Menü

© picture alliance / Sergey Nivens/Shotshop | Sergey Nivens

Über die moralische Verengung unserer Diskurse Die nervöse Republik

Kaum hatten wir das Schlimmste der Coronakrise überwunden, brach eine neue, schwere und folgenreiche Katastrophe über uns herein: Am 24. Februar 2022 gab der Diktator Wladimir Wladimirowitsch Putin der russischen Armee den völkerrechtswidrigen Befehl, die souveräne Republik Ukraine anzugreifen. Nichts sollte mehr so sein wie zuvor. »Zeitenwende«, so nannte Bundeskanzler Olaf Scholz diese Zäsur. Noch wissen wir nicht, wie der Krieg enden wird, wie lange er dauern und wie viele Tote er hinterlassen wird: Soldaten und Zivilisten, Ukrainer und Russen.

Der Krieg ist illegal und illegitim, ein Prototyp des »ungerechten Krieges«. Darüber gibt es unter Völkerrechtlern, Politikern, Journalisten und breiten Teilen der Bevölkerung keinen Dissens. Der Einwurf prominenter amerikanischer »Realisten« in den internationalen Beziehungen, die auch dem bündnispolitischen Expansionismus des Westens eine gewisse Mitschuld geben, findet hierzulande kaum ein Echo. Darüber streiten wir nicht, nicht wissenschaftlich, nicht politisch. Der Vorwurf der Apologetik und des Putin-Verstehens lässt diese, heute zugegebenermaßen sekundäre Frage verstummen.

Dennoch dauerte es nicht lange, bis doch Streit entbrannte: Dürfen wir, sollen wir, müssen wir nicht doch Waffen in dieses Kriegsgebiet liefern, und wenn ja, wie viele, welche Waffen und wie schnell? Befürworter und Gegner bezogen Position: Pazifisten, Bellizisten, Konvertiten, Moralisten und Realisten. Die Debatte zeigt mittlerweile im politischen, analog-medialen und digitalen Diskurs ein ähnliches Muster: die Moralisierung der eigenen Position und die Entmoralisierung der anderen Seite. Ein Muster, dass wir ähnlich schon in der Flüchtlings- und Migrations-, Corona- und Klimakrise sahen. Warum ist das so? Warum führen wir diese wichtigen Debatten nicht verständigungsorientierter? Was erzeugt diese moralische Verengung unserer Diskurse? Warum ist diese Republik so nervös geworden?

Lange und kurze Linien

Die lange Linie der Demokratieentwicklung wird seit einigen Jahren immer wieder von kürzeren externen Krisenlinien gekreuzt, die die kontinuierliche Evolution der Demokratie destabilisieren, erschüttern, hemmen oder gar deren Kurs verändern. Die lange Demokratielinie zeigt, dass wir seit 2008 weltweit signifikante Demokratieverluste zu verzeichnen haben, auch in den ausgeprägtesten Demokratien. Das ist noch keine Krise der Demokratie, wohl aber eine sichtbare Regression, ein backsliding, im Jargon der Demokratieforscher.

Deutschland ist da keine Ausnahme. Mit der demokratischen Erosion polarisierten sich auch hierzulande die Diskurse. Sie dienen nicht mehr der Selbstverständigung einer pluralistischen Gesellschaft, sondern reißen Gräben auf, bringen Brücken zum Einsturz, befestigen unversöhnliche Meinungslager und höhlen den Gemeinschaftssinn der Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft aus.

Was sind die Ursachen dahinter? Wie so oft sind diese mehrschichtig und in ihrer Kausalitätsrichtung nicht einfach zu bestimmen. Ich nenne zwei Ursachen, von denen ich hier nur die letztere weiterverfolgen will.

Die erste betrifft die sozioökonomisch induzierte und politisch manifestierte Ungleichheit. Das untere Drittel findet in unserer Gesellschaft diskursiv, partizipativ und repräsentativ kaum statt. Insbesondere die unteren Mittelschichten fühlen sich in unsicheren Zeiten vom Abstieg bedroht und von etablierten Parteien wenig vertreten. Daher die Affinität sich dem radikalen Protest, nicht zuletzt jenem der Rechtspopulisten, zuzuwenden.

Die zweite Ursache ist das Aufkommen »neuer« Krisen. Und hier kommen die kurzen Krisenlinien ins Spiel. Neu kann man diese Krisen deshalb nennen, weil sie den Übergang von der ökonomischen zur kulturellen Sphäre markieren. Der Diskurs dreht sich nicht mehr in erster Linie um die Verteilung sozioökonomischer Güter und Lebenschancen, sondern um Sprache, Identität, Anerkennung, Befindlichkeiten und Weltsichten. Er findet nicht mehr primär zwischen Klassen und Schichten, sondern inmitten der Mittelschicht statt. In ihrem oberen Drittel sind die Impulsgeber, ihre Follower, Claqueure und Opponenten zu finden. Sie finden sich in Parteien, NGOs, Universitäten, Journalistenbüros, in den traditionellen und sozialen Medien.

Neben dieser schichtenspezifischen Verengung sind die neuen Krisen durch ein weiteres Merkmal gekennzeichnet: die Moralisierung der Konflikte. Moralisierung, beziehungsweise ihr Ergebnis, der Moralismus, ist von der Moral zu unterscheiden. Moral, bedeutet eine Sammlung von Sitten, Konventionen und Erwartungen, die »gute Sitte« sind. Moral lehrt uns, mit unserer Freiheit umzugehen und zusammenzuleben. Politische Moral ist in Demokratien in Menschen- und Freiheitsrechten kodifiziert, sie manifestiert sich in Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen. Moral zeigt sich aber auch in den nicht rechtlich festgelegten Werten der Toleranz und des Respekts. Ohne Moral keine Demokratie.

Moralismus ist etwas anderes. Moralismus ist eine selbstgerechte Stilisierung der eigenen moralischen Position. Sie ist eine Spielart des Egozentrismus, eine »moralische Ostentation«, die auf den Anspruch der eigenen moralischen Überlegenheit verweist. Strategisch eingesetzt dient sie der Ausgrenzung anderer Positionen. Das moralistische Argument wird meist auf eine Person gerichtet. Es geht darum, eine als vermeintlich unmoralisch argumentierende Person aus dem Diskurs auszuschließen. Das kann jene treffen, die die Klimakrise als nicht so problematisch sehen, nicht auf ihr Auto mit Verbrennungsmotor oder Inlandsflüge verzichten wollen und auf Arbeitsplätze im Braunkohle-Tagebau beharren. Da braucht man nicht erst den Klimawandel als solchen zu leugnen.

In der Coronakrise hat es die getroffen, die sich weigerten sich impfen zu lassen, gegen die Impfpflicht auf die Straße gingen, Gewissheit in der Esoterik statt in der Wissenschaft suchten. Die Begriffe zur moralistischen Exklusion waren schnell gefunden: »Coronaleugner« beziehungsweise »Klimaleugner«. Moralisierungsüberschuss nannte dies der langjährige Vorsitzende des Wissenschaftsrates Peter Strohschneider. Schadet dies der Demokratie?

Beim Ukraine-Krieg geht es mir nicht um die Kriegsschuldfrage. Da kann es keinen vernünftigen Dissens geben: Putin ist der Aggressor. Ich will vielmehr der Frage nachgehen, ob Deutschland mehr, schneller und schwerere Waffen liefern soll beziehungsweise muss und ob dieser Disput eine weitere Runde der Moralisierung, Polarisierung und der diskursiven Exklusion einläutet.

Die Waffenlieferungen werfen (völker-)rechtliche, wirtschaftliche, politische und moralische Fragen auf. Aber der moralische Reflex, jedwede Waffen für die angegriffene Ukraine zu liefern, löst möglicherweise auch nicht-intendierte unmoralische Konsequenzen aus. Dies soll in fünf Befürwortungsthesen geprüft werden.

Erste These: Wir müssen alles tun, damit die Ukraine den Krieg nicht verliert. Unsere moralische Intuition beurteilt diesen Satz als zweifelsfrei richtig. Wir müssen den Angegriffenen helfen. Es gibt so etwas wie eine politisch-moralische Pflicht, vor aggressiver Gewalt und dem Bruch der Grundnorm des Völkerrechts nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Eine zweite moralische Reflexion relativiert die schnelle erste Intuition und fragt: Waffenlieferungen unter allen Bedingungen, auf alle Kosten? Was wäre, wenn die schweren Waffen den Krieg verlängern und in einem solchen Stellungskrieg noch viel mehr Menschenopfer zu beklagen wären? Wäre die Waffenlieferung dann immer noch moralisch geboten?

Daran lässt sich eine zweite These anschließen: Man darf auch Waffen in einen Krieg liefern, in dem der Aggressor die Eskalationsdominanz besitzt. Nach allem, was wir wissen, ist Russland der Ukraine militärisch überlegen. Dies gälte auch immer noch, wenn Deutschland seine Waffenbestände leerte und in die Ukraine lieferte. Es änderte sich nichts an der Eskalationsdominanz des Putin-Regimes, die in letzter Instanz auf der Verfügungsgewalt über (taktische) Nuklearwaffen beruht. Ist es auch dann noch moralisch, wenn wir es uns in rationaler Weise nur schwer vorstellen können, dass ein Diktator, dessen politisches und physisches Überleben vom Ausgang des Krieges abhängen könnte, eine Niederlage hinnehmen wird, ohne die militärische Eskalation noch weiter nach oben getrieben zu haben?

Dritte These: Das Restrisiko eines Nuklearschlags ist hinzunehmen. Darf ein moralisch Handelnder auch dann das Risiko eines Nuklearschlags eingehen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit nur ganz gering ist beziehungsweise wir gar nicht wissen (können), wie hoch diese ist? Wenn etwa die (grünen) Kernkraftgegner die statistisch minimale Wahrscheinlichkeit einer Havarie bei der friedlichen Nutzung der Kernkraft mit dem triftigen Argument seiner maximalen Schadensstärke ablehnen, wie können sie dann das Risiko einer militärischen Nutzung eingehen, mit all seinen verheerenden unmittelbaren Opfern in der Ukraine und dem Risiko, in einen Weltkrieg zu schlittern?

Vierte These: Wenn der demokratische Westen den Aggressor Putin nicht bestraft und auf die Knie zwingt, ereignet sich ein Dammbruch in den internationalen Beziehungen. Auch dies ist ein triftiges Argument. Fundamentale Regeln des Zusammenlebens der Staatengemeinschaft müssen geschützt werden. Aber ebenso klar muss gefragt werden, wie moralisch es ist, die Ukrainer zu unterstützen, einen Stellvertreterkrieg für »unsere Werte und die Demokratie« auszufechten, in dem nicht wir, sondern alleine die Ukrainer kämpfen und sterben?

Fünfte These: Der Kanzler lässt die gebotene Führung vermissen. Als Gerhard Schröder und mit ihm die Alphatiere Joschka Fischer und Otto Schily die Wahlen und die Macht verloren, atmeten die liberalen Blätter der Republik auf: Der testosterongesteuerte Dezisionismus einer anachronistischen Basta-Politik sei nun endlich an sein Ende gekommen. Das Abwarten, Bedenken, Abwägen ja gar Zaudern stieg mit Angela Merkel zu einem neuen Modell umsichtiger Führung auf.

Nicht zuletzt die jüngeren Generationen in und um die FDP und die Grünen beklatschten die Abkehr vom alten, maskulinen Führungsstil. Kriegsentscheidungen stehen zwar unter einem anderen Zeitdruck als die Reform der Renten, aber gleichzeitig stecken Kriege mit all ihren schwerwiegenden Konsequenzen voller moralischer und politischer Dilemmata. Jedwede Handlung oder Unterlassung kann tragische unbeabsichtigte Folgen haben. Insofern ist ein rasches wie sorgfältiges Abwägen der vernünftigere Entscheidungsmodus.

Das Paradox der gegenwärtigen Debatte ist zumindest in Deutschland, dass Waffenlieferungen als Ausdruck höherer Moral gelten. Pazifismus oder auch nur das Zögern, Panzer und schweres Gerät zu liefern, geraten da rasch in den Geruch einer narzisstischen Gesinnungsethik gegenüber der Verantwortungsethik, dem Angegriffenen gegen den Angreifer mit militärischem Gerät beizustehen. Aber diese Verantwortungsethik reklamieren auch die Waffenverweigerer, da sie die Konsequenzen einer Eskalation des Krieges und der erheblichen Zunahme von Opfern fürchten.

Polarisierung und Desintegration

Beide Argumentationen sind durchaus zu begründen, nicht nur gesinnungsethisch, sondern gerade auch verantwortungsethisch. Allerdings hören sich beide Seiten weniger zu, als dass sie versuchen, die andere Seite und ihre Argumente als politisch naiv und unmoralisch zu diskreditieren. Schließt man andere moralische Begründungen als unmoralisch aus, halbiert man den Moraldiskurs und erklärt die eigene Politik als alternativlos. Schleudert man dem Kanzler bei Kundgebungen die entmoralisierende Beleidigung »Kriegstreiber« entgegen, betreibt man das gleiche Geschäft: moralistische Delegitimierung anstelle des diskursiven Ringens um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Das spaltet die Gesellschaft.

Der Moralismus bringt eine problematische Binarität in den politischen Diskurs. Die binären Codes lauten: Facts or Fake, Wahrheit oder Lüge, legitim oder illegitim, Moral oder Unmoral, Sieg oder Niederlage. Abweichende politische, moralische oder selbst wissenschaftliche Positionen werden als Zumutung aufgefasst. Diese Transformation der politischen Kommunikation gießt die Krisennarrative in die Form des Freund-Feind-Denkens. Es sind nicht nur die rechten Verehrer des umstrittenen Verfassungstheoretikers Carl Schmitt, die dies als die Essenz des Politischen begreifen, sondern auch linksliberale Strömungen, die die diskursive Ausgrenzung der »unmoralischen Anderen« als ihre moralische Pflicht begreifen. Der Versuch beider Seiten, mit ihrem je partikularen Moralismus komplexe moderne Gesellschaften zu integrieren, verschärft die Polarisierung der Politik und die Desintegration der Gesellschaft.

Wo steht nun eigentlich unsere Demokratie? Von einer existenziellen Krise der Demokratie in Deutschland kann nicht die Rede sein. Was wir aber weltweit erleben, ist eine Erosion der Demokratie in bestimmten Bereichen. Dazu zählen der Verlust an gesellschaftlicher Kohäsion, eine Polarisierung der Diskurse, die stabile Existenz einer semiloyalen Partei wie der AfD, eine Zunahme der Intoleranz und Exklusionslust, der Niedergang der Volksparteien als Integrationsmaschinen und das gebrochene Aufstiegsversprechen unserer Zwei-Drittel-Demokratie.

Dennoch, im internationalen Vergleich eines Demokratie-Rankings von 200 Staaten belegt Deutschland einen guten neunten Platz. Das ist nicht schlecht – aber die Demokratie ist weltweit in einem sichtbaren Abwärtstrend. Denn Demokratien sind nicht für die Ewigkeit gebaut. Das zeigen uns die beiden Diktaturwellen im 20. Jahrhundert. Heute sehen wir nicht nur in Ungarn und Polen, sondern auch in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland seit der Jahrtausendwende problematische Tendenzen. Der ausschließende Moralismus sollte durch eine einschließende Moral der kritischen Selbstreflexion und Verständigung ersetzt werden. Das dient der Zukunft unserer Demokratie. Geschieht dies, dann hat doch mal wieder Sir Winston Churchill recht: »Die Demokratie ist die schlechteste aller politischen Ordnungen, außer all jenen, die von Zeit zu Zeit immer mal wieder ausprobiert werden«.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben