Die Entscheidung zur Erweiterung der BRICS-Ländergruppe liegt vor. Neben Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika werden ab dem 1. Januar 2024 auch Saudi-Arabien, der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Argentinien, Ägypten und Äthiopien dem Bündnis angehören. Eine Entscheidung, die sich bereits seit Monaten ankündigte, bis kurz vor dem Gipfel in Johannesburg Ende August 2023 jedoch auch in der Staatengruppe selbst und etwa in den beratenden Begleitprozessen der G20-Präsidentschaft Indiens 2023 sehr umstritten war.
Sie steht für eine globale Neuordnung. Der »unipolare Moment« der Weltpolitik, der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in verschiedenen US-geführten (und oft vom UN-Sicherheitsrat gebilligten) militärischen Interventionen Ausdruck fand, ist spätestens mit dem chaotischen internationalen Abzug aus Afghanistan Geschichte.
Der »multilaterale Moment« ist Geschichte.
Gleichzeitig ermöglichte multilaterale Zusammenarbeit in den letzten beiden Jahrzehnten wichtige globale Meilensteine wie die Verständigung auf die universelle Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und das Pariser Klimaabkommen (beide in 2015), aber auch den Abschluss des dann vom UN-Sicherheitsrat gebilligten Abkommens zum iranischen Atomprogramm im selben Jahr. Nicht nur dank der letzten US-Administration unter Donald Trump ist dieser »multilaterale Moment« Geschichte. Eine in der Tat multipolare Weltordnung befindet sich – wie mittlerweile auch von UN Generalsekretär António Guterres beschworen – im Entstehen.
Zeitenwende in der globalen Governance-Architektur
Russlands Aggression gegen die Ukraine markiert nicht nur einen Einschnitt in der Geschichte Europas, sondern ist Teil und Ausdruck einer weltweiten Zeitenwende. Seit Jahren sind auf allen Kontinenten und in allen Einkommenstypen (Hoch-, Mittel- und Niedrigeinkommensländern) sowohl zunehmende geopolitische und regionale Spannungen als auch gesellschaftliche Polarisierung und politische Autokratisierungstendenzen zu beobachten. Gerade in Gesellschaften, in denen die Systeme der täglichen Versorgung direkt von Wetter- und Klimalagen abhängen oder der Bevölkerungsdruck und fragile Staatlichkeiten die Grundsicherung unterwandern, die Klima- und Biodiversitätskrise einen weiteren Anstieg sozialer und ökonomischer Ungleichheiten befördert.
»Die breite Resignation bezüglich der Reformpotenziale im UN-System befördert die Ausgründung alternativer multilateraler Institutionen.«
In einigen der Länder treiben zunehmende gesellschaftliche Fragmentierungen auch die politische Autokratisierung an. 2022 lebten 72 Prozent der Weltbevölkerung in Autokratien – das Ergebnis eines Trends, der durch die Covid-19-Pandemie weiter verstärkt wurde. Auf multilateraler Ebene ist eine Autokratisierung des internationalen Rechts und die Schwächung der alten multilateralen Strukturen zu verzeichnen. Während die Reformdiskussionen auf der Ebene der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds mit erneuter Vehemenz geführt werden, befördert breite Resignation bezüglich der Reformpotenziale im UN-System (inklusive UN-Sicherheitsrat) die Ausgründung alternativer multilateraler Institutionen.
Dazu gehört die Asian Infrastructure Investment Bank als Akteur, über die »alte« und »neue« Geberländer im Austausch stehen. Andere, wie beispielsweise die von den BRICS gegründete New Development Bank hingegen stärken die Kooperation untereinander und ohne Einbindung des »Westens«. Entwicklungen wie der – wenn auch wenig erfolgreiche – Russland-Afrika-Gipfel 2023 und nun die beschlossene BRICS-Erweiterung unterstreichen, dass die »Zeitenwende« mit einer Umgestaltung der globalen Ordnungs- und multilateralen Kooperationssysteme einhergeht.
Mit Blick in die Zukunft ist somit die entscheidende Frage: Wird die multipolare Welt der Zukunft weiterhin über ein gemeinsam geteiltes multilaterales System vereint und im konstruktiven Austausch miteinander stehen? Oder beobachten wir momentan den Zerfall der alten multilateralen Ordnung und ein Auseinanderfallen in multiple, voneinander getrennt organisierte Ordnungen? Wird konstruktive Kooperation auch in Zukunft sichergestellt sein, oder destruktive Konkurrenz vorherrschen?
Kooperationspolitik ist Friedenspolitik
Deutschland und Europa brauchen eine Kooperationsstrategie für das globale Gemeinwohl. Willy Brandts »Weltinnenpolitik« oder Egon Bahrs »Politik der kleinen Schritte«, unterschiedliche, wenn auch sich gegenseitig inspirierende Formate der Kooperations- und Friedenspolitik, sind heute wieder aktuell. Die Zeitenwende verleiht einer globalen Umordnung der Welt Ausdruck, die in ihrer Größenordnung mit der Kolonialzeit zu vergleichen ist. Es geht um die Entkolonialisierung von Institutionenlandschaften, Weltanschauungen und Ordnungslogiken. Tiefsitzende Vertrauenskrisen gegenüber dem »Westen« finden Ausdruck in der Umgestaltung globaler Governance.
»Deutschland muss verlässliche Allianzen mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas schmieden.«
Deutschland und Europa sind gefordert diese Zeitenwende global zu verstehen und zu gestalten. Das heißt: Die Antwort darf nicht allein im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik gesucht werden. Stattdessen bedarf es breiter, vertrauensvoller Partnerschaften über Europa und die G7-Länder hinaus. Deutschland muss verlässliche Allianzen mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas schmieden: mit den großen Schwellenländern ebenso wie mit Hoch- und Niedrigeinkommensländern. Gefordert ist genuine Kooperation in gemeinsam definierten Handlungsfeldern, die geprägt sein muss von gegenseitigem Respekt und Glaubwürdigkeit.
Dafür braucht es eine Zeitenwende im politischen Handeln. Deutschland sollte eine im Dialog mit Partnern entwickelte globale Strukturpolitik anstreben, die sich mit den internationalen Entwicklungen der letzten Jahre auseinandersetzt und Werte und Grundprinzipien so auf die veränderte Weltlage bezieht, dass neue Strategien möglich werden.
Einer primär auf Gefahrenabwehr ausgerichteten nationalen Sicherheitsstrategie sollte die Bundesregierung eine Kooperationsstrategie für das globale Gemeinwohl an die Seite stellen: gestaltet als Suchprozess, orientiert an den UN-Zielen nachhaltiger Entwicklung, respektvoll gegenüber vielfältigen Zukunftsvorstellungen, global solidarisch und gleichzeitig geleitet von demokratischen, freiheitlichen und emanzipativen Werten.
Leitprinzipien für eine Zeitenwende im politischen Handeln
Europäisch und geostrategisch: Nachhaltigkeit zum Kernziel einer souveränen EU machen. Deutschland sollte seine nationalen sowie die europäischen Anstrengungen, einen wirkungsvollen Beitrag zur Dekade der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele zu leisten, verstärken. Dafür gilt es, wichtige Initiativen wie den europäischen Green Deal und die Global Gateway (Initiative der EU, deren Ziel es ist, bis 2027 eine Summe von bis zu 300 Milliarden Euro in den Bereichen Digitales, Energie und Verkehr zu investieren sowie Gesundheits-, Bildungs- und Forschungssysteme in Schwellen- und Entwicklungsländern sowie weltweit zu stärken.) zu unterstützen und weiterzuentwickeln. Die konkrete Ausgestaltung der europäischen Politik, gerade auch mit Blick auf NextGenerationEU und die Global-Gateway-Initiative,fällt jedoch hinter dieses Bekenntnis zurück.
Kooperativ und kohärent: Multiple Krisen über Allianzen bewältigen. Deutschland und die EU müssen gezielt in langfristige strategische Partnerschaften mit Ländern und Zivilgesellschaften aller Kontinente investieren. Um der eigenen Glaubwürdigkeit willen müssen deutsches und europäisches Handeln dafür kohärenter werden – über EU-interne wie auch externe Politikfelder hinweg. Funktionierende Allianzen fußen auf gegenseitigem Vertrauen und Beziehungen auf Augenhöhe. Gegenüber den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gibt es hier zum Teil großen Nachholbedarf.
Deutschland sollte die G20 als Global-Governance-Plattform der Zukunft stärken.
Als ein erster wichtiger Schritt sollten Deutschland, die EU und die G7 den Vorschlag unter indischer G20-Präsidentschaft unterstützen, die Afrikanische Union als neues Mitglied der G20 willkommen zu heißen. Als Global-Governance-Plattform der Zukunft sollte Deutschland die G20 gerade auch unter den momentan vier Jahre im Süden liegenden Präsidentschaften – Indonesien, Indien, Brasilien, Südafrika – mit gezieltem ökonomischem, politischem und intellektuellem Leadership stärken.
Solidarisch und zukunftsorientiert: In gesellschaftlichen Zusammenhalt investieren. Gesellschaften mit leistungsstarken Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystemen begegnen Krisen und ihren häufig nur bedingt vorhersagbaren Dynamiken im Schnitt sehr viel besser. Dies gilt sowohl für die akute Bewältigung als auch für die Erholung und den Wiederaufbau im Nachgang.
In ihrer eigenen Politikgestaltung und durch gezielte Investitionen sollten Deutschland und Europa einerseits darauf hinwirken, die Sozial-, Gesundheits- und Bildungssysteme weltweit zu stärken. Gleichzeitig ist es an ihnen, in Foren wie den G7 und G20 sowie auf Ebene der Vereinten Nationen und im bilateralen Austausch mit anderen Ländern Wege zu bereiten, um entsprechende Prioritätensetzungen und Umverteilungen durch Staaten und private Akteure zu erreichen.
Klimastabilisierend: Den sozial-ökologischen Wandel partnerschaftlich vorantreiben. Deutschland sollte es sich zur Aufgabe machen, Wirtschafts- und Sozialsysteme weltweit so mitzugestalten, dass die nötige Reduktion der CO2-Emissionen mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und einem nachhaltigen Umbau der globalen Produktionssysteme sowie einem Abbau sozialer Ungleichheiten verschränkt werden. Die Einnahmen beispielsweise aus dem CO2-Grenzausgleich der EU sollten gezielt investiert werden in die klimastabilisierende Transformation der Produktionssysteme in den Ländern, die in die EU exportieren.
Des Weiteren bedarf es einer internationalen Schuldenumstrukturierung und Mobilisierung von Kapital für den Umgang mit Klima- und Biodiversitätskrise. Der vom UN-Generalsekretär António Guterres vorgeschlagene »SDG Stimulus« sollte von Deutschland, der EU und der G7 als Teil der G20-Verhandlungen unterstützt werden und Wege zur Mobilisierung privatwirtschaftlicher und öffentlicher Mittel beschritten werden.
»Deutschland sollte ein menschenwürdiges, friedvolles und freiheitliches Demokratienarrativ leben und dieses im Sinne der Wehrhaftigkeit nach innen und außen verteidigen.«
Demokratisch und friedvoll: Demokratie weltweit schützen und fördern. Kriegsbereitschaft und -gefahr nehmen bei voranschreitenden Autokratisierungsprozessen weltweit zu. Strukturen für inklusive Entscheidungsprozesse, Konfliktprävention und -resolution müssen gefördert werden, um Frieden zu sichern. Das setzt ein klares Bekenntnis zur Demokratie nicht nur nach innen, sondern auch gegenüber Deutschlands Partnern in der EU, den G7, G20 und weltweit voraus.
Ein solches Bekenntnis darf weder globale Spaltungen vertiefen, noch mit scheinheiliger Doppelmoral (wie beim Summit for Democracy) einhergehen. Stattdessen sollte Deutschland im kontinuierlichen Austausch mit Partnerländern aller Regimetypen ein menschenwürdiges, friedvolles und freiheitliches Demokratienarrativ leben und dieses im Sinne der Wehrhaftigkeit nach innen und außen verteidigen. Die China-Strategie der Bundesregierung bietet hier Beispiele für ein klares Einstehen für die eigenen Werte bei gleichzeitigem Anerkennen gegenseitiger Interessen.
Die Zeitenwende gemeinsam gestalten
Es gilt, die Zeitenwende im globalen Austausch miteinander und mit besonderem Fokus auf die in einigen Teilen Afrikas und Asiens schwelende Vertrauenskrise gegenüber Ländern des alten »Westens« anzugehen. Es ist eine Aufforderung für politisches Handeln, das den Herausforderungen einer dynamischen Welt gerecht wird. Die Halbzeit der Agenda 2030 auf Ebene der Vereinten Nationen erinnert an das gemeinsam beschlossene Zukunftsprogramm. Es benötigt Unterstützung, beschleunigte Umsetzung und den politischen Willen, sich im transregionalen Dialog miteinander, trotz zunehmender Spannungen und Unterschiede, gemeinsam auf ein friedvolles und sozial gerechtes Miteinander innerhalb der planetaren Grenzen zu verständigen.
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