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Bücher über die Macht der Internetkonzerne Die neue Ungeniertheit

Mit der Digitalisierung geht eine neue Ungeniertheit einher. Zwar durften schon die frühen Kinobesucher für ihre paar Groschen erwarten, dass an ihre niedersten Instinkte appelliert wurde, doch weil Kino eine öffentliche Veranstaltung war, hielt sich die Sache in einem gewissen Rahmen. Am heimischen PC fällt diese soziale Kontrolle weg. Hier sind die Menschen ungeniert und lassen alle Hemmungen fallen – sowohl was ihren Konsum als auch das Versenden von Hassmails angeht.

Nirgendwo lässt sich das Verhalten von Menschen so leicht erfassen wie am Monitor. Mit dem Internet verbundene Computer und Smartphones liefern den Anbietern Informationen zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen und die Basis für Statistiken, anhand derer sie ihr Angebot auf einzelne User wie auf bestimmte Gruppen zuschneiden können. Heute kann man zwar sehen, was man will, aber dieses Wollen ist zunehmend fremdbestimmt. Internetfirmen wie Cambridge Analytica, die auf Nutzerdaten von Facebook zurückgreifen konnten, haben dies, wie der Whistleblower Christopher Wylie enthüllte, zur Beeinflussung des Brexit-Prozesses und der letzten US-Wahl genutzt.

Die Ökonomin und Philosophin Gisela Schmalz analysiert in ihrem Buch Mein fremder Wille, »wie wir uns freiwillig unterwerfen und die Tech-Elite kassiert«. Der Titel von Marcus S. Kleiners Buch Streamland spielt mit dem Ausdruck »Dreamland«. Die Welt digitaler Medienkonzerne ist die Traumfabrik 2.0, und deren Geschäftsmodelle zielen nicht allein auf Unterhaltung und Marketing ab, sondern stehen längst auch in Diensten totalitärer politischer Bestrebungen. Und das nicht nur in China, wo das politische Wohlverhalten jedes einzelnen Menschen überwacht wird.

Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer, und so zeigt Kleiners Buch, »wie Netflix, Amazon Prime & Co. unsere Demokratie bedrohen«. Vom Streaming-Anbieter hat sich Netflix inzwischen zum Filmproduzenten entwickelt, der weiß, was seine Kundschaft haben will: »Jede Sekunde des individuellen Seherlebnisses wird für Netflix sichtbar«, schreibt Kleiner: »Was wurde wann von mir eingeschaltet? Wann habe ich zu­rückgespult? Wonach suche ich? Welche Bewertungen gebe ich ab? Wie lange habe ich zugeschaut? Wann und an welcher Stelle habe ich abgeschaltet? Was sehe ich mir mehrfach an? Zu welcher Uhrzeit schaue ich etwas an? (…) Welches Programm habe ich schnell wieder abgebrochen? Was habe ich mir danach alter­nativ angesehen?«

Was den Nutzern als ungeniert freie Auswahl erscheint, hilft den Anbietern dabei, ihre Angebote so zu gestalten, dass sie maximalen Zuspruch finden. Der 1989 geborene Whistleblower Christopher Wylie führt in Mindf*ck vor, »wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird«. Und er beschreibt dabei anschaulich, wie er als homosexueller Kanadier auf seinem unkonventionellen Bildungs- und Berufsweg mit Leuten wie Alexander Nix, dem CEO von Cambridge Analytica, dem großen Manipulator Stephen Bannon und dem erzkonservativen Milliardär Robert Mercer zusammentraf. Als Kind an einen Rollstuhl gefesselt, hatte er die Computerwelt für sich entdeckt und schon früh deren Möglichkeiten erkannt, Meinungen und Verhaltensweisen zu erfassen und zu manipulieren. Eine grundlegende Rolle spielte dabei das psychologische »Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit«, das andere Kriterien erfasst als die konventionelle Wahlforschung: »Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus.« Es erlaubt nicht nur präzise Vorhersagen, sondern erklärt auch, warum etwa der soziale Status nicht unbedingt ein entsprechendes Wahlverhalten garantiert: »Eine Person (…), deren Faktor Gewissenhaftigkeit einen hohen Wert aufweist, wird wahrscheinlich in der Schule gut abschneiden. (…) Kreative haben tendenziell höhere Werte, was Offenheit betrifft. Menschen, die weniger offen und eher gewissenhaft sind, neigen dazu, Republikaner zu wählen.«

Auf dieser Basis erhellt Wylies Buch, wie sich das Modell praktisch anwenden lässt. Manipulative Sender wie Fox News praktizierten eine Form der »kognitiven Verzerrung« durch Emotionalisierung: »Fox feuert mit seinen überzogenen Behauptungen den Zorn an, weil der Zorn die Fähigkeit mindert, nach Informationen zu suchen, sie vernünftig zu beurteilen und abzuwägen. (…) Es ist dieselbe Voreingenommenheit, die Leute dazu bringt, in einem Wutanfall etwas zu sagen, das sie später bereuen – in der Hitze des Gefechts denken sie tatsächlich anders als im Normalzustand.«

Diese kognitive Verzerrung führe dazu, »dass Menschen Informationen akzeptieren oder negieren, weil sie dem Erhalt der Gruppenidentität dienen, und nicht wegen der Relevanz ihres Inhalts«. Wylie erklärt, warum Menschen den Tiraden eines Donald Trump folgten oder für den Brexit gestimmt hätten, obwohl sie doch überwiegend vernünftige Zeitgenossen seien: »(…) allmählich begriff ich, dass Fox deshalb funktioniert, weil der Sender eine bestimmte Identität in die Köpfe der Zuschauer pflanzt, die dann eine Debatte über strittige Themen als einen Angriff auf eben diese Identität empfinden. Dies wiederum löst eine Abwehrreaktion aus, wodurch alternative Sichtweisen das Festhalten des Publikums an seiner ursprünglichen Überzeugung sogar noch verstärken, weil es sich in seiner persönlichen Freiheit bedroht fühlt.«

Das simple Erfolgsrezept, das für Streaming-Serien wie für politische Agitation gilt, besteht in Emotionalisierung und Identifizierung, so dass alle sich direkt angesprochen oder angegriffen fühlen: »Je mehr die Demokraten die Köder, die Fox auslegte, kritisierten, desto verbissener hielten die Fox-Zuschauer an ihren Ansichten fest und desto größer wurde ihre Wut. Deshalb ließ beispielsweise die Kritik an Donald Trumps rassistischen Äußerungen die Zuschauer völlig kalt: Sie internalisierten diese Kritik als einen Angriff auf ihre eigene Identität und nicht auf die des Kandidaten. Das hat den tückischen Effekt, dass sich das Publikum immer stärker hinter seinen Überzeugungen verschanzt, je mehr debattiert wird.«

Wylies Ausführungen wirken noch beunruhigender angesichts der Protagonisten, die er beschreibt. Sein zeitweiliger Chef Alexander Nix erscheint als zynischer Spross einer britischen Oberschichtfamilie, der in Eton auf eine Rolle in einer imperialistischen Parasitenherrschaft getrimmt worden war: »Nix konnte nicht anders – er war berauscht von Macht. Zu spät geboren, um im alten britischen Empire den Kolonialherren zu geben, behandelte er SCL als dessen modernes Pendant.« Stephen Bannon wiederum empfindet er als zwar unappetitlichen aber doch irgendwie geistesverwandten Nerd, dessen messianische Ambitionen als konservativer Revolutionär ihm gleichwohl suspekt sind.

Anne Wiener spricht in Code kaputt von einer »dunklen Triade der Tech-Branche«, die sie mit den Worten beschreibt: »Kapital, Macht und eine fade, überkorrigierte heterosexuelle Maskulinität«. Sie fragt: »Ging es dem CEO wirklich nur ums Geld? Nein, sagten meine Teamkollegen, um Macht.« Dabei scheinen deren Machthaber ein ganz einfaches Weltbild zu haben, nämlich dass sie, frei nach Oscar Wilde, stets mit dem Besten zufrieden sind. Das führt etwa Reed Hastings, den CEO von Netflix, dazu, in seinem als Wechselgespräch mit der Ökonomin Erin Meyer gestalteten Buch Keine Regeln Begriffe wie »Talentdichte« einzuführen. Klar sei, so Hastings, »dass ein Team mit ein oder zwei Mitgliedern, die lediglich zufriedenstellende Leistungen bringen, die Leistungen aller schmälert«. Also raus mit ihnen und rein mit den nächsten Spitzenkräften. Dabei helfe der sogenannte Keeper-Test: »Wenn eine Person in Ihrem Team morgen kündigen will, würden Sie dann versuchen, sie umzustimmen?«, fragt Hastings: »Oder würden Sie ihre Kündigung, vielleicht mit einer gewissen Erleichterung, annehmen?« Das scheint zwar bei Netflix bislang bestens zu funktionieren, wohl auch deshalb, weil Hastings ein erfolgreicher Pionier war. Seine Überlegungen folgen jenem pseudo-darwinistischen Fehlschluss, der aus dem Erfolg bestimmter Individuen und Arten schließt, dass sie besser seien als andere. Sie sind aber im Sinne des Survival of the fittest nur besser auf ihr aktuelles Umfeld eingestellt. Es ist kein Verdienst oder Qualitätsmerkmal, sondern eine Mischung aus Zufall und natürlicher Selektion. Dass man sich für bestimmte Projekte die Idealbesetzung zusammenkaufen könnte, ist ein Traum, der zerrinnt, wenn die Spitzenkräfte sich hoffnungslos zerstreiten oder einander permanent die Show stehlen, denn das Außergewöhnliche braucht das Gewöhnliche, um als außergewöhnlich wahrgenommen zu werden.

Unsere digitalisierte Mediengesellschaft ist aber offenbar das Produkt von Menschen, denen sie als Basis und Verstärker für extrem narzisstische Persönlichkeiten dient, die immer wieder beweisen müssen, dass sie ihren Erfolg, ihr Vermögen und ihre Macht mit vollem Recht besitzen, weil sie sogar besser als die besten Anderen sind. Trumps viel belächelte Tweets haben zwar wenig Kompetenz durchblicken lassen, aber seine Meinung omnipräsent gemacht. Sie haben den Ton vorgegeben, der die Musik macht, und dabei alle, die sich darauf eingelassen haben, auf sein Niveau hinuntergezwungen.

Hier liegt die große Gefahr, denn die Herren der neuen Medien bestimmen zunehmend, wo und wie über diese diskutiert wird. Gisela Schmalz zeigt, wie die Lobbyisten und Influencer der »Big-Tech-Unternehmen« etwa auf die geplante Reformierung des Urheberrechts in der EU reagierten. Millionen von Nutzern wurden mobilisiert, um gegen eine angebliche Gefahr für die Freiheit des Netzes zu protestieren. Im Anschluss an Reeds Buchtitel Keine Regeln muss man fragen: Keine Regeln für wen? Freiheit für wen? Schmalz führt in einem »Willenlos glücklich« überschriebenem Kapitel aus: »Was die Anführer der US-amerikanischen und chinesischen Tech-Industrie sich gegenseitig an Facettenreichtum, Freiheit, Selbständigkeit, Originalität und auch an Widersprüchlichkeit (…) zugestehen, gestehen sie anderen nicht zu. Ihre Anwendungen, Apps, Algorithmen, Infrastrukturen und Maschinen schränken die Auswahl und die Entscheidungsspielräume derer ein, die diese Technologien nutzen.« Das ist die wahre neue Ungeniertheit. Und die gilt nur für wenige.

Marcus S. Kleiner: STREAMLAND. Wie Netflix, Amazon Prime & Co. unsere Demokratie bedrohen. Droemer, München 2020, 304 S., 20 €. – Reed Hastings/Erin Meyer: Keine Regeln. Warum Netflix so erfolgreich ist. Econ, Berlin 2020, 400 S., 26 €. – Gisela Schmalz: Mein fremder Wille. Wie wir uns freiwillig unterwerfen und die Tech-Elite kassiert. Campus, Frankfurt/M. 2020, 296 S., 19,95 €. – Anna Wiener. Code kaputt. Macht und Dekadenz im Silicon Valley. Droemer, München 2020, 320 S., 18 €. – Christopher Wylie: Mindf*ck. Wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird. DuMont, Köln 2020, 416 S., 24 €.

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