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Die Aufregung über die neue US-amerikanische Wirtschaftspolitik beruht auf einem Mythos Die Mär vom freien Markt

Mit einer Reihe von Gesetzen, oft als Bidenomics bezeichnet, versucht die US-amerikanische Regierung unter Joe Biden einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik. Was verbirgt sich dahinter? Was ist neu und welche Risiken beinhaltet er? Letztens sagte Joe Biden: »Bidenomics? I don’t know what the hell that is…«

Um die Industriepolitik der Biden-Administration überhaupt verstehen und bewerten zu können, muss man sich zunächst klarmachen, in welchem Ausmaß die US-Regierungen bereits vorher in die Struktur der Märkte und die Lenkung des Kapitals eingegriffen haben. Die Vorstellung, dass wir in den letzten vier Jahrzehnten einen Kapitalismus der freien Marktwirtschaft verfolgt hätten, ist ein Mythos, der von denjenigen verbreitet wird, die in dieser Zeit vor allem profitiert haben.

Tatsächlich haben die US-Regierungen den Markt in grundlegender Weise mitgeformt, durch die Gewährung von Patent- und Urheberrechtsmonopolen bis hin zur Rettung insolventer Banken. Diese Eingriffe können realistischerweise nicht dem »freien Markt« zugerechnet werden, sondern eher dem Wunsch nach Umverteilung von unten nach oben.

Patent- und Urheberrechtsmonopole

Die eklatanteste Form der Intervention, die wir in den letzten vier Jahrzehnten erlebt haben, war das System der staatlich gewährten Patent- und Urheberrechtsmonopole, das in den letzten vier Jahrzehnten immer größer und stärker geworden ist und in krassem Widerspruch zu der Erzählung von den freien Märkten steht.

Der Bedeutung von Patent- und Urheberrechtsmonopolen für die Wirtschaft und die Einkommensverteilung wird viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ein bemerkenswertes Beispiel: Die Menschen in den USA werden im Jahr 2023 über 550 Milliarden Dollar für verschreibungspflichtige Medikamente ausgeben. Ohne Patentmonopole und den damit verbundenen Schutz würden sie wahrscheinlich weniger als 100 Milliarden Dollar kosten. Die Differenz entspricht etwa 1,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) oder mehr als 20 Prozent aller Unternehmensgewinne nach Steuern.

Und das sind nur die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente. Wenn wir die für medizinische Geräte, Computer und Software, Pestizide, Düngemittel und andere Bereiche, in denen die Gewinne aus geistigem Eigentum einen großen Teil des Preises ausmachen, hinzuzählen, kämen wir wahrscheinlich auf über eine Billion Dollar.

Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Die Regierung überließ Moderna die Kontrolle über den COVID-19-Impfstoff, für dessen Entwicklung und Erprobung das Unternehmen über viele Jahre enorme öffentliche Investitionen erhalten hatte. Das Ergebnis ist, dass es jetzt fünf Moderna-Milliardäre gibt.

»Auch auf dem Finanzsektor haben wir kaum eine Politik der freien Marktwirtschaft betrieben.«

Auch auf dem Finanzsektor haben wir kaum eine Politik der freien Marktwirtschaft betrieben. Wir befreiten ihn ausdrücklich von den Umsatzsteuern, die auf die meisten anderen Waren erhoben werden. Wir sind auch schnell dabei, Banken und anderen Finanzinstituten aus der Patsche zu helfen, wenn sie durch Gier und Inkompetenz in Schwierigkeiten geraten sind. Infolgedessen haben wir einen gewaltig aufgeblähten Finanzsektor, der Grundlage für das Vermögen vieler der reichsten Menschen des Landes ist.

Auch unsere Freihandelspolitik ist nicht ganz den Erwartungen gerecht geworden. Wir haben Handelsabkommen abgeschlossen, die unsere Arbeitnehmer in der verarbeitenden Industrie in direkten Wettbewerb mit Niedriglohnarbeitern in den Entwicklungsländern gestellt haben. Das prognostizierte und tatsächliche Ergebnis dieser Politik war der Verlust von Millionen Arbeitsplätzen in der verarbeitenden Industrie und eine drastische Senkung der Löhne für die verbliebenen.

Es bestand jedoch kein Interesse an einer Freihandelspolitik für Ärzte und andere hoch bezahlte Fachkräfte. Die Schranken, die Ausländern den Zugang zu diesen Bereichen verwehren, wurden beibehalten oder sogar noch verstärkt. Infolgedessen liegen die Einkommen amerikanischer Ärzte mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt anderer wohlhabender Länder. Dies erhöht die Summe US-amerikanischer Arztrechnungen jährlich um fast 100 Milliarden Dollar. Im Gegensatz dazu erhalten unsere Arbeiter im verarbeitenden Gewerbe weniger Lohn als ihre Kollegen in Westeuropa.

Wir vergleichen die Agenda von Biden also nicht mit einer reinen Marktpolitik sondern mit einer Politik, die große Ineffizienzen geschaffen hat, um mehr Geld an mächtige Interessengruppen umzuleiten. Was sind nun aber die zentralen Bausteine der sogenannten Bidenomics? Da ist zum einen sein großes Infrastrukturpaket, das über einen Zeitraum von zehn Jahren fast eine Billion Dollar für die Modernisierung der US-Infrastruktur bereitstellen wird. Zudem gibt es Bemühungen, die USA bei der Herstellung modernster Halbleiter wieder zur führenden Nation zu machen und die Abhängigkeit von Importen, vor allem aus Taiwan, zu verringern. Drittens geht es um die Förderung grüner Technologien durch Subventionen und Steuergutschriften. Und schließlich wird versucht, die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe im Inland zu erhöhen (idealerweise gewerkschaftlich organisiert), indem Zölle und andere Importhindernisse eingeführt werden.

Diese Ziele sind natürlich miteinander verwoben. Die Bemühungen zur Förderung sauberer Energie sollen auch die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe in den Vereinigten Staaten erhöhen, indem die Subventionen für Produkte, bei denen der größte Teil der Wertschöpfung in den Vereinigten Staaten erfolgt, großzügiger ausfallen sollen. In ähnlicher Weise dürften Infrastrukturprojekte viele gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen, von denen ein erheblicher Teil gewerkschaftlich organisiert sein wird, da die Gewerkschaften im Baugewerbe nach wie vor relativ stark sind.

Grundlagen für künftiges Wachstum

Mit der Modernisierung der Infrastruktur wird die Grundlage für künftiges Wachstum gelegt, so wie der Bau des nationalen Autobahnnetzes in den 50er Jahren die Grundlage für jahrzehntelanges Wachstum in den Vorstädten und die Förderung der Autoindustrie gelegt hat. Dies gilt insbesondere für Maßnahmen wie den Aufbau einer nationalen Ladeinfrastruktur, die notwendig ist, um Elektroautos rentabel zu machen.

Es wäre schlecht, bei Halbleitern künftig von Taiwan abhängig zu sein.

Die Verlagerung der Produktion moderner Halbleiter ins Ausland in früheren Zeiten kann man noch, unabhängig von seinen wirtschaftlichen Vorzügen, als eine notwendige Maßnahme ansehen. Ein leider plausibles Zukunftsszenario ist jedoch der chinesische Versuch, Taiwan gewaltsam einzunehmen. Dann wäre es schlecht, von Taiwan abhängig zu sein, vor allem im Bereich hochmoderner Computerchips, die sowohl für militärische als auch für zivile Zwecke benötigt werden.

Der Vorstoß zur Förderung von Elektroautos und sauberer Energie ist eine absolute Notwendigkeit. Die USA und der Rest der Welt zahlen bereits einen hohen Preis für die globale Erwärmung. In Teilen Floridas und Kaliforniens ist es nicht mehr möglich, eine private Hausratversicherung abzuschließen, weil in Florida die Gefahr von Überschwemmungen und Wirbelstürmen und in Kalifornien die von Waldbränden stetig steigt. Die USA allein können die globale Erwärmung zwar nicht verhindern, indem sie ihre Emissionen reduzieren, aber als zweitgrößter Emittent der Welt tragen sie erheblich zu diesem Problem bei. Und es wird sehr schwierig sein, die Dynamik der Emissionsreduzierung in anderen Ländern aufrechtzuerhalten, wenn die USA nicht beispielhaft vorangehen. Da die Preise für saubere Energie in den letzten 20 Jahren stark gesunken sind, dürften sich Investitionen in diesem Bereich auch ohne Berücksichtigung der Umweltvorteile schnell auszahlen.

Der letzte Bereich ist das Bestreben, die heimische Produktion zu fördern, um gut bezahlte und idealerweise gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplätze zu schaffen. Hier wurden wahrscheinlich mehr Hoffnungen und Bedenken geweckt, als gerechtfertigt sind. Präsident Biden kann mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nur begrenzt zur Förderung der heimischen Produktion beitragen. Er hat viele der Zölle aus der Trump-Ära beibehalten, insbesondere gegenüber China. Es ist unwahrscheinlich, dass er die Zölle gegenüber anderen Handelspartnern in größerem Umfang anheben wird.

»Der Inflation Reduction Act wird nicht zu einem Beschäftigungsboom führen.«

Die Vorschriften des Inflation Reduction Act sehen zwar höhere Subventionen für Autos und Batterien vor, die in den Vereinigten Staaten ganz oder überwiegend hergestellt werden, aber diese sind relativ begrenzt. Sie werden nicht dazu führen, dass wesentlich bessere oder billigere ausländische Produkte vom US-Markt verdrängt werden. Aus diesem Grund ist es zwar einerseits unwahrscheinlich, dass sie der US-Wirtschaft hohe Kosten aufbürden, aber sie werden auch nicht zu einem Beschäftigungsboom führen, der den US-Arbeitsmarkt entlastet.

In diesem Sinne können sie als gut durchdachte Maßnahmen betrachtet werden, die einige gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen und gleichzeitig eine wichtige politische Wählerschaft belohnen werden. Die Unterstützung der Gewerkschaften ist nach wie vor bedeutsam für die Demokratische Partei und war entscheidend für die Wahl von Joe Biden im Jahr 2020. Sie wird auch für seine angestrebte Wiederwahl 2024 von Bedeutung sein und eine wichtige politische Basis bilden für eine grüne Transformation.

In diesem Licht müssen die bescheidenen Präferenzen für die heimische Produktion, die in den Bidenomics enthalten sind, gesehen werden. Nur wenn man der irrigen Meinung ist, dass die Wirtschaft in den letzten vier Jahrzehnten ihre Effizienz steigern konnte, ohne dass die Regierung in den freien Markt eingegriffen hat, mag Bidens Politik wie eine radikale Abkehr erscheinen. Wenn man aber erkennt, wie die Politik darauf abzielte, die Märkte in einer Weise zu strukturieren, die oft überhaupt nicht auf Effizient ausgerichtet war, dann gibt es weit weniger Grund zur Sorge.

Bidens Strategie birgt aber durchaus auch Risiken: Sollte sich herausstellen, dass die geplanten Subventionen und Zölle nicht ausreichen, um viele Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie zu schaffen, könnte er versucht sein, sie auszuweiten. Irgendwann könnte aus einer relativ kleinen Quelle der Ineffizienz eine große werden. Wichtig wird sein, dass die Regierung Biden diese protektionistischen Maßnahmen nicht überzieht. Zudem besteht die Gefahr, dass diese protektionistischen Maßnahmen andere Ziele unterwandern, vor allem die grüne Transformation. Die Treibhausgasemissionen müssen so schnell wie möglich reduziert werden. Wenn die Unterstützung der heimischen Produktion die Einführung von Elektroautos oder die Installation von Wind- oder Solarkapazitäten verlangsamt, werden wir für eine relativ geringe Anzahl von Arbeitsplätzen einen hohen Preis zahlen müssen.

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