Wenn heute vom Wohnen die Rede ist, sind die vorherrschenden Themen zumeist: steigende Mieten, hohe Immobilienpreise und ein nicht ausreichendes Wohnungsangebot in den großen Städten. Psychologische Belange wie das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner geraten schnell aus dem Blick, wenn ökonomische und zunehmend auch ökologische Fragen das Feld beherrschen.
Man macht sich Gedanken über Gebäude, die sich durch geschlossene Energie- und Versorgungskreisläufe auszeichnen und Möglichkeiten zur Lebensmittelproduktion bieten, Regenwasser aufbereiten sowie Strom- und Heizenergie mit Wind- und Solaranlagen erzeugen, und man überlegt, wie die Stadt in eine Green City verwandelt werden kann.
Doch es geht nicht nur um wirtschaftliche und ökologische Belange wie ein kostensparendes einfacheres Bauen und den Verzicht auf eine extrem aufwändige Haustechnik und die Einsparung von Heizenergie, indem gedämmt wird, was das Zeug hält. Denn Ökonomie und Ökologie sind nur zwei der drei Dimensionen des Leitbildes der Nachhaltigkeit, einer wichtigen Richtschnur nationaler und internationaler Politik.
Die dritte Dimension nimmt Bezug auf die psychologischen und sozialen Bedürfnisse des Menschen. In der Coronazeit ist diese dritte Dimension weiter in den Vordergrund gerückt, weil Menschen mehr Zeit in Wohnungen verbringen mussten, weil Begegnungen im öffentlichen Raum vermieden werden sollten und möglichst zu Hause gearbeitet werden sollte. Die Möglichkeit war weitgehend gegeben, weil man heute für viele Arbeiten nur einen Laptop und einen Internetanschluss braucht.
Es scheint ein enormer Gewinn an Autonomie zu sein, wenn man orts- und zeitunabhängig arbeiten kann. Das Homeoffice müsste deshalb geradezu optimal sein. Ein zeitraubender Ortswechsel zwischen Wohn- und Arbeitsort erübrigt sich, was einen Gewinn an freier Zeit verspricht. Doch trotz all dieser Vorteile ist eine ausschließlich positive Bewertung nicht angebracht, denn die soziale Dimension der Nachhaltigkeit umfasst noch vieles mehr. Bevor also ein »Recht auf Homeoffice« festgeschrieben wird, sollte erst einmal geprüft werden, welche Folgen das Wohnen und Arbeiten unter einem Dach insgesamt haben kann. Man stellt dabei ziemlich schnell fest, dass es nicht lediglich ein Verlagern des Arbeitsplatzes aus dem Büro in die Wohnung ist, sondern eine einschneidende Veränderung des Alltagslebens.
Bislang bedeutete Wohnen außer Verweilen und Bleiben auch Behaglichkeit und Geruhsamkeit, Sicherheit und Geborgenheit. Vor dem Einzug des Office in die Wohnung war das Home eine Art sicherer Hafen gewesen, ein Ort der Erholung und des Freiseins von beruflichen Anforderungen. Dennoch war man in seiner Wohnung nicht abgeschottet, denn man war mit der Außenwelt in vielfacher Weise verbunden, nicht zuletzt auch durch den außerhalb der Wohnung gelegenen Arbeitsort mitsamt den Wegen dorthin. Die Verbindungen zur Außenwelt wurden in Coronazeiten gelockert.
Zu den Nachteilen, die das Arbeiten im Homeoffice mit sich bringt, sind insbesondere der Verlust sozialer Beziehungen, fehlende Anregungen aus der Außenwelt und eingeschränkte Möglichkeiten sich zu erholen und zu regenerieren zu rechnen.
Folgen sozialer Isolation
Besonders schwer wiegt ein Wegfall sozialer Kontakte, denn der Mensch ist bekanntlich nicht nur ein Individuum (Einzelwesen), sondern grundsätzlich immer auch ein Sozialwesen. Weniger soziale Beziehungen bedeuten einen Schwund an emotionaler Zuwendung und gegenseitiger Unterstützung. Eine verordnete Meidung zwischenmenschlicher Kontakte wie in Coronazeiten lässt das soziale Leben erstarren.
Man kann nicht mehr wie gewohnt kommunizieren und fühlt sich isoliert statt zugehörig. Gefühle der Einsamkeit und des Isoliertseins wiegen schwer. Die Zufriedenheit mit der Arbeit und dem Leben werden geschmälert, was sich nicht nur negativ auf die Arbeitsleistung und Arbeitszufriedenheit, sondern auch auf das Wohlbefinden, die psychische Gesundheit und die subjektive Lebensqualität auswirkt. Die Wohnung sowohl als sicherer Ort als auch als Tor zur Außenwelt verwandelt sich in ein unfreiwilliges Gefängnis. Nur noch Online-Kontakte sind möglich.
Dass sensorische Stimulation für das psychische Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit, Kreativität, Inspiration und Motivation, etwas in Angriff zu nehmen und zielgerichtet zu handeln, und auch für die Gehirnaktivität unverzichtbar ist, wurde in psychologischen und neurobiologischen Untersuchungen vielfach bestätigt. Die Annahme, dass man die Lern- und Arbeitsleistung dadurch steigern kann, indem man sämtliche Ablenkungen fern hält, ist längst widerlegt. In Seminar- und Klassenräumen mit fehlenden Ausblicken auf eine anregende Umgebung lässt die Konzentrationsfähigkeit eher nach, als dass sie gesteigert wird.
Negative Gestimmtheit, Reizbarkeit, Müdigkeit und Leistungseinbußen sind in anregungsarmen Umwelten zu erwarten. Das Arbeiten im Homeoffice ist vor allem dann erheblich anregungsärmer als ein Arbeiten im Büro, wenn der Arbeitsplatz in der Wohnung eine fensterlose Ecke ist.
Der Mensch braucht nach einer beanspruchenden Arbeit eine Erholungsphase. Die Erkenntnis, dass man sich erholen können muss, war einstmals der Anlass gewesen, geregelte Arbeitszeiten und Urlaube einzuführen. Erholung wurde auf diese Weise festgeschrieben. Das Homeoffice verringert die Erholungswirkung des Zuhauses. Der Grund ist, dass ein wichtiger Faktor für Erholung entfällt, das »being away«. Die Wohnung war der geeignete Ort, um sich von den Belastungen des Alltags zu erholen und Stress abzubauen. Vom Büro aus gesehen war die Wohnung das Anderswo. Hier hatte man das Gefühl, weit weg von den beruflichen Anforderungen zu sein. Mit dem Office im Home ist die Wohnung kein erholsames Anderswo mehr. Wenn der alltägliche Stress nicht abgebaut werden kann und in chronischen Stress übergeht, nimmt die Anfälligkeit für psychische und psychosomatische Beschwerden und Erkrankungen rapide zu.
Was wäre also zu tun, wenn in Zukunft das Homeoffice zu einem nicht geringen Teil oder auch weitgehend das traditionelle Modell des Arbeitens im Büro ersetzt? Die künftige Wohnbau- und Stadtplanung müsste so angelegt sein, dass Wohnungen und Wohnumgebungen zu dieser neuen Lebensform passen, so dass sich eine optimale Work-Life-Balance, die mehr ist als ein bloßes Schlagwort, herausbilden kann. Die neue Leitvorstellung lässt sich folgendermaßen umreißen: Wohnumgebungen sollten soziales Leben ermöglichen, sie sollten anregend und erholsam sein.
Abgesehen von den Wohnungen selbst, die so konzipiert sein sollten, dass dort ungestört gearbeitet werden kann, was in Wohnungen mit nutzungsoffenen, teilbaren oder abtrennbaren Räumen eher machbar ist, muss vor allem das Umfeld der Wohnung in den Blick genommen werden.
Der hohe Wert der Zwischenräume
Hier muss sich einiges ändern. Abstandflächen und hier und da ein Grünstreifen reichen nicht. Die Zwischenräume zwischen Wohnung, dem privaten Bereich, und dem öffentlichen städtischen Raum müssen als Kompensationsflächen gesehen werden; sie sollten das bieten, was mit dem Einzug des Office ins Home entfallen ist: die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse nach Kontakt, Kommunikation und Zugehörigkeit, vielfältige Anregungen statt zu viel Gleichförmigkeit und Monotonie und Möglichkeiten, sich zu erholen.
Theoretischer Ansatzpunkt ist das umweltpsychologische Konzept der Territorialität und die Differenzierung räumlicher Bereiche in primäre, sekundäre und öffentliche (tertiäre) Territorien. Je nach Bereich sind Zugangs- und Nutzungsrecht und die Dauer der Inanspruchnahme unterschiedlich. Die Wohnung ist primäres Territorium. Die territoriale Struktur der Wohnumgebung ist je nach Art der Bebauung, dem Gebäudetyp und der Siedlungsform unterschiedlich. Eingangsbereiche und Treppenhäuser in einem Mehrfamilienhaus sowie Gemeinschaftsgärten sind sekundäre Territorien, Parks und Plätze im öffentlichen Raum, zu denen jeder Zutritt hat, sind öffentliche Territorien.
Der Begriff des »territorial functioning« (territoriales Funktionieren) bezeichnet eine räumliche Struktur, in der die drei Bereiche optimal aufeinander abgestimmt sind. Sekundäre Territorien als Übergangszonen zwischen der Wohnung und dem öffentlichen Raum sind in Wohnumwelten unverzichtbar. Wie wichtig sie sind, zeigen die Folgen, wenn sie fehlen. Ein Lehrbeispiel ist die Großwohnsiedlung Pruitt Igoe in St. Louis in Minnesota, die 20 Jahre nach ihrer Fertigstellung gesprengt wurde. Es war ein mediales Ereignis gewesen, doch die Lehre, die daraus zu ziehen war, geriet offensichtlich in Vergessenheit. Zu Beginn war die Gestaltung der Siedlung von der Architektenzunft auch deshalb gelobt worden, weil kein Platz für vermeintlich überflüssige räumliche Bereiche verschwendet worden war. Doch genau das war der große Fehler.
Die Folge war, dass es für die Bewohner/innen keinerlei Gelegenheiten gab, jenseits der Wohnungstür Kontakte zu den nebenan oder in der Nähe Wohnenden zu knüpfen, denn es fehlten die Übergangsbereiche zwischen privater Wohnung und öffentlichem Raum, in denen man sich hätte begegnen und kennenlernen können. Die Siedlung bestand aus monotonen gleichförmigen Wohnblöcken. An Erholung im Außenraum war überhaupt nicht zu denken. Stattdessen war es gefährlich, sich draußen aufzuhalten, wo Vandalismus und Vermüllung überhandnahmen und kriminelle Banden das Sagen hatten.
Zwar hatte es in Pruitt Igoe zweifellos noch weitere Faktoren gegeben, die zu dem Desaster beigetragen haben. Eine wichtige Erkenntnis war dennoch: Die Übergangsbereiche zwischen den privaten Wohnungen und dem öffentlichen Raum – die sekundären Territorien – dürfen nicht als unwichtig abgetan werden, als etwas, was eingespart werden kann, um möglicherweise noch mehr Bauflächen rauszuschlagen.
Im Zeitalter des Homeoffice werden diese Bereiche noch wichtiger. Von ihnen hängt es ab, ob die Wohnung ein sicherer Hafen bleibt, von dem aus man jederzeit wieder aufs offene Meer gelangen kann, oder ob sich die Wohnung samt Office eher in ein Gefängnis verwandelt, in dem man isoliert ist und sich auch so fühlt. Sekundäre Territorien haben gerade im Zeitalter des Homeoffice eine wichtige Funktion als soziale, anregende und erholsame Räume vor der Wohnungs- bzw. Haustür.
Eine Versammlung von Architekten und Stadtplanern, wie es sie in der vordigitalen Zeit, den 30er Jahren, gegeben hat, in der gemeinsam über die anzustrebende künftige Wohnbauarchitektur und Stadtplanung nachgedacht wurde, wäre wieder einmal angebracht. Ergebnis damals war die Charta von Athen, in der eine Trennung der Funktionen Wohnen und Arbeiten propagiert wurde. Was wir brauchen, ist eine aktualisierte Charta sowie Modellprojekte und Bauausstellungen, die sich mit dieser neuen Konstellation, der Aufhebung der Trennung von Wohnen und Arbeiten, auseinandersetzen und Lösungen entwickeln.
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