Deutschlands stieß nicht nur in der SPD, sondern auch in Teilen der CDU auf die Bereitschaft zu sorgfältiger Prüfung, aber Schumacher wie Adenauer lehnten sie übereinstimmend ab. Große öffentliche Beachtung fand Stalins Angebot damals nicht. Erst vier Jahre später löste der Journalist Paul Sethe mit der Behauptung, Adenauer hätte eine Chance zur Wiedervereinigung verpasst, einen Streit aus, bei dem sich der inzwischen zur SPD übergetretene erste CDU-Innenminister Gustav Heinemann der außerparlamentarischen Kritik um die evangelische Linke, Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer, anschloss.
Die großen Erfolge seiner Regierungsjahre, die im Gewinn der absoluten Mehrheit 1957 ihren Ausdruck fanden, verdankte Adenauer, der nie eine große Koalition anstrebte, ausgerechnet den in Wahlkampfzeiten unerbittlich und polemisch niedergemachten Sozialdemokraten.
Die SPD als Stütze von Adenauers Macht
Der der Bundesrepublik im Londoner Schuldenabkommen gewährte Schuldenerlass, der im Rückblick als Startschuss des Wirtschaftswunders erscheint, wäre ohne das parallel ausgehandelte, mit Wiedergutmachungsmilliarden verbundene Israel-Abkommen nicht wirksam geworden. In der Regierungskoalition lehnten FDP und DP (Deutsche Partei), aber auch Teile der CDU/CSU das Abkommen mit Israel ab. Franz Josef Strauß und andere aus der CSU beschimpften Adenauer als »ewigen Schuldenmacher«. In der Abstimmung im Bundestag war Adenauer, wie Biermann schreibt, »ganz auf die SPD angewiesen; die Sozialdemokraten stimmen geschlossen für den Vertrag mit Israel«.
Das wiederholte sich bei der Rentenreform, einem zentralen Projekt der Regierung Adenauer. Den »Generationenvertrag« und die durch ihn ermöglichte »Dynamisierung« der Renten, kurz: die Erhöhung der Renten zu einer ausreichenden Finanzierung des Lebensabends, lehnten nicht nur die Unternehmerverbände, Banken und Versicherungsgesellschaften, sondern auch Adenauers Finanzminister Fritz Schäffer ab. Trotz größter Überzeugungs- und Überredungsversuche besaß Adenauer im Bundestag »keine eigene Mehrheit«, wieder war er auf die SPD angewiesen, die am 22. Januar 1957 im Bundestag geschlossen für die Reform stimmte. Die FDP als Koalitionspartner stimmte geschlossen dagegen.
Das dritte Szenario einer Unterstützung durch die SPD bildeten zwei Jahre zuvor Adenauers Verhandlungen in Moskau zur Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen. Die Sowjets bestanden auf der offiziellen Aufnahme diplomatischer Beziehungen als Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands. Die Freilassung der Kriegsgefangenen wollten sie im Gegenzug nur mündlich zusagen. Wichtige Mitglieder in Adenauers Delegation wie Hans Globke, Herbert Blankenhorn, Heinrich von Brentano, Kurt Georg Kiesinger und Karl Arnold, vor allem auch ein Staatsrechtler wie Walter Hallstein, rieten zum Abbruch der Verhandlungen und ergebnisloser Rückkehr nach Bonn. In diesem Klima drohten die Gespräche im Plenum der Verhandlungsrunden zu scheitern, bis Adenauer Carlo Schmid, dem einzigen Sozialdemokraten auf deutscher Seite, das Wort erteilte: »Schmid soll sprechen«, ordnete er auf einem Zettel an. Und tatsächlich schaffte Carlo Schmid mit seinem Redebeitrag den für die sowjetische Seite überzeugenden Durchbruch. Einem Gespräch Werner Biermanns mit dem Dolmetscher Rolf-Dietrich Keil verdanken wir die Kenntnis einer Bemerkung Adenauers, die im Small Talk mit den sowjetischen Gastgebern im Bolschoi-Theater gefallen sein soll: »Der Carlo Schmid ist in die SPD gekommen wie der Pilatus ins Credo.«
Adenauers Konzept, trotz klarer Abgrenzung zur SPD im Bedarfsfall mit ihr, unter Vernachlässigung bockiger Koalitionspartner, zu regieren, hat die CDU stark gemacht und die kleinen Parteien randständig bleiben lassen. Nur der SPD selbst hat es nach Schumachers Tod mangels einer ebenbürtigen Führungsfigur nichts genützt. Lässt man die auf den Zweimarkstücken verewigten Gründungsväter der alten Bundesrepublik Revue passieren, dann erscheint Herbert Wehner als der einzige Adenauer vergleichbare Stratege. Er war es auch, der in seiner Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 den Widerspruch zwischen einer faktischen Unterstützung Adenauers und einer ideologisch begründeten Fundamentalopposition seiner Partei auflöste.
Die Macht als Toxikum
Der erste Teil der Biermannschen Biografie trägt die Überschrift »Der treue Sohn seines Vaters«. Die Kapitel über Adenauers Jugendzeit in Köln und seine Jahre als Oberbürgermeister lassen ein Bild der rheinischen Metropole entstehen, das vom Abriss der alten Stadtmauern 1881 bis zur Schaffung der Grüngürtel in den 20er Jahren reicht und plastischer ist als die meisten historischen Chroniken Kölns.
In dieser Zeit folgte Adenauer streng gehorsam dem fromm katholischen Vater, der sich bei seinem Aufstieg in den gehobenen Justizdienst an den im Militärdienst verinnerlichten preußisch-protestantischen, ja calvinistischen Prinzipien orientierte. Im Kreise seiner freieren bildungsbürgerlichen Mitschüler am Apostelgymnasium blieb er ein strebsamer, stets am Rande der Armut lebender Einzelgänger. Was er in Schule und Studium trieb, war reine, dem Vaterwillen geschuldete Pflichterfüllung. Mit den Worten des Biografen: »Ganz dem Diktat des Vaters unterworfen, übernimmt er, offensichtlich ohne jede Auseinandersetzung oder Krise, dessen Regeln und Werte.« Biermann betont die »Unauffälligkeit« des Schülers und Studenten, der sich weder intellektuell noch musisch profilierte. Den Aufstieg ins Kölner Großbürgertum verdankte Adenauer seiner Heirat mit Emma Weyer, der Tochter einer einflussreichen und reichen Kölner Familie. Ohne die Protektion eines Onkels seiner Frau, des Oberbürgermeister Max Wallraf, wäre Adenauer als jüngster Dezernent nicht so rasch aufgestiegen und 1917 zum Oberbürgermeister gewählt worden. Damit hatte der treue Sohn das Ziel erreicht, das ihm sein Vater auf dem Sterbebett vorgegeben hatte.
Was Adenauer als Oberbürgermeister für Köln geleistet hat, ist legendär. Im Rückblick auf die Modernisierung Kölns in seiner Amtszeit, für die er sich den Architekten und Stadtplaner Fritz Schumacher aus Hamburg holte, erscheinen seine heutigen kommunalpolitischen »Nachfolger« als Zwerge. Die Durchsetzung der Grüngürtel als Naherholungszone und Luftreservoire erweist Adenauer als »Grünen« avant la lettre.
Dass Werner Biermanns Buch nicht zur Hagiografie wurde, verdanken wir seinem kritischen Blick auf Adenauers Persönlichkeit. Nach der Zwangsunterbrechung seiner Arbeit durch die Nationalsozialisten entwickelte der abgesetzte »König von Köln« einen »unersättlichen (…) Machthunger, (…) er ist süchtig, und die Macht ist sein Toxikum«. Sein »ungeheures Selbstbewusstsein«, verbunden mit »Arroganz, Borniertheit und Besserwisserei«, ging einher »mit einer fatalen Tendenz zur Selbstüberschätzung, die sich auch als herablassende Verachtung« zeigen konnte. Kurz, der autokratische Patriarch war nicht immer ein angenehmer Zeitgenosse. Bei Schwächen und Selbstzweifeln, die ihn gelegentlich überkamen, zog er sich zurück in sein Rhöndorfer Idyll, zu seinen Rosen oder den mittelalterlichen Gemälden seiner Bildersammlung.
Adenauers Weg aus dem noch »mittelalterlichen« 19. Jahrhundert in die Moderne des 20. bildet wahrlich ein »Jahrhundertleben«. Das zähe Ende seiner Kanzlerschaft und der quälende Abschied eines 90-Jährigen von der Macht weisen aber ein Defizit unserer politischen Verfassung hin: die Nichtbegrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers auf zwei Wahlperioden oder acht Jahre.
Werner Biermann: Konrad Adenauer. Ein Jahrhundertleben. Rowohlt Berlin, 2017, 656 S., 29,95 €.
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