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Prekäre Arbeitsbedingungen bei Gorillas, Lieferando und Co. Die neuen Tagelöhner

Wer kennt es nicht: Es ist Samstagabend, Freunde haben sich angekündigt – und dann fehlt eine wichtige Zutat für das gemeinsame Abendessen. Für derlei Notlagen gibt es nun gleich mehrere Apps: Per Lieferservice bringen Gorillas, Flink & Co. nahezu jedes Supermarktprodukt bis an die Haustür – in Minutenschnelle und zu einer Liefergebühr von nur 1,80 Euro.

Und wer erst gar nicht selbst kochen möchte, kann sich per Fahrradkurier auch ein Restaurantgericht liefern lassen. Am Ende soll dieser Service sogar den heimischen Herd ausstechen: Geht es nach den Vorstellungen des Delivery-Hero-Gründers Niklas Östberg, dann wird das Kochen in wenigen Jahren nurmehr ein Hobby sein, wie er im Gespräch mit der FAZ prophezeite.

Die schnelle, komfortable Lieferwelt setzt den aktuellen Trend des privaten Outsourcens fort: Statt selbst zu putzen, zu fahren, zu kochen, einzukaufen oder Sorgearbeit zu verrichten, wälzen jene, die es sich leisten können, diese zeitraubenden Tätigkeiten auf eine neue Klasse unterbezahlter Diener*innen ab. Dafür schwächen die digitalen Plattformen systematisch Arbeitnehmer*innenrechte, etablieren so ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und vergrößern so letztlich die gesellschaftliche Spaltung.

Der Erfolg der Lebensmittellieferdienste verdankt sich nicht zuletzt der Coronapandemie. Davor hatten der Markt- und Konsumforschungsagentur Statista zufolge nur rund sechs Prozent der Verbraucher*innen schon einmal Lebensmittel im Netz bestellt, im vergangenen Jahre waren es dann bereits 18 Prozent. Marktführer sind bislang noch Amazon Fresh sowie die großen Supermarktketten. Ihnen ist allerdings eine wachsende Zahl wendiger Start-ups auf den Fersen, allen voran Gorillas, Getir, Flink und Bring. Und gerade sie zählen zu den eigentlichen großen Gewinnern der Coronakrise – und folgen vor allem einer Devise: »Go fast and break things.«

In diesem Sinne profitierten auch die Essenslieferdienste erheblich von der Pandemie. Hierzulande dominiert Lieferando den deutschen Markt, gefolgt von Wolt und UberEats. Ende 2018 – und damit rechtzeitig vor der Coronapandemie – hatte Lieferandos niederländischer Mutterkonzern Just Eat Takeaway weite Teile des Deutschlandgeschäfts seines damals ärgsten Konkurrenten Delivery Hero übernommen und dessen Angebote Lieferheld, Foodora und pizza.de dichtgemacht.

Weitgehend ungehindert konnte Lieferando somit in den Jahren der Pandemie wachsen, verzeichnete 2021 knapp 50 Millionen Bestellungen mehr als im Vorjahr, was den hiesigen Umsatz um satte 50 Prozent auf rund 267 Millionen Euro hochschnellen ließ. Zugleich rühmt sich das Unternehmen laut Tagesspiegel, für eine Provision von bis zu 30 Prozent Restaurants und Imbisse »fit« gemacht zu haben für eine postpandemische Zukunft, in der ohnehin nur jene überleben könnten, die Gerichte auch ausliefern.

Das gewaltige Wachstum erfolgte allerdings auf dem Rücken der Lieferant*innen. Etwa 5.000 von ihnen sind bei Lieferando angestellt, die meisten in Teilzeit. Immer wieder beklagen sich Kurierfahrer*innen über den zu hohen Arbeitsdruck sowie über niedrige und mitunter auch ungleiche Einkommen unterhalb der Mindestlohnschwelle von zwölf Euro. Zudem überwacht Lieferando seine Kurierfahrer*innen per Ortungs-App auf Schritt und Tritt, weshalb der Konzern auch den diesjährigen Big-Brother-Award erhielt.

Auch das Fairwork-Projekt der Universität Oxford, das Arbeitsbedingungen bei digitalen Plattformen untersucht, vergibt den Lieferdiensten zumeist miserable Noten. So erhielt Lieferando für 2020 in der Sparte »Faire Mitbestimmung« die schlechteste Wertung ebenso wie Gorillas für das Folgejahr.

Die katastrophale Lage bei den Lieferdiensten steht exemplarisch für die prekären Ausbeutungsverhältnisse bei den meisten digitalen Plattformen. Rund 2,8 Millionen Menschen – und damit fast sechs Prozent der deutschen Erwerbsbevölkerung – erwirtschafteten dort im vergangenen Jahr mindestens ein Viertel ihres Einkommens. Einen großen Teil des billigen Heeres an Arbeitskräften stellen nicht zuletzt Migrant*innen.

Die Mitspracherechte der Angestellten – etwa durch Betriebsräte – sind meist überaus beschränkt. Sowohl bei Lieferando als auch bei Gorillas gibt es nur an einigen wenigen Standorten gewählte Arbeitnehmer*innenvertretungen. Vor allem zwei Gründe sind dafür verantwortlich: Zum einen ist es gerade bei Lieferdiensten meist ein beschwerlicher Weg bis zu deren Gründung. Denn die Fahrer*innen arbeiten – »ferngesteuert« durch eine App – zumeist allein. Diese Vereinzelung erschwert es ihnen erheblich, sich zu vernetzen und gemeinsam gegen Missstände im Betrieb vorzugehen.

Zum anderen unternimmt insbesondere Gorillas alles, um derlei Bestrebungen im Keim zu ersticken. Das Unternehmen befristet Arbeitsverhältnisse – anders als inzwischen Lieferando – in der Regel auf ein Jahr, wovon sechs Monate auch noch als »Probezeit« zählen. Wegen dieser Befristung ist es Angestellten kaum möglich, Betriebsräte zu gründen. Hinzu kommt, dass die Unternehmensleitung in den vergangenen Monaten immer wieder versucht hat, seine rund 10.000 Angestellten in Teilgesellschaften und selbstständige Franchise-Betriebe aufzusplitten – was Gerichtsentscheidungen bislang verhindern hat.

Dabei ist eine solche Vernetzung nicht nur aus Sicht der unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer*innen dringend erforderlich. Denn die Arbeit auf den digitalen Plattformen ist weitaus schlechter bezahlt als in der analogen Arbeitswelt, weshalb sie für viele auch nur ein Zubrot bietet: Im Durchschnitt betrug das Einkommen aus Plattformarbeit laut European Trade Union Institute in 14 untersuchten EU-Ländern rund 250 Euro im Monat.

Obendrein etablieren die digitalen Plattformen derzeit ein überwachungs- und bewertungsgetriebenes Arbeitssystem, das sich auch auf andere Wirtschaftsbereiche ausweiten könnte (Yannick Haan am 12. 7. 21 in der taz). Eine starke Arbeitnehmer*innenvertretung könnte diese Entwicklung aus den Unternehmen heraus stoppen.

Doppelte Abwärtsspirale

Gelingt dies nicht, droht eine doppelte Abwärtsspirale. Zum einen könnten die Plattformunternehmen an deren Ende gesellschaftliche Kernaufgaben wahrnehmen und damit zu unverzichtbaren Infrastrukturen des Alltagslebens heranwachsen. Zum anderen würde davon aber nur eine Handvoll Unternehmen profitieren: Die Start-ups befinden sich schon jetzt in einem überaus harten Verdrängungswettbewerb – um die Marktführerschaft zu erlangen, setzt jedes von ihnen von Beginn an auf aggressives Wachstum.

Für die möglichst ungebremste Expansion werden nicht nur die Mitarbeiter*innen verheizt, sondern auch eine gewaltige Menge an Risikokapital. Um im erbitterten Konkurrenzkampf zu bestehen, macht Lieferando, so sein Gründer Jörg Gerbig in einem Gespräch mit der Wirtschaftswoche, pro Lieferung rund acht Euro Verlust. Und Delivery-Hero-Chef Östberg prophezeit, es werde noch mindestens zehn Jahre dauern, bis sein Unternehmen die marktbeherrschende Stellung übernommen habe und Profit abwerfe.

Spätestens dann aber haben nicht nur Geschäftspartner*innen, sondern auch die Kund*innen das Nachsehen: Unternehmen, die den Markt dominieren oder gar sämtliche Konkurrenten vollständig verdrängt haben, können dann nach Belieben die Geschäftsbedingungen und die Preise diktieren.

Derzeit ließe sich dieser Niedergang noch aufhalten. Dafür aber müssten die digitalen Plattformen strenger kontrolliert und die Rechte derer, die für sie arbeiten, gestärkt werden. So könnten insbesondere die Städte jene Initiativen unterstützen, in denen die Fahrer*innen das Heft selbst in die Hand nehmen und Genossenschaften gründen, in denen sie kooperativ nach eigenen Regeln, ohne Überwachung und mit einem festen Einkommen arbeiten.

Ende vergangenen Jahres nahm etwa in Berlin Khora seinen Dienst auf, das sich als Alternative zu Gorillas und Wolt präsentiert. Die Einnahmen fließen in eine Genossenschaft, die diese dann an alle Kurier*innen verteilt. Zudem erhalten die Angestellten eine Kranken- sowie auf Wunsch auch eine Arbeitslosen- und Berufsunfallversicherung. Da solche Kooperativen nicht auf das schier unerschöpfliche Risikokapital der Start-up-Konkurrenz zugreifen können, sind sie umso mehr auf lokale und regionale Förderungen jedweder Art angewiesen.

Dass solche Alternativen allein eine strengere Regulierung der digitalen Plattformen nicht ersetzen können, hat unter anderem die EU-Kommission erkannt. Sie legte im Dezember 2021 Regulierungsvorschläge vor, um »die Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit zu verbessern und das nachhaltige Wachstum digitaler Arbeitsplattformen in der EU zu unterstützen«.

Die Kommission will unter anderem bis zu 5,5 Millionen Plattform-Beschäftigte zu festen Angestellten machen. Außerdem sollen die Arbeitgeber dazu verpflichtet werden, Kommunikation der Beschäftigten untereinander wie auch mit ihren Interessenvertretungen zu ermöglichen. Der Vorschlag der Kommission wird nun vom Europäischen Parlament und vom Rat erörtert. Sollte er angenommen werden, haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen.

Die langwierigen Beratungen in Brüssel wollte zumindest Belgien nicht abwarten: Dessen Premierminister Alexander De Croo stellte bereits im Februar eine umfassende Arbeitsmarktreform vor, die auch einen besseren Schutz für freie Angestellte von Internet-Plattformen vorsieht. Demnach soll künftig klarer geregelt sein, wer dort selbstständig beschäftigt und wer fest angestellt ist. Außerdem sollen alle Beschäftigten gleichermaßen eine verpflichtende Arbeitsunfallversicherung erhalten.

Die Bundesregierung sollte sich an unserem Nachbarland ein Beispiel nehmen. Zwar hatte das Bundesarbeitsministerium unter Hubertus Heil (SPD) bereits Ende 2020 ganz ähnliche Reformen in Aussicht gestellt. Doch der Ankündigung, »faire Arbeit in der Plattformökonomie« sicherzustellen und insbesondere Soloselbstständigen »Zugang zu elementaren arbeits- und sozialrechtlichen Schutzmechanismen« zu verschaffen, sind bislang kaum Taten gefolgt. Somit verfügen viele Beschäftigte der digitalen Plattformen bis heute über keine ausreichende Absicherung nach Unfällen. Die gesetzliche Unfallversicherung wurde hierzulande im Rahmen der bismarckschen Sozialgesetzgebung eingeführt – im Jahr 1884. Hinter diese wichtige Errungenschaft sollten wir keinesfalls zurückfallen. Dafür aber braucht es endlich ein Update des Arbeitsrechts.

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