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© Gerngross Glowinski Fotografen

Die neue Konfliktlinie und die Rolle des Politischen

In dem Projekt »The Struggle over Borders. A Political Sociology of Cosmopolitanism and Communitarianism« des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) wurde untersucht, wie sich die Globalisierung auf die Konfliktlinien moderner Gesellschaften auswirkt. Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutern zwei der Autoren, Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung »Demokratie und Demokratisierung«, und Michael Zürn, Direktor der Abteilung »Global Governance«, den neuen gesellschaftlichen Grundkonflikt zwischen »Kommunitaristen« und »Kosmopoliten« und wie dieser die Politik im 21. Jahrhundert bestimmen wird.

NG|FH: In Ihrer aktuellen Studie sind Sie in fünf Ländern der Frage nachgegangen, inwieweit man davon sprechen kann, dass im Zuge der Globalisierung zu dem bisher stark wirkenden Grundkonflikt Kapital/Arbeit ein neuer sozialer, kultureller, politischer Grundkonflikt hinzutritt. Wie ist die Studie angelegt, was umfasst sie und wie stark ist sie empirisch gestützt?

Michael Zürn: Die Studie umfasst fünf Länder. Wir wollten ganz bewusst aus dem westeuropäischen Kontext heraus, haben zwar Deutschland mit dabei, dann aber Polen, Mexiko und die Türkei, dazu die USA als Kontrastfall. Auch die unterschiedlichen Ebenen der Politik nehmen wir in den Blick, analysieren etwa Debatten im Europäischen Parlament und in der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Dabei haben wir versucht, die verschiedenen Herangehensweisen, solche gesellschaftlichen Konfliktstrukturen zu erfassen, miteinander zu verbinden. Wir schauen auf individuelle Einstellungen, auch im Rahmen einer Elitenbefragung. Wir schauen auf die Parteiprogramme und auf Äußerungen in öffentlichen Debatten, indem wir Inhaltsanalysen von Zeitschriften vornehmen.

Wolfgang Merkel: Es gibt die Hintergrundüberlegung, dass der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, der im 20. Jahrhundert die europäischen Gesellschaften stark geprägt hat, mittlerweile keineswegs der einzige, vielleicht nicht einmal der besonders dynamische Konflikt ist. Während dieser stark sozioökonomisch bestimmt ist, hat die neue Konfliktlinie im Wesentlichen soziokulturelle Züge. Und da sehen wir idealtypisch zwei sich gegenüberstehende Lager, die wir »Kosmopoliten« und »Kommunitaristen« nennen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass wir mit dieser Wortwahl keine normative Vorentscheidung treffen. Weder das eine noch das andere Lager ist a priori positiv oder negativ besetzt. Wir sagen nur, wenn sich eine Konfliktlinie entwickelt, dann braucht es einen Konflikt und Akteure – vor allen Dingen Parteien, aber nicht nur –, die entlang eines solchen Konflikts mobilisieren. Zusätzlich muss eine Ideologie zu dem Konflikt die erklärende Erzählung liefern.

NG|FH: Zugrunde liegt doch die Überlegung, dass es eine Veränderung in der politisch-ökonomisch-gesellschaftlichen Realität gibt, die neue Interessenkonstellationen hervorbringt. Und diese äußern sich in bestimmten ideologischen oder kulturellen Mentalitäten oder Weltanschauungen.

Zürn: Wenn man in der Geschichte zurückgeht, lagen neuen Konfliktlinien immer soziale Revolutionen zugrunde. Den Gegensatz Kapital/Arbeit etwa hat die industrielle Revolution hervorgebracht, die Aufspaltung des Christentums in zwei Konfessionen lag der religiösen Konfliktlinie zugrunde. Nun ist es die Globalisierung, die Gewinner und Verlierer hervorbringt, wobei wir das nicht nur ökonomisch verstehen. Es gibt natürlich eine ökonomische Dimension in der Weise, dass wir mehr Ungleichheit innerhalb der konsolidierten westlichen Demokratien haben, aber weniger Ungleichheit im globalen Maßstab. Es gibt daneben aber eben auch kulturelle und politische Gewinner und Verlierer.

NG|FH: Was wurde genau untersucht? Unterschiedliche Einstellungen, Ideologien, Mentalitäten oder habitusartige Konstellationen?

Merkel: Es sind in erster Linie individuelle Einstellungen; z. B. bei der Frage, ob die Globalisierung Grenzen entwertet. Die Frage, die die Menschen bewegt und auch spaltet, lautet: Soll man Grenzen weniger oder stärker kontrollieren, eher schließen oder öffnen? In dieser Frage spiegelt sich der normative Gegensatz zwischen der kommunitaristischen und einer kosmopolitischen Philosophie. Kommunitaristen wollen Grenzen, Kosmopoliten plädieren in vielerlei Hinsicht für Entgrenzung. 

NG|FH: Basieren die tatsächlich auf Philosophien? Es gibt beispielsweise einen sehr großen Unterschied zwischen dem philosophischen Kommunitarismus, den etwa Michael Walzer vertritt, und dem politischen Kommunitarismus eines Amitai Etzioni. Etzioni sagt: Demokratie gibt es nur da, wo sich Menschen in überschaubaren Gemeinschaften auf der Basis einer gemeinsamen politischen Kultur republikanisch betätigen, ganz gleich, welcher Religion sie angehören. Die religiös-ethnischen Identitäten spielen also im politischen Kommunitarismus keine Rolle. Bei Walzer spielt der Gedanke eine große Rolle, dass jeder in die Kultur, in die er hineingeboren wurde, vollkommen eingebettet ist und alles, was an normativen Überzeugungen entsteht, kulturbedingt ist. Mit welchem der unterschiedlichen Begriffe des Kommunitarismus haben Sie gearbeitet?

Zürn: Wir greifen zunächst einmal auf einen Theorienbestand zurück, der mit den Begriffen Kosmopolitismus und Kommunitarismus bezeichnet wird. Dann rufen wir wie erwähnt individuelle Einstellungen und Positionierungen ab. Dabei zeigen sich politische Protoideologien. »Proto« deshalb, weil sie nicht so vollständig ausformuliert sind wie der Liberalismus oder der Sozialismus. Es ist aber auch deutlich mehr, als es die Populismusliteratur mit dem Begriff der »dünnen Ideologie« nahelegt. Es sind eben doch Ideologien, weil ganze Bündel von Einstellungen systematisch zusammenlaufen. Neben der Grenzfrage kommen Fragen dazu wie: Ist man für oder gegen die Verlagerung von politischen Entscheidungen auf europäische oder internationale Institutionen? Ist man eher für nationale Souveränität und für Mehrheitsentscheidungen innerhalb dieser oder eher auf der Seite von Individualrechten von und für Minderheiten?

NG|FH: Aber mit Grenzen sind eben nicht jene um Ethnien oder Religionen gemeint, sondern um politische Einheiten, die in sich kulturell, religiös, pluralistisch sind oder sein können?

Zürn: Sein können, genau.

Merkel: Mir scheint wichtig, noch einmal auf den Zusammenhang zwischen diesen normativen Positionen und den empirischen Resultaten unserer Studie zurückzukommen. Eine der ganz großen Trendlinien, die wir in allen fünf Ländern entdecken konnten, ist die Tatsache, dass Eliten überwiegend und erheblich kosmopolitischen Positionen zuneigen. Auf der anderen Seite hat man tendenziell eher die Verlierer der Globalisierung, jene in der unteren Hälfte der Gesellschaft. Das ist aber ein weniger kompaktes Lager. Die breite Bevölkerung ist wesentlich weiter weg von kosmopolitischen Positionen. Das gilt auch für Grenzziehungen bei der Abgabe von nationalstaatlicher Souveränität. Allerdings gibt es in dem kommunitaristischen Lager durchaus auch hybride Positionen wie: kulturell Grenzen öffnen, ökonomisch aber schließen.

NG|FH: Geht es wirklich nur um Grenzen oder was hängt da noch alles dran?

Zürn: Das ist eine zentrale Frage, weil man sich diese Betonung der Grenzen in einer zivilen und einer ethnischen Variante vorstellen kann. Insofern ist der Begriff des Kommunitarismus nicht klar bestimmt. Was wir allerdings empirisch beobachten, ist, dass diese kommunitaristische Variante sehr häufig und mehrheitlich mit einer ethnischen Lesart der Gemeinschaft und damit auch der Grenze einhergeht. Die prinzipielle Offenheit für einen, ich nenne es mal, linken Kommunitarismus, der Nation zivil definiert, gibt es als Position zweifellos auch. Schaut man aber auf die Größe der Gruppen, dann geht das im Moment stark einher mit einer nationalen Lesart, die wiederum mehr oder weniger ethnisch aufgeladen ist.

NG|FH: Sind dann diejenigen, die eher die ethnische Lesart bevorzugen würden, die harten Kommunitaristen und je weicher der Kommunitarismus zur Mitte eines Kontinuums hin wird, umso weniger ist er auf Identitätspolitik gestützt?

Merkel: Man könnte sich auch einen zivilen Kommunitaristen vorstellen, der sagt: »Wichtig ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, die eine Vorstellung von sich selbst hat. Nicht ethnisch, sondern als zivile Gemeinschaft, als Bürgergesellschaft, aber mit einem starken Staat.« Oder jemanden, der Demokratie radikal nationalstaatlich definiert, aber ein 100%iger Demokrat ist und sagt: »Wir brauchen ein Territorium, nur dann können wir so etwas wie einen Bürgersinn oder Solidarität entwickeln und Umverteilung organisieren.« Hier lautet das Stichwort »Folkhemmet«, die einstige Wohlfahrtsstaatsidee der schwedischen Sozialdemokraten.

Der aufsteigende Rechtspopulismus ist mittlerweile zur schmutzigen Variante des Kommunitarismus geworden, die Gemeinschaft wird ethnisch oder nationalistisch definiert und setzt auf Ausgrenzung. Das ist sicherlich mit Demokratie und ihrem Gleichheitsprinzip nur schwer vereinbar.

NG|FH: Wenn man die problematischen Begriffe mal beiseitelässt, gibt es im Hinblick auf die Struktur und die quantitativen Verhältnisse in diesem Grundkonflikt einen Hauptbefund, der für alle Länder gilt? Und wenn ja, wie sieht eraus?

Zürn: Mit Blick auf die Einstellungen in der bundesdeutschen Bevölkerung kann der Trend zugespitzt wie folgt beschrieben werden. Es gibt eine Aufteilung in vier Viertel. Ein Potenzial von jeweils rund 25 % bei der alten Linken, also dem, was Die Linke und die SPD im Moment bei Wahlumfragen erreichen, und der alten Rechten, verkörpert durch die CDU und CSU. Genauso hoch scheint das Potenzial der beiden parteipolitischen Vertretungen der neuen Konfliktlinie zu sein: der Grünen als konsequenteste Vertreter des Kosmopolitismus und der AfD als ethnisch gedeutete Variante des Kommunitarismus. Viermal 25 % könnte also die Formel des zukünftigen Parteiensystems sein.

Das macht Politik einerseits schwierig, weil es ganz unterschiedliche Koalitionen erlaubt, aber auch instabile Koalitionen erzwingt, hat aber auch etwas Beruhigendes, weil nach wie vor Dreiviertel der Bevölkerung eindeutig Positionen vertreten, die im Rahmen der liberalen Demokratie als staatstragend zu bezeichnen sind.

Merkel: Ein interessanter weiterer Befund: Je weiter Eliten oder Institutionen von direkter Verantwortlichkeit gegenüber den Wählern entfernt sind, umso eher tendieren sie zu kosmopolitischen Positionen, Beispiele sind die Europäische Kommission oder die UN-Generalversammlung. Je mehr sie einer direkten Wahlverantwortlichkeit unterworfen sind, etwa die nationalen Parlamente, desto eher beziehen sie auch kommunitaristische Positionen mit ein.

Zürn: Je näher sie an Mehrheitsinstitutionen wie Parteien oder Parlamenten dran sind, desto mehr stehen sie in der Frage Kosmopolitismus/Kommunitarismus in der Mitte. Während die Vertreter von Institutionen, die weder international-europäischen noch nationalen nicht-majoritären Institutionen angehören, etwa Zentralbanken und Verfassungsgerichten, stark zur kosmopolitischen Seite neigen.

NG|FH: Wie denkt jemand, der in der Mitte steht, bei der Frage nach Grenzen?

Merkel: Eine solche Person ist durchaus bereit, nationalstaatliche Kompetenzen abzugeben, etwa an die Europäische Union. Er tendiert aber dazu, kritisch gegenüber technokratischer Politikgestaltung zu sein und präferiert eine Rückbindung an die heimische oder nationalstaatliche Wählerschaft.

NG|FH: Es gibt also eine Art plausible Kombination aus Elementen beider Positionen?

Zürn: Der reine Kommunitarist und Kosmopolit sind ja idealtypische Konstruktionen.

NG|FH: Die Wähler sind mentalitätsmäßig sehr gemischt. Wenn zum Beispiel 80 % der AfD-Wähler in einer Nachwahlumfrage angeben, sie vertreten das Programm der AfD nicht und haben sie nur gewählt, um den anderen Parteien einen Denkzettel zu verpassen, dann sind da ja wohl viele dabei, die wahrscheinlich solche Mittelpositionen vertreten.

Zürn: Dennoch wissen wir seit den Shell-Studien aus den 80er Jahren, dass es ein autoritäres Potenzial in unserer Gesellschaft gibt, damals schon 10–15 %: Das ist gar nicht so stark angestiegen, aber es ist durch rechtspopulistische Parteien mobilisiert worden. Vergleicht man die Länder mit konsolidierten Demokratien, sieht man, dass diese Parteien bei Wahlen überall zwischen 15 und 25 % erreichen. Das kann schon mal zur Regierungsübernahme reichen, wenn der Sonderfall eintritt, dass eine traditionelle Mainstreampartei sozusagen gefangen genommen wird, wie aktuell in den USA. Aber die Republikanische Partei ist in gewisser Weise gespalten zwischen alten und neuen Republikanern, die wiederum jeweils ca. 25 % ausmachen.

NG|FH: Wie verteilt sich das genau auf der Mikroebene? Wenn eine Partei ein kommunitaristisches Profil in einem relativ offenen Sinne besitzt, besitzen dann all ihre Wähler sozusagen dieselbe Art von Kommunitarismus oder gibt es Differenzierungen?

Merkel: Es gibt eine starke Differenzierung. Deshalb ist auch das Wählerpotenzial der Rechtspopulisten noch längst kein fester Block. Da gibt es tatsächlich viele Protestwähler, die sich weder in den kulturellen Diskursen noch in der ökonomischen Interessenvertretung von den etablierten Parteien hinreichend repräsentiert fühlen. Die könnten durchaus von diesen zurückgewonnen werden.

NG|FH: Es erscheint so, dass es zwar auf der mittleren Ebene der Parteien nach einer etwa gleichen Vierteilung aussieht, aber auf der Ebene der individuellen Mentalitäten viel weniger bei den Extremen zu finden sind, nur etwa 5–8 %.

Zürn: Würde man die Frage stellen, ob man gegen Europa ist und für nationale Souveränität, für eine starke Bedeutung des Mehrheitswillens und für kontrollierte Grenzen oder umgekehrt für offene Grenzen, für Europa, für die liberale Absicherung der Mehrheitsdemokratie und auch für einen gewissen Schutz von Minderheitenrechten, dann vermute ich, dass wir bei 25 zu 75 % landen. Diese ersten 25 % sind das Potenzial für den Rechtspopulismus. Nicht alle davon müssen identisch mit den Einstellungen von Alexander Gauland und Alice Weidel sein.

NG|FH: Wie haben Sie diese verschiedenen Ebenen ­– Parteien, Institutionen und individuelle Mentalitäten – in der Studie methodisch erfasst?

Merkel: Ein Schwerpunkt liegt auf der individuellen Einstellungsebene, also bei Fragen nach Grenzen, Handel, Menschenrechten, der EU und dem Klimawandel. Hier haben wir den scharfen Grundkonflikt zwischen Eliten und Nicht-Eliten gefunden. Auf der Ebene der kollektiven Akteure, also der Parteien, der zivilgesellschaftlichen Institutionen haben wir vor allem Diskurstextanalysen durchgeführt. Es wurden 16 große Medien digital durchforstet. Damit erhalten wir ein relativ gutes Bild, wie sich einzelne Parteien und Organisationen wie Gewerkschaften oder Kirchen bei dieser Frage im öffentlichen Diskurs positionieren.

Zürn: Die Verlagerung von politischen Kompetenzen und Entscheidungen weg von den Parteien und nationalen Parlamenten hin zu den europäischen Institutionen und die Stärkung nicht-majoritärer Institutionen wie Zentralbanken, Verfassungsgerichten oder europäischen Institutionen seit den 80er Jahren erleichtert bestimmten Gruppen den Zugang zu politischer Partizipation, während andere Gruppen kaum Zugang haben und sich ausgeschlossen fühlen. Und daraus leiten sich dann die Globalisierungsgewinner und -verlierer ab. Viele, die nur ihr Wahlrecht als Mittel der Einflussnahme nutzen können, sind die Verlierer, weil ihr Wahlrecht im politischen Entscheidungsprozess an Bedeutung verliert.

Merkel: Es besteht zudem ein klarer Zusammenhang zwischen den kosmopolitischen Eliten und deren privilegierter, herausgehobener ökonomischer und sozialer Position. Bei den kommunitaristischen Positionen sind sehr viel stärker die unteren Schichten vertreten. Es ist eben nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine sozioökonomische Konfliktlinie.

NG|FH: Deckt sich das mit dem Modell von Andreas Reckwitz, demzufolge sich die Gesellschaft heute in drei Klassen teilt: die neue Mittelklasse – die Gewinner der Globalisierung mit kosmopolitischen Mentalitäten im umfassenden Sinne; die neue Arbeiterklasse mit dem Prekariat – die klarsten ökonomischen Globalisierungsverlierer –; und die alte Mittelklasse – in der Hauptsache kulturelle, aber nicht unbedingt ökonomische Globalisierungsverlierer.

Zürn: Das deckt sich in gewisser Weise. Wenn man nur auf die Vorhersagekraft von bestimmten Kennziffern schaut, sind die kulturellen Indikatoren stärker als die ökonomischen. Das ist so, weil es die dritte Gruppe gibt, die ökonomisch relativ gut abgesichert ist, sich aber aus kulturellen Gründen etwa in einer kosmopolitischen Großstadt überfordert fühlt.

Das führt auch zu den enormen Gegensätzen zwischen Stadt und Land hinsichtlich des Wahlverhaltens. Dass Hillary Clinton in den zehn größten Städten der USA über 80 % der Stimmen bekam, kann eben nicht nur ökonomisch erklärt werden, weil es dort auch viele Arme gibt, die nicht den Rechtspopulisten und Anti-Globalisierer Trump gewählt haben.

NG|FH: Dieser Grundkonflikt äußert sich in den fünf untersuchten Gesellschaften auf sehr ähnliche Weise. Kann man also davon sprechen, dass er universell gilt, überall da, wo Menschen von der Globalisierung betroffen sind?

Zürn: In der Türkei und in Mexiko sieht es etwas anders aus. Es gibt allerdings einen erheblichen Unterschied. Wir haben es in diesen Fällen mit traditionellen Migrationsgesellschaften zu tun. Die Menschen dort sind immer schon ausgewandert und deshalb haben diese Staaten eine prinzipiell viel liberalere Einstellung zur Frage der Migration. Die Frage nach offenen oder geschlossenen Grenzen stellt sich dort erst gar nicht. In dieser Hinsicht sind es die liberalsten Gesellschaften.

NG|FH: Wie kann man politisch mit diesem Konflikt, der aktuell stark polarisiert, umgehen? Parteien wie die SPD werden an diesem Punkt geradezu zerrissen.

Merkel: Der Konflikt wird mit Blick auf die Demokratie dann besonders relevant, wenn bei den kommunitaristischen Positionen die intoleranten Elemente des Rechtspopulismus dominieren. In einigen Staaten grenzt sich davon ein Lager etablierter demokratischer Parteien klar ab. Allerdings wird dies bei weiteren Erfolgen der rechtspopulistischen Parteien immer schwieriger. In vielen europäischen Staaten waren oder sind sie direkt oder indirekt an der Regierung beteiligt.

Ich meine, man muss sich auch mit Rechtspopulisten auseinandersetzen, aber nicht mit dem Hochmut der höheren Moral, wie wir das bei den narzisstischen Kosmopoliten gerade erleben. Das schließt nämlich auch jene Wähler aus, die aus Protest rechtspopulistische Parteien wählen. Aber man darf nicht mit diesen kooperieren und schon gar nicht koalieren. Da wäre für mich die rote Linie. Ich glaube, damit werden sie mittelfristig hoffähig gemacht. Gegenwärtig erleben wir das in Italien, bis vor Kurzem in Österreich, in milderer Form in Skandinavien. Und dass die wichtigste Macht, die USA, von einem Präsidenten mit eindeutig populistischen Manieren, Gesten und Strategien regiert wird, das wird die Rechtspopulisten nur weiter stärken.

NG|FH: Also müsste man klar zwischen der individuellen Ebene und den Parteien unterscheiden? Da es sich auf Seiten der Kommunitaristen zum Teil um geringer qualifizierte Leute in bisweilen prekären Arbeitsverhältnissen handelt, müsste man wohl auch die nichtakademischen Arbeitspositionen gesellschaftlich, materiell und symbolisch stärker anerkennen, wie Reckwitz und auch David Goodhart fordert, oder?

Merkel: Das ist das genuine Arbeitsgebiet sozialdemokratischer Parteien. Da müssen sie stärker hineingehen.

NG|FH: Die Genannten meinen, dass die Kosmopoliten den Anspruch erheben, sie seien die normative Elite, würden insgesamt »richtig« leben und die anderen »falsch«. Diese Menschen leben aber sicher nicht »falsch«, sie haben nur eine andere Kultur und fühlen sich missachtet. Parteien und Organisationen verlieren so diese Menschen, auch als Wähler. Wie könnte man das wieder zusammenfügen – kulturell, gesellschaftlich, ökonomisch?

Zürn: Wir bewegen uns jetzt auf der Ebene der Deutung von Befunden. Ich denke auch, dass es eine starke kulturelle Dimension gibt, das ist die Frage der Anerkennung. Viele liberale Bemühungen in Richtung mehr Toleranz sind in kulturelle Arroganz gekippt, etwa beim Thema Rechte für Homosexuelle. Diejenigen, die überhaupt keine Homosexuellen im Bekanntenkreis haben, gelten inzwischen schon als spießig. Ähnliches gilt für die Kultur, die zu einem sozialen Distinktionsmerkmal geworden ist. Diejenigen, die die Kulturen der Welt kennen, leben einen Lebensstil vor, dem es nachzueifern gilt. Zur Musikantenstadlkultur darf man sich in diesen Kreisen gar nicht mehr bekennen. Hier können meiner Meinung nach Parteien nicht viel ausrichten. Das ist eine Frage der kulturellen Auseinandersetzung. Der Kampf für mehr Toleranz darf nicht in die Arroganz der Toleranten umkippen. Nur dann kann sich die Toleranz langfristig durchsetzen.

Ich glaube, dass diese Grundbefindlichkeit des sich ausgeschlossen und nicht anerkannt Fühlens auch eine politische Seite besitzt. Sie lässt sich nicht mehr nur durch einen Wandel einzelner Politiken in den Griff bekommen. Es muss wieder darum gehen, mehr Wettbewerb, mehr öffentliche und offene Auseinandersetzung in die Politik zu bekommen, auch bei den internationalen, europäischen und generell den nicht-majoritären Institutionen. Denn die Optionen, für die die Demokratie steht und welche sie stark machen, nämlich die Stimme erheben und sagen zu können: »Ich will eine andere Politik!«, die hat durch die Stärkung dieser Institutionen an Kraft verloren. Nicht, dass man bestimmte Politiken nicht mag, ist der entscheidende Grund für das Gefühl des Ausgeschlossenseins, sondern, dass man nicht weiß, wie diese Politiken geändert werden können. Es entsteht der Eindruck, die da oben machten doch eh, was sie wollen. Und deswegen muss natürlich auch wieder die Unterscheidbarkeit zwischen den Parteien gewährleistet sein.

NG|FH: Neben der symbolischen und materiellen Anerkennung müssten dann also vor allem reale Reformen erfolgen: demokratiepolitisch, also durch die Schaffung von Zugängen, und grenzpolitisch. Was müsste in dieser Richtung geschehen?

Merkel: In den letzten 20, 30 Jahren hat sich die Demokratisierung vor allem in der liberaldemokratischen Dimension vollzogen und stark auf Minderheiten geblickt. Das ist normativ tadellos. Aber es gab eine Art übermäßige Konzentration auf kleinste Minderheiten, verbunden mit einer sehr deutlichen Arroganz gegenüber den Mehrheiten in den eigenen Gesellschaften. In den USA hat Hillary Clinton die Trump-Anhänger einmal als »basket of deplorables« bezeichnet. Das folgt dem Modell dieser kosmopolitischen Arroganz. Das muss abgebaut werden. Die einstigen Volksparteien müssten sich darauf besinnen, sich von ihrem besinnungslosen Wettrennen um die Mitte zu lösen, und sich wieder daran erinnern, dass sie einen linken oder einen konservativen Kern haben. Und sie müssen diese Differenzen wieder stärker markieren. Schlicht formuliert: Die Sozialdemokraten müssen ökonomisch weiter nach links rücken und in kosmopolitischen Fragen nicht die Grünen überholen wollen.

NG|FH: Würde das nicht bedeuten, um den Fehler von Clinton zu vermeiden, nicht zu Viele von denen, die dem Kommunitarismus zugerechnet werden, abzuschreiben?

Zürn: Das ist völlig richtig. Das ist der Unterschied zwischen Hillary Clinton und Michelle Obama, die gesagt hat: »If they go low, we go high.« Der richtige Weg ist, gegen jene Verhaltensweisen erst dann »vorzugehen«, wenn sie wirklich nicht mehr tolerabel sind. Bis dahin muss die offene und ernste Auseinandersetzung gesucht und der Fehler vermieden werden, dass einer ganzen Gruppe das kulturelle Urteilsvermögen abgesprochen wird.

Diese Menschen hätten schon vor drei Jahrzehnten zurückgeholt werden müssen. Jetzt ist es natürlich viel schwieriger, in einer Welt, in der wir die Aufteilung in vier etwa gleich große Viertel haben: Große Koalitionsregierungen aus sehr unterschiedlichen Parteien werden unvermeidbar, die dann wiederum einen ganz erheblichen Zwang zum Kompromiss ausüben und verstärkte Profilierungen im Wahlkampf unglaubwürdig machen.

Merkel: Parteien besetzen bestimmte politische Räume. Beide großen Volksparteien haben zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken zu viel Raum geöffnet, in kultureller aber auch in sozioökonomischer Hinsicht. Den können sie aber zu einem gewissen Teil zurückerobern, indem sie sich wieder stärker auf ihren Kern besinnen. Und das gilt stärker für die Sozialdemokratie, weil sie zurzeit am deutlichsten auf der Verliererstraße ist – zumal in Deutschland.

NG|FH: Sie haben die Grenzen in den Mittelpunkt der Einteilung in die verschiedenen Gruppen gestellt. Wie sähe denn ein angemessener Umgang mit der Grenzfrage für ein Land wie die Bundesrepublik aus, um die für eine Kompromissfindung ansprechbaren Kosmopoliten und die nicht identitären Gruppen der Kommunitaristen einander anzunähern?

Merkel: Unsere offenen Gesellschaften müssen beim Thema Asyl großzügig sein, aber gleichzeitig deutlich machen, dass die Grenzen kontrolliert werden, wir nicht überrannt werden und nicht noch einmal den kardinalen Fehler begehen und sagen, wir können gar nichts machen. Einer der problematischsten Sätze war unter Hinweis auf Art. 16a GG: Asyl kennt keine Obergrenze, dass man nichts gegen die starke Zuwanderungsbewegung tun könne. Das hat man in einer Situation formuliert, als schon klar war, dass sich nur ca. 1 % als tatsächlich politisches Asyl Suchende qualifizieren werden.

Hinsichtlich der Ökonomie muss vorsichtig austariert werden, wie weit und wo wir die Grenzen öffnen. Internationale Arbeitsteilung bringt zwar letztendlich große Wohlfahrtseffekte, Grenzen müssen aber auch hier stärker kontrolliert werden. Aus einer demokratietheoretischen Perspektive würde ich zudem sagen: Vorsicht bei einer weiteren Übertragung nationalstaatlicher Souveränitätsrechte an die EU, jedenfalls so lange sie nicht mehr als heute demokratisiert ist.

Zürn: Ich würde nur die Reihenfolge etwas verändern. Wenn es so ist, dass die globalisierte Welt angesichts der technologischen Entwicklungen fast schon den Status einer conditio humana hat, dann kann man diese Unzufriedenheit nur dann wieder in den Griff bekommen, wenn sich zentrale Dinge ändern. Dazu zählt beispielsweise, dass Google und Apple Steuern zahlen. Das geschieht aber nur mithilfe einer starken EU und starken internationalen Institutionen. Deswegen würde ich den Weg der Demokratisierung der EU gehen wollen und die Fragen stellen: Wie können wir die nationalen Gesellschaften nicht nur in der ökonomischen Sphäre, sondern auch stärker politisch internationalisieren? Wie können wir bestimmte Errungenschaften aus dem nationalen Rahmen in den internationalen übertragen?

Der Weg ist lang und steinig und verspricht keine schnellen Erfolge. Aber ich glaube, der richtige Weg ist, die politischen Fragen in den europäischen Gesellschaften und in der europäischen Gemeinschaft gleichzeitig offen auszutragen. Nur dann kann man auch die Politiken formulieren, die notwendig werden, um die Verlorenen wieder zurückzuholen. Deswegen würde ich weniger die Grenzen betonen, sondern eher die Entgrenzung des Politischen fordern als die parallel notwendige Entwicklung zur Entgrenzung des Ökonomischen und des Kulturellen.

Merkel: Was machen wir aber in der unbestimmten Zeit des Übergangs, bis wir die internationalen Organisationen einigermaßen demokratisiert haben? Dürfen wir sozusagen auf Vorschuss Rechte in der Hoffnung abgeben, dies führe zu einer schnelleren Demokratisierung der internationalen Institutionen, verbunden mit dem Risiko, dass diese vielleicht scheitert und die Institutionen weiter technokratisch operieren, die Nationalstaaten aber noch weniger Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten besitzen? Das war die Politik der neoliberalen Ära seit den frühen 80er Jahren. Den Fehler dürfen wir nicht wiederholen.

Zürn: Die zentrale Frage ist doch: Was ist eigentlich Demokratie? Das, was wir in unseren Nationalstaaten als gewachsenes Institutionensystem haben, oder der Zustand, dass all diejenigen, die von Entscheidungen betroffen sind, auch ein Mitspracherecht haben? Und es gibt halt viele Fragen, in denen national gedachte parlamentarische Demokratie eben nicht alle Betroffenen einer Entscheidung mitreden lässt. Bei den großen Fragen unserer Zeit helfen uns politische Grenzen nicht mehr weiter, weil alle betroffen sind und nationale Entscheidungen undemokratisch sind oder ineffektiv bleiben. Wie sollen wir die Folgen des Klimawandels national angehen? Wie besteuern wir global agierende Unternehmen angesichts von Steueroasen? Wie regulieren wir die Finanzmärkte? Da geht es nicht um einen Übergang, sondern es geht einzig darum, die Entscheidungskompetenzen dorthin zu verlagern, wo Entscheidungen getroffen, wo Effekte erzielt werden können und mit denen übrigens der nationale Wohlfahrtsstaat und seine Steuerbasis erst wieder gestärkt werden können. Diese Institutionen sind gleichzeitig notwendig und zu demokratisieren.

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