Etwa zwei Wochen vor den amerikanischen Wahlen war ich mit meiner Familie im Auto unterwegs; wir wollten uns in New Haven auf den Interstate Highway 95 einfädeln, als links von uns eine Frau auf dem Hintersitz einer Harley wütend in unsere Richtung gestikulierte. Sie saß auf dem vorletzten Gefährt einer zwölfgliedrigen Motorradkolonne und fühlte sich anscheinend bedroht. Von ihrer Truppe wurde sie mit lautem Hupen unterstützt: Männer und Frauen, alle weiß, ohne Helme, mit langen grauen Haaren und Bärten, tätowierten Unterarmen, großen, verblichenen amerikanischen Flaggen und anderen Trump-Insignien. Wir hatten keine Absicht, der Gruppe ihren Platz auf dem Highway streitig zu machen, fühlten uns unsererseits angegriffen und provoziert. Wir traten auf die Bremse, um die Biker vorzulassen. War dies ein Omen für das, was kommen sollte?
Der Morgen nach der Wahl ist ein wunderschöner Novembermorgen. Der Himmel leuchtet blau, die Bäume sind orange, rotbraun und violett. Der Wind weht einzelne Blätter in kleinen Farbspiralen zu Boden. Der Tag will so gar nicht zu den Ereignissen passen, die sich in der letzten Nacht abgespielt haben. An diesem 6. November 2024 wachen wir auf und während der Tag noch verträumt dem Spätsommer nachhängt, ist unsere Welt eine andere, hat sich ein unheilvoller Schatten über sie gelegt. In der Stadt gehen die Menschen ihren Geschäften nach, nur etwas verhaltener, etwas leiser, etwas müder. Nach dem Lärmen und Toben des Wahlkampfes ist man im kleinen Connecticut, das wie die anderen Staaten im Nordosten der USA traditionell demokratisch wählt, angeschlagen und erschöpft.
Wir haben die Umfragewerte wochenlang vor Augen gehabt, haben sie auf unseren iPhones fieberhaft verfolgt. Anders als 2016 ist das Wahlergebnis kein Schock. Oder doch? Trump hat um seine Absichten keinen Hehl gemacht. Die Amerikaner waren vor die Entscheidung gestellt: Wollen sie einen Präsidenten, der als Straftäter verurteilt wurde, den Mob zum Sturm aufs Kapitol anfeuerte und unmittelbar nach Amtseinsetzung als »Diktator« regieren will; der plant, das Militär gegen die »inneren Feinde« einzusetzen, Tausende von Beamten zu entlassen und durch Loyalisten zu ersetzen, Immigranten in Camps zu schleusen und massenweise zu deportieren, dem Justizministerium die Unabhängigkeit zu entziehen, das Gesundheitswesen einem Verschwörungstheoretiker zu überlassen, die Bündnisse mit anderen westlichen Demokratien zu lockern und: der seinen Anhängern versprochen hat, es sei das letzte Mal, dass sie sich mit dem Wählen plagen müssten. Die deutliche Mehrheit der Amerikaner antwortete mit Ja.
Was für Menschen sind das? Die Einkommensschwachen, die Bildungsschwachen, die religiös Verblendeten, die in der Vergangenheit Steckengebliebenen, die Verlierer der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung. Die provokanten Biker auf dem Interstate Highway 95. Oder die Taxifahrerin, die mich kürzlich nach Hause brachte und erklärte, sie könne Trump nicht leiden, würde ihn aber trotzdem wählen, weil sie unter seiner Regierung mehr Geld im Portemonnaie hatte. Dass die Inflation von der Pandemie und globalen wirtschaftlichen Zusammenhängen verursacht wurde, ist eine Nuance, die nicht gewusst oder nicht beachtet wird.
Der Abwehrmechanismus ist angesichts der Millionen Trump-Wähler nicht realistisch.
Doch wenn ich so denke, mache ich den alten Fehler. Ich versuche mich abzugrenzen, stilisiere einen »anderen«, mit dem »ich« oder »wir« nichts gemeinsam haben. Es ist derselbe Abwehrmechanismus mit dem wir seit Lebensbeginn unser Ich vom Nicht-Ich, das Innen vom Außen trennen. Er dient dem Selbstschutz, ist aber angesichts der Millionen Trump-Wähler nicht realistisch und führt zu nichts Gutem. Tatsache ist, dass »wir« zusammengehören und dass »wir« alle mitgefangen sind. »Wir«, die Anderswählenden in den USA; »wir« im Rest der Welt.
Als Lyrikerin beschäftigt mich die sogenannte Wirklichkeit, beschleicht mich die Ahnung, dass unsere fünf Sinne nur einen kleinen Ausschnitt einfangen, nehme ich mir die Freiheit, durch Lyrik erweiterte Wirklichkeiten zu ertasten. Als Psychoanalytikerin weiß ich um unsere Tendenz, ein eng gestecktes Erfahrungsspektrum stetig zu wiederholen, arbeite mit Patienten an der Auflösung ihrer Wirklichkeitsverengungen.
Die Wirklichkeit ist unter Beschuss
Spätestens seit Trumps erster Amtszeit ist die Wirklichkeit unter Beschuss. Es geht nicht mehr um enge und weite Realitäten, um Meinungen und Perspektiven, sondern um das Fortbestehen von Wahrheit und Wirklichkeit überhaupt. Die Washington Post hat errechnet, dass Trump in den vier Jahren als Präsident 30.573 falsche oder irreführende Aussagen gemacht hat, im Durchschnitt 21 pro Tag. Die gewichtigste Lüge seit 2020 ist die Wahllüge. Trump selbst folgt, wie er einmal formulierte, dem Prinzip, dass, wenn man etwas nur lange genug behauptet, es schon wahr werden wird. Sein Vize J. D. Vance beschwerte sich in der Fernsehdebatte im Oktober über das »Faktenprüfen« der Journalisten. Er gab zu, die Geschichte über Einwanderer aus Haiti, die die Haustiere ihrer Nachbarn fressen, erfunden zu haben, und argumentierte, dass dies legitim sei, um Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken. Wirklichkeit stirbt, wenn die politische Führung sie mit ihren Lügen, Einbildungen und Wahnvorstellungen, ob sie selbst daran glaubt oder nicht, ersetzt.
»Es geht um das Fortbestehen von Wahrheit und Wirklichkeit.«
Trump und seine MAGA-Republikaner kämpfen um die Macht und den Einfluss der weißen Bevölkerung. Diesem Machtanspruch steht die Realität entgegen: Bis 2050 werden weniger als 50 Prozent der amerikanischen Bevölkerung weiß sein. Anstatt sich der Wirklichkeit zu fügen, greifen sie sie an. Dabei hilft, dass die Wahrnehmung von Wirklichkeit eine Schwachstelle der menschlichen Psyche ist, denn allzu leicht verlieren wir den Bezug zu ihr. Nichts erzeugt so viel Rauch, verschleiert so die klare Sicht, wie das Anfachen negativer Emotionen. Hinter dem Rauchvorhang wird das neue System vorbereitet und wenn der Vorhang sich am 20. Januar 2025 hebt, ist es für die Demokratie schlimmstenfalls schon zu spät.
Der schwache Bezug zur Wirklichkeit zeigt sich auch in unserer Tendenz, von unserer eigenen Realität auf die Realitäten anderer Menschen zu schließen. Sprich, wir können es uns häufig gar nicht vorstellen, dass es anderen Menschen ganz anders geht als uns. Diese Form von Narzissmus – ein Begriff, den man meistens für Trump reserviert – scheint die Demokraten die Wahl 2016 und wieder 2024 gekostet zu haben. Die Wählerinnen und Wähler fühlten sich von Trumps Bild des heruntergekommenen, leidenden Amerika viel mehr angesprochen als von Harris’ Kampf um die amerikanische Verfassung und ihre Ideale.
Eine Bekannte, die in der Woche vor den Wahlen nach Arizona gereist war, um von Haus zu Haus zu ziehen und den Leuten praktische Unterstützung beim Wählen anzubieten, beschrieb Menschen, denen es schlecht geht. Sie erzählte von jungen Leuten in den Vorstädten von Phoenix, deren Wohnungen an die Rückwand eines riesigen Amazon-Versandhauses gebaut sind, in dem sie unter ständiger Kontrolle ihrer Produktivität und zu allen Tages- und Nachtzeiten arbeiten. Oder eine Frau, die ihren Wahlschein für Harris schon ausgefüllt hatte, aber keine Möglichkeit sah, ihn zur Wahlbox zu bringen; ihr war kürzlich die Gallenblase entfernt worden und sie konnte nicht laufen; ihrer Tochter sei es zu viel, sie zu fahren, und ihr Mann, der um fünf Uhr nach Hause kommt, interessiere sich nicht für ihre Anliegen.
Immense Gegensätze
Um Armut und Unglück zu sehen, muss man nicht nach Arizona fahren. Eine Stadt wie New Haven ist nach wie vor stark segregiert, auf der einen Seite des Hügels stehen die besten Häuser der Stadt, auf der anderen die heruntergekommenen Sozialwohnungen der Schwarzen und Latinos; die ärmere weiße Bevölkerung lebt in den Vorstädten und auf dem Land. Die Universität Yale im Ort hat sich die Diversität auf die Fahnen geschrieben, sucht diese aber oft in den Kreisen internationaler Eliten anstelle der unmittelbaren Nachbarschaft. Sie initiiert und investiert in zahlreiche Programme, um der Stadt zu helfen, und trotzdem bleiben die Gegensätze immens. Populisten, hier wie anderswo, bieten Menschen in Not ein erleichterndes Narrativ an, das nicht ihnen die Verantwortung für ihre Lage zuweist, sondern anderen. Sie müssen sich nicht selbst verachten, sondern verachten andere.
Zu mir ist Amerika immer gut gewesen. Ich bewundere die Aufgeschlossenheit, Großzügigkeit und den Optimismus der Amerikaner, wie sie ihre Freiheit mit Tatendrang und Kreativität nutzen. Als Deutsche bin ich mit diesen positiven Amerika-Gefühlen, glaube ich, nicht allein. Meine Einbürgerungszeremonie vor zehn Jahren war ein ergreifender Moment; die Richterin ernannte Menschen aus 61 Nationen zu neuen Amerikanern. Das war keine Formalität, sondern ein großartiges Erlebnis, das Wahrwerden einer Utopie.
Wenn man etwas, an dem man hängt, zu verlieren droht, dann stellt sich Trauer ein.
Trauer stellt sich ein, wenn man etwas, an dem man hängt, zu verlieren droht. Zunächst versucht der Verstand die Trauer mit anderen Manövern zu umgehen; er verharmlost, verleugnet, verteufelt, gibt die Hoffnung auf, ergibt sich in Nihilismus, hat es immer schon gewusst. Doch schließlich lässt er die Ausweichmanöver sein und stellt sich der Situation. Zu trauern bedeutet meistens, sich von falschen Annahmen über die Realität zu verabschieden. Eben das macht die Trauer wertvoll: Sie erlaubt uns, uns der Wirklichkeit von Neuem zuzuwenden, sie realistischer wahrzunehmen und auf dieser besseren Grundlage lebens- und handlungsfähig zu bleiben.
Das Ideal Amerika, der Traum vom freien, selbstbestimmten und daher guten und glücklichen Menschen, bleibt. Wie es mit den USA weitergeht, werden wir sehen. Es zeichnet sich eine neue Kreatur ab, die voller Widersprüche ist: Sie will die alte weiße Vorherrschaft restaurieren, aber auch ein neues, goldenes Zeitalter einläuten; sich ihre Feinde vom Hals schaffen, aber geliebt werden; sich aus der globalen Politik zurückziehen, aber internationale Konflikte beenden; mit anderen Diktatoren gemeinsame Sache machen, aber auch den Friedensnobelpreis gewinnen. Sie will alles, kennt keine Grenzen. Sie gebärdet sich, um den Begründer der Psychoanalyse zu zitieren, wie »His Majesty, the Baby«. Ein Baby ist bedürftig und verlangt den Personen in seinem Umkreis viel ab. Hoffen wir, dass unter ihnen genug Erwachsene sind.


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