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© Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
 

Die Rückkehr der Angst

Es waren alarmierende Szenen, schon Ende Februar. Steine flogen gegen Busse, mit denen Rückkehrer aus Wuhan zur Quarantäne ins Sanatorium in der Ortschaft Nowi Sanschary gebracht werden sollten, etwa 300 Kilometer östlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die Ortsansässigen wollten keine Rückkehrer aus dem chinesischen Coronagebiet. Angst schlug um in Aggression. In einem Land, das zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Corona-Verdachtsfall hatte.

Tausend Kilometer weiter südlich: ein ganz anderes Land, ein ganz anderes Thema, aber wochenlang blanke Aggression. Auf der griechischen Insel Lesbos attackierten Einwohner Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Angestachelt von rechten Hetzern und Leuten, die man anderswo Heimatschützer nennen würde, werden sogar Schlauchboote zurück ins Meer getrieben. Eigentlich aus Wut gegen die eigene Regierung, aber ausgelassen an denen, die selbst unsäglich unter dem Wegducken in Athen und Brüssel leiden.

Zwei Beispiele dafür, dass sich gerade etwas ändert. Mal ist der Anlass bei sachlicher Betrachtung absurd, mal liegt ein echtes Problem zugrunde. Es wirkt aber, als sei das egal. Die Stimmung ist angstgetrieben, allerorten. Und es kommt ja tatsächlich einiges zusammen, was – zumal in einer sowieso chronisch angstbereiten Gesellschaft – für immer mehr Frösteln sorgt.

Da ist vor allem eine unkontrollierte weltweite Epidemie wahrhaft apokalyptischen Ausmaßes, die noch zehntausende Tote kosten wird und schon jetzt viel gesellschaftliches Leben lahm legt. Da ist nach wie vor aber auch eine Migrationsbewegung in Richtung Europa, die allenfalls zwischendrin mal zum Stillstand kommt.

Da ist eine Häufung rechtsradikaler Anschläge, die speziell mutige Politiker sowie Menschen mit Migrationsgeschichte bedrohen. Da ist eine Klimakrise, die mit gut klingenden »Zielen« politisch für eine Weile überdeckt wird, während manch eine Kommune dennoch demonstrativ den »Klimanotstand« ausruft. Da sind real regierende Rechtspopulisten, die schon jetzt die internationale Politik blockieren. Und inzwischen ist da auch ein Einbruch der Wirtschaft, der all das zusätzlich zu einer tatsächlichen weltökonomischen Rezession verobjektiviert.

Nun kommt es bei Notstandslagen immer darauf an, wie damit umgegangen wird: eingeschüchtert oder mutig, zurückhaltend oder offensiv, frustriert oder optimistisch. Die Grundstimmung diesbezüglich ist in der Tat gekippt – in einem Prozess, der sich seit einigen Jahren schon vollzieht und in dem rechte Populisten eine tragende Rolle spielen. Es ist ein Umschwung weg von einem nach außen gerichteten Fortschrittsoptimismus – hin zur Priorität der Selbstverteidigung.

Die Soziologen haben Angst als Treibsatz für politische Abwehrhaltungen in den modernen Gesellschaften fundiert und einleuchtend beschrieben: Gesellschaften, die einem ständigen und schon aus technologischen Gründen schwer überschaubaren oder gar individuell steuerbaren Wandel ausgesetzt sind. Die ungelöste Frage freilich bleibt, wenn nun die realen Bedrohungen immer noch weiter anwachsen: Wie verhindern wir, dass sich mit der Stimmung bald auch dauerhaft die gesamte politische Entscheidungslogik ändert und mit ihr die ganze Art des Zusammenlebens?

Beim Flüchtlingsthema war schon zu besichtigen, wie die EU mit brutaler Kaltherzigkeit die griechische Abschottungsstrategie stützte, nur um selbst nicht wieder auf die ungelösten internen Verwerfungen zurückgestoßen zu werden. Wie sogar die deutsche Regierung dann mit ihrem Versteckspiel hinter Brüssel offensiv Aufnahmeverhinderungspolitik betrieb, obwohl deutsche Kommunen geradezu händeringend Kapazitäten anboten.

Man müsse Bilder wie die von der türkisch-griechischen Grenze eben aushalten, schwadronierten die christdemokratischen Innenpolitiker, während die sozialdemokratischen lieber überhaupt nicht mehr öffentlich auftauchten. So ist es, wenn Angst die Humanität auffrisst. Griechenland mit einer der wenigen EU-Landesgrenzen Richtung Nahost darf sogar das international verankerte Recht auf Asyl aussetzen und wird dafür von der wendigen neuen EU-Chefin auch noch als Europas Schutzschild gepriesen.

Das Paradoxe an diesem eiskalten Spiel ist, dass zur Vertuschung der eigenen Handlungsblockaden kräftigst Abschottungsmacht demonstriert wird. Stand heute: Die Rechtsextremen haben in mancher Hinsicht längst gewonnen. Die größte Angst der Politik ist inzwischen, dass der Eindruck von Steuerungsverlust entstehen könnte. Dann schon lieber bitteres Durchgreifen an den Außengrenzen als noch einmal das verbreitete Gefühl, man habe die Lage nicht im Griff.

Analoges in dieser Hinsicht lässt sich im Anti-Virus-Krieg beobachten. Die realen Unsicherheiten sind riesig, die Forschung selbst ist noch ganz am Anfang und riskiert kaum präzise Prognosen. Also suchten alle von Beginn an die einigermaßen sicherste Seite. Die Politik folgt dann – im gewissen Unterschied zum Normalbetrieb, siehe Klimaschutz – bei Vorsorge- und Abwehrmaßnahmen wo immer möglich dem Mainstream der Vorschläge aus der Spezialistenwelt. Anfangs abwartend, ab März dann radikal eingreifend. Sicherheit zuerst, das ist dabei sehr umfassend zu verstehen: Sicherheit nicht zuletzt gegenüber möglichen Vorwürfen, Rechtsrisiken, Regressansprüchen.

Undenkbar bis vor ein paar Wochen: ein Durchregieren von oben, mit dem das gesellschaftliche Leben lahmgelegt und ganze Wirtschaftszweige an die Wand gedrückt werden. So viel reale Panikstimmung war nie, bei eher nur diskret erwähnten Hochrechnungen von bis zu 200.000 Toten alleine in Deutschland kein Wunder. Genaues weiß ja niemand. Panik zu vermeiden muss bei Katastrophen aller Art stets Teil der Strategie sein. Gut aus Sicht der Krisenstäbe, wenn dann teils mehr über Geisterspiele im Fußball diskutiert wird als über Horrorszenarien im sonstigen Leben.

In jedem Fall sind da Grundrechte berührt, beginnend bei der Bewegungsfreiheit. Und selbst falls es letztlich richtig gewesen sein wird, sie einzuschränken, um Leben zu retten, passiert das nun doch weitgehend ohne offenen, transparenten, die Verhältnismäßigkeit abwägenden öffentlichen Diskurs. Die zivile Katastrophe wird gesteuert wie eine militärische, von oben her. Es kann dabei aber auch kaum jemand etwas falsch machen. Wenn irgendwann alles vorüber sein wird, werden getroffene Maßnahmen rückblickend schnell automatisch Heldentaten gewesen sein.

Die Pandemie ist somit unversehens eine Stunde der – durch die Fachexperten präjudizierten – staatlichen Autorität, von der doch jahrzehntelang mit Grund behauptet worden war, sie sei im Schwinden. Ein Robert-Koch-Institut bestimmt die Leitlinien der Politik? Den Regierungen in Bund und Ländern ist es recht so. Die Stunde der Experten soll mindestens mal eine Stunde des Anscheins von Kontrolle sein. Das alles verändert Wahrnehmungen, aber es berührt zugleich die gewohnten Standards in Demokratie und Gesellschaft.

Die Steine, die in der Ukraine gegen die Rückkehrerbusse aus Wuhan flogen, sollten in Wahrheit signalisieren: Bleibt weg von uns. Ganz wie im Mittelalter, als Menschen mit ansteckenden Krankheiten (die es in diesem Fall noch nicht einmal gab) Aussätzige waren, aus der Gesellschaft Ausgegrenzte. Wer hatte nicht gedacht, diese Zeit sei lange vorbei? Und ein »Wir wollen Euch nicht« schleudert schließlich auch Griechenland den Flüchtenden entgegen.

Es ist unschwer vorherzusehen, dass im Zusammenhang mit Corona so manche Bestandsprüfung für die offene Gesellschaft erst noch bevor steht – zumal entschlossene Gelassenheit, wie sie eigentlich nötig wäre, eher selten zu erkennen ist. Wohl wahr: In dieser von so viel Nichtwissen und zugleich Lebensgefahr geprägten Lage Führungsverantwortung zu übernehmen und Orientierung zu geben, wie es stets Sache guter demokratischer Politik bleibt, ist unglaublich schwer. Andererseits: Der Siegeszug purer Selbstverteidigungsmentalität ins Politische hinein darf so beiläufig und unwidersprochen nicht weiter gehen.

Umso wichtiger wird, was im Zusammenhang mit den rechtsextremen Anschlägen immer vergleichsweise locker versichert wird: Wir dürfen uns unsere offene Lebensweise nicht zerstören lassen. Dies betrifft nicht nur die Gesellschaft nach innen, sondern genauso Offenheit und Solidarität nach außen. Beides lebt vom Austausch über Kulturgrenzen hinweg, nicht zuletzt durch menschliche Begegnung, also Reisen, national wie international. (Auch die Flugschamdebatte aus Klimaangst ist da zu eigensüchtig und unüberlegt.)

Nun stellen sich viele Fragen, die aus Sicht von Grenzschützern, Virusexperten oder Terrorismusbekämpfern nachrangig sein mögen, die aber im gesellschaftlichen Diskurs behandelt werden müssen. Weil gerade konsequenter Selbstschutz immer seinen Preis hat. Um mal ganz andere Bereiche zu betrachten: Selbst so zivile Handlungsfelder wie Denkmal- oder Datenschutz haben stets Nebenwirkungen, ökonomische und freiheitsrelevante. Meistens kann, manchmal muss man sie in Kauf nehmen. Aber die Abwägung vor der Entscheidung muss klar und bewusst passieren, demokratisch abgesichert obendrein.

Vieles spricht dafür, dass nach dem Ende solcher Herausforderungen die Regelungserwartung an die Politik eher steigen als weiter zurückgehen wird. Zu Recht. Schon nach der Finanzkrise war das so, nach der Mietenexplosion in vielen Städten auch. All die realen oder gefühlten Bedrohungen dieser Tage lehren eines auf jeden Fall: Das freie Spiel der Kräfte, sei es militärisch, materiell oder virologisch, führt zu Leid und Elend. Der neoliberale Glaube an den Selbstlauf der Dinge ist widerlegt, auf allen Ebenen.

Insofern ist die Forderung nach demokratisch legitimierter Gestaltung und Kontrolle gerade in einer offenen, multilateralen Welt nicht illusorisch. Gestaltung und Kontrolle freilich, mit denen das liberale und soziale Wertefundament verteidigt wird, statt es zur Disposition zu stellen, sobald die Lage schwierig wird. Und auf Erhalt bzw. Wiedergewinn der Fähigkeit abgezielt wird, mit den neuen Unsicherheiten in der globalisierten Welt solidarisch umzugehen.

Das sind die Felder, auf denen der Stresstest hinter all dem aktuellen Stress stattfindet. Er hat längst begonnen, er ist noch lange nicht – vielleicht nie – zu Ende. Die Rückkehr der Angst ist da wie ein Fieberthermometer. In welchem inneren Zustand sich die Gesellschaften in Zukunft befinden werden, wenn Wirkungen und Nebenwirkungen von Corona & Co hinter uns liegen: Es geht immer auch darum, schon jetzt. In jeder Krise, bei jeder Therapie.

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