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Was hinter Macrons Renten-Plänen steckt Die Mär von den »Privilegien«

Der Streik gegen die Rentenreform von Emmanuel Macron und seinem Premierminister Édouard Philippe dauert seit über einem Monat an. Ob er beendet oder fortgesetzt wird, war zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Beitrags noch nicht absehbar. Die Regierung setzt auf Zeit, die Zermürbung der Streikenden, die keine Streikgelder erhalten, und das Kippen der Stimmung in der Bevölkerung und den Medien. Zum Jahreswechsel standen noch knapp 50 % der Franzosen hinter den Streikenden. Das Rentensystem in Frankreich war seit der IV. Republik (1946–1958) umstritten. Gegen eine Rentenreform streikten 1953 heute unvorstellbare vier Millionen Menschen. In der V. Republik gab es bisher fünf Anläufe, das Rentensystem zu reformieren – 1995, 2003, 2007, 2010, 2019 – und fünf Streiks, von denen vier Erfolg hatten, d. h. die Regierung zwangen, die Reform zurückzuziehen oder zu entschärfen. Darauf setzen die Gewerkschaften auch im aktuellen und längsten Kampf um die Rente.

Seit Macron jede seiner Reformen – zuweilen am Parlament vorbei – durchbrachte, reden Konservative und Rechte das Ende der Gewerkschaften herbei. In dieses Lied stimmten nach dem Erfolg der Bewegung der gilets jaunes (»Gelbwesten«) viele Beobachter ein. Sie verkündeten den Untergang der Gewerkschaften, weil sie sich gegenüber den »Gelbwesten« zunächst so desinteressiert zeigten, wie diese an institutionell organisierter Politik. Wüste Vorkommnisse am Rande der Gelbwesten-Proteste, insbesondere die Beschimpfung des konservativen jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut, dienten auch hierzulande einigen Journalisten dazu, die Bewegung pauschal als »antisemitisch« und Anhängsel von Marine Le Pens Partei Rassemblement National u etikettieren.

Angesichts des Generalstreiks vom 5. Dezember 2019 und der folgenden Streiktage erwiesen sich beide Prognosen als voreilig. Ostentativ demonstrierten Gewerkschaften und gilets jaunes gemeinsam gegen Macrons Rentenreformprojekt. Nur so erklärt sich die Mobilisierung von rund einer Million Demonstrierenden. Und es streikten nicht nur Eisenbahner/innen, Busfahrer/innen und Metro-Angestellte, sondern auch Lehrer/innen, Anwält/innen, Ärzt/innen, Pflegekräfte, Verwaltungsmitarbeiter/innen sowie Feuerwehrleute. Die Standesorganisation der Anwält/innen rief ihre 70.000 Mitglieder für den 6. Januar zu einem Aktionstag auf, die Beschäftigten von Raffinerien wollten vom 6. bis 10. Januar streiken.

Die Dauer und Breite der Mobilisierung erklärt sich auch aus der Präsentation des Reformprojekts, dem Macron und seine Regierung die Durchsetzungschancen zu erhöhen und den Gewerkschaften die Mobilisierung zu erschweren glaubten, indem sie die Details der Reform gar nicht erst bekannt gaben. Das geschah erst sechs Tage nach dem großen Streik am 11. Dezember.

Angekündigt im Herbst 2017, trat die Rentenreform vor einem halben Jahr in das Stadium der das Publikum benebelnden Stimmungsmache durch die Regierung und konservative Medien. Seither wurde dem Publikum mit einer einzigen Zahl ununterbrochen eingetrichtert, die existierenden 42 Rentenregelungen für fast so viele Berufsgruppen seien abzuschaffen und zu ersetzen durch ein einheitliches Punktesystem (»système universel«) für die einbezahlten Rentenbeiträge. Das hört sich nicht ganz unvernünftig an, ist aber erstens politisch hinterhältig und zweitens fundamental ungerecht.

Das im internationalen Vergleich relativ hohe Rentenniveau in Frankreich und das frühe Renteneintrittsalter für einzelne Berufsgruppen wurde bislang mit zwei Argumenten gerechtfertigt – mit der Belastung durch Schichtdienste und mit dem geringen Lohn in der Gegenwart, der in der Zukunft mit einer guten Rente kompensiert werden solle. Mit der Ersetzung der 42 Sonderregelungen durch ein einheitliches Punktesystem würden stillschweigend auch solche Kompensationsversprechen gebrochen.

Das scheinbar einfache Punktesystem, ohne die Kriterien für die Berechnung der Punkte bekannt zu geben grenzt an Betrug. Die angebliche »Universalität« des Systems verstößt gegen die elementare Grundlage des Gerechtigkeitsprinzips. Dieses verlangt – sachlich angemessen und logisch zwingend –, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln.

Die Rasanz und Vehemenz der Proteste erklären sich aus der Verletzung des Gerechtigkeitsanspruchs, denn mit der Einführung eines Punktesystems werden nicht »Privilegien« und »Pfründe« beseitigt und »mehr Gleichheit und Gerechtigkeit« geschaffen, wie es auch in hiesigen Medien seit Monaten fast einmütig tönt, sondern Versprechen gebrochen, an denen sich Menschen in der Arbeit und im Leben orientiert haben. Es kommt berechtigte Angst auf, denn Viele könnten viel verlieren. Und dabei geht es nicht um den Verlust von »Privilegien«, sondern um kompensatorische Leistungen für Menschen, die bei hohen Temperaturen und starker Lärmbelästigung arbeiten oder lebenslang in Nacht- und Wechselschichten eingespannt sind, wodurch ihre Gesundheit und ihr soziales Leben belastet und gefährdet werden oder beispielsweise um Lehrer, deren geringe Nettolöhne um die 2.000 Euro bisher mit Renten in etwa gleicher Höhe abgegolten wurden. Mit dem neuen Punktesystem verlören sie als Rentner monatlich 300 bis 500 Euro.

Andererseits ist klar, dass es unter den 42 Rentenregelungen auch solche gibt, die man als »Erbhöfe« bezeichnen kann, weil die sachliche Grundlage für eine Ausnahmeregelung längst verschwunden ist oder von Anfang an dysfunktional war. Eine Harmonisierung mit Augenmaß – nicht mit dem Rasenmäher – ist durchaus sinnvoll.

Es ist kein Zufall, dass im Zusammenhang mit den aktuellen Protesten immer auf den dreiwöchigen Streik der französischen Eisenbahner gegen eine Rentenreform in November/Dezember 1995 erinnert wird. Auch im aktuellen Konflikt stehen vermeintliche »Privilegien« der Eisenbahner, die mit 57 bis 60 Jahren in Rente gehen können, im Zentrum der Debatte. Damals war es der Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu, der gegen konformistische Intellektuelle auftrat, die den neoliberalen »Juppé-Plan« begrüßten und gegen »Privilegien« polemisierten. Der Plan sah nichts Geringeres vor, als den Sozialstaat zu demontieren, um den Staatshaushalt zu sanieren und die ominöse 3-%-Verschuldungshürde zu meistern. Bourdieu wandte sich gegen die Medienintellektuellen (sogenannte »Doxosophen«, also »Meinungshuber«, die als Experten auftreten) und gegen deren pensée unique (frei übersetzt: Einheitsdenken). Bourdieu sah in den Gewerkschaften Garanten einer lebenswerten Gegenwart und Zukunft. Er solidarisierte sich mit den »kleinen Leuten« und anerkannte deren Mühsal beim Überleben. Genauso stehen jetzt 180 Intellektuelle und Künstler/innen mit einem Aufruf zu den Streikenden. Zu den Unterzeichnern gehören u. a. die Schriftstellerin Annie Ernaux, die Regisseurin Arianne Mnouchkine, der Philosoph Étienne Balibar und der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty. Wie Bourdieu 1995 wenden sie sich gegen die Denunziation der Streikenden als »Privilegierte«.

Der Premierminister und der Präsident machten bereits Konzessionen an die Streikenden – für Polizist/innen, Eisenbahner/innen, Metro-Angestellte, Pilot/innen, Soldat/innen und Flugbegleiter/innen wurden Besitzstandsgarantieren abgegeben und die Einführung des neuen Systems zeitlich verschoben. Das Schlüsselwort »Privilegien«, mit dem Regierung und konservative Medien die Propagandakampagne für die Reform monatelang orchestrierten, verschwand aus den Reden beider Politiker. Dafür kündigte Philippe eine Mindestrente von 1.000 Euro an, von der vor allem Frauen, Bauern, Geringverdiener und Kleinunternehmer profitieren.

Zum Rückzug von Macrons Rentenreform könnte beitragen, was er zum Neujahr einfädelte: Jean-François Cirelli wurde zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Cirelli ist der Chef des französischen Ablegers von »Blackrock«, des weltweit größten Vermögensverwalters, dem auch Friedrich Merz (CDU) diente und der allein französische Vermögen von rund 30 Milliarden Euro verwaltet. Die linke Senatorin Éliane Assassi stellte bereits Mitte Dezember einen Zusammenhang zwischen den Strukturen der Rentenreform und den engen Beziehungen des ehemaligen Investmentbankers Macron zur globalen Finanzmarktindustrie her. Die Spuren dieser »connection« finden sich im Rentenreformprojekt wieder – nämlich im erklärten Ziel, die Beitragsbemessungsgrenzgrenze für Reiche in der Rentenversicherung von 324.000 auf 120.000 Euro zu senken. Damit fiele der Anteil des Beitrags, den Reiche zur Rentenversicherung beitragen – und damit zur sozialstaatlichen Umverteilung – von 28 auf ganze 2,8 %. Der Kern von Macrons Reformprojekt erweist sich als Entlassung der Reichen aus der Solidarhaftung für den Sozialstaat und als Gunstbeweis für die globale Finanzmarktindustrie, die damit potenziell 300.000 Kunden für ihr Geschäftsmodell »private Altersvorsorge« gewänne. Verglichen damit ist die Riesterrente ein Experiment im Labor. Macrons Reform zielt aufs Ganze, den Kern des Sozialstaats – die Solidargemeinschaft. Sie würde zum Vorteil von Reichen und neoliberal-globaler Finanzmarktindustrie zerstört. Zurück bliebe eine in verarmende Staatsrentner und reiche Privatrentner gespaltene Gesellschaft.

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