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Zum 90. Geburtstag von Günter Grass Die Scham des Autors beim Schreiben

Könnte sich, gut zwei Jahre nach dem Tod von Günter Grass, unter seinem Nimbus ein »Anerkennungswandel vom Störenfried zum Nationaldichter« vollziehen? Oder ist nicht auszuschließen, dass die Wirkungsgeschichte dieses einflussreichen Künstlers und Intellektuellen auf absehbare Zeit von jenem Diskursdebakel bestimmt sein wird, das er 2012 mit seinem Gedicht »Was gesagt werden muss« ausgelöst hat? Dann wäre einem bedeutenden, kaum abschätzbaren Lebenswerk das Stigma des mehr oder minder verkappten Antisemitismus aufgeprägt. Hier gilt es aufmerksam zu sein, denn viel steht auf dem Spiel. Schließlich ist das Grass’sche Œuvre – kein feuilletonistisches Empörungsgewitter vermag daran etwas zu ändern – ein wichtiger Teil der noch jungen bundesdeutschen Demokratiegeschichte, es gehört gewissermaßen zu ihrem Wurzelwerk und hat viel dazu beigetragen, ein demokratisches Bewusstsein auszubilden. Grass ist nicht weniger als die literarische Komplementärfigur zu jenem sozialdemokratischen Kanzler, der mit der Intention antrat, »mehr Demokratie wagen« zu wollen.

Zweifellos gehören die Romane der »Danziger Trilogie« (Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre) zu den wichtigsten Prosawerken der deutschen Nachkriegsliteratur. Mitte der 60er Jahre wurden sie wahrgenommen als herausragende literarische Dokumente einer sich politisierenden jungen Republik, die gegen vielfachen Widerstand ihre historische Schuld und Scham ernst zu nehmen begann. Seither galt diese Abrechnung eines Deutschen mit den Deutschen als unvergleichlich, sowohl in politischer als auch in rein literarischer Hinsicht. Solche Bücher, hieß es damals auch in der jüdischen Rezeption, seien nach dem Roman Ulysses von James Joyce nie wieder entstanden. Grass habe den nazistischen Höllensturz mit rücksichtsloser Schärfe beschrieben und die »infernalische, menschenvernichtende Maschinerie« in einer Weise dargestellt, die von tiefem Verständnis für die Rolle der Juden in Deutschland geprägt sei. So die jüdischen Wochenzeitungen Irgun Olej Merkas Europa und Jedioth Chadashoth, die in der damaligen Bundesrepublik gleichzeitig eine geradezu verschwörerische Politik gegen die Bewältigung des Nationalsozialismus konstatierten.

Kritische Obsessionen

Umso befremdlicher fielen etliche Interpretationen und Debatten dahinter zurück, die Grass 40 Jahre später mit dem Antisemitismusvorwurf konfrontierten. Nach seinem Bekenntnis in dem autobiografischen Buch Beim Häuten der Zwiebel, einige Monate der Waffen-SS angehört zu haben, schien hinsichtlich des Antisemitismusvorwurfs fast jede Diskurs- und Geschmacksgrenze gegenüber Grass aufgehoben zu sein. Zwar wurde dem Autor der »Danziger Trilogie« schon in den 60er Jahren von George Steiner die »verschwommene Vorstellung« nachgesagt, »irgendwie habe das deutsche Judentum den Sturm selber heraufbeschworen«; im Grunde habe sich Grass vom »Infantilismus« der Hitlerjugend und den »Flegeljahren« der Flakhelfergeneration nie entfernt. Aber der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb ging 40 Jahre später viel weiter, als er meinte, bei Grass eine bis in die Gegenwart fortbestehende »Missachtung« jüdischer Menschen feststellen zu können, die zu keiner Zeit aufgesprengt worden sei. Vielmehr sei der Autor jeder »wirklichen Begegnung mit Juden und Judentum nach der Shoah« ausgewichen, habe allenfalls »jüdische Kunstfiguren, keine Juden« in seine Bücher eingelassen. Bei diesem Schriftsteller sei – wie einst im Männerbund der Gruppe 47 – ein »tief verwurzeltes Nicht-Nachempfinden jenen gegenüber (zu beobachten), die litten und starben«. Briegleb verstieg sich sogar in kritischer Obsession zu der Behauptung, in Grass sei letztlich noch jener aus heidnischen Tiefenschichten stammende »alte Teufel« wirksam gewesen, der den Juden verüble, den »Göttern Wotans« das Christentum aufgezwungen zu haben.

Solche Angriffe auf Grass haben seither Schule gemacht und sind tief in den Umgang mit seiner Person und seinem Werk eingedrungen. Vollends nach dem Gedicht »Was gesagt werden muss« von 2012 zeigten sich fast alle relevanten deutschen Medien einig in ihrem Verdikt gegen die »literarische Todsünde« des entlarvten Waffen-SS-Mannes. Nur wenige Einsprüche gegen diese Deutung waren damals vernehmbar, obwohl die enthemmte Debatte mit keiner Silbe in das zeittiefe Werk eines Schriftstellers hineinreichte, der sich wie kaum ein Zweiter in die von Schuld und Scham geprägte Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch Auschwitz vergraben hatte. Auch die (weltweite) Grass-Forschung, die die »Konfigurationen des Jüdischen« in seinem Werk gründlich untersucht hat, fand in dieser Debatte kaum Gehör. Dabei ist Grass’ Auseinandersetzung mit der Shoah gerade hier akribisch ausgemessen worden. Erinnert sei an die inneren Schuld- und Schamkämpfe des Täter-Opfers Oskar Matzerath, dieses »Ungeheuers«, das kein Selbstbild abgeben darf, sondern sich immer nur ein »zeitlich begrenztes Fallenlassen aller Verkleidung« erlauben kann. Oskar, das gedoppelte Autor-Ich, ist Ankläger und Beklagter zugleich. Die Blechtrommel ist der Roman eines Unhelden im fortwährenden Geständnisnotstand. Auf seiner Reise durch jenes »komisch-grauenhafte« Deutschland der nationalsozialistischen Ära und der frühen Bundesrepublik lernt er ein Land kennen, in dem die Heilige Nacht zur mörderischen »Kristallnacht« pervertiert ist, in der nicht der Weihnachtsmann erscheint, sondern unter »Blutgeruch« der Gasmann: »Ich glaubte, dass es nach Nüssen riecht und nach Mandeln. Aber es roch nach Gas. Geist und Gas.« Oskar kann am Ende nicht sagen, »wie man die Gashähne zudreht und abdrosselt; denn es strömt schon wieder Advent«. Der Mord an den Juden wird in diesem Roman zur Bankrotterklärung jedweder Christlichkeit.

Eine zugleich opfer- und tätergeschichtliche Phänomenologie der Shoa, die dem menschlichen Inferno Gesichter, Namen und Adressen gibt, liegt auch in Hundejahre vor. Dieser Roman, einst in paradoxer Form als »literarisches Ungeheuer« gerühmt, beschwört Warnbilder von der universalen Gewaltnatur der menschlichen Gattung herauf, die sich gerade gegenüber den Juden exzessiv entfesselt, vor der Drohkulisse des Konzentrationslagers Stutthof mit seinem »Knochenberg«. Bis in die Niederungen des Alltags durchzieht brauner Todesdunst, der Odem von Verfall und Verderben, die Welt der Grass’schen Protagonisten. In der Beziehung zwischen Eduard Amsel und Walter Matern, die eine Freundschafts- und Gewaltbeziehung ist, spiegelt sich die »negative Symbiose« zwischen Juden und Deutschen. Wölfische Brutalität ist dem Erzählgeschehen als Kennzeichen des Gegenwärtigen eingeschrieben, und die Logik einer Zivilisation, die Auschwitz nicht hat verhindern können, erscheint als missraten und gescheitert.

Dabei verweigert die Figurengestaltung in Grass’ Büchern keineswegs die »affektive Anteilnahme an individuellen Lebensschicksalen« von Juden. Nur vollzieht sich Grass’ Empathie mit den Opfern des Holocaust nicht als seelische Introspektion und psychologisierende Einfühlung, vielmehr in einer typisierenden Verhaltensform. Angesichts der Entmenschung, der Figuren wie Fajngold, Schmuh und Amsel ausgesetzt sind, möchte der im historischen wie psychologischen Sinn wahrnehmungsskeptische Autor mit seinem »Mutmaßungsstil« die Erinnerung an die Verstummten bewahren und ihren Geist beredt machen. Grass zeichnet seine jüdischen Figuren weder mit philosemitischer Herablassung, noch maßt er sich an, aus der Tiefe ihres Gefühlslebens zu sprechen, aber stets ergreift er für sie das Wort, anteilnehmend und eingedenkend.

Die Erinnerung an das Menschheitsdesaster Auschwitz – es liege nicht nur »hinter uns«, sondern auch »vor uns«, hat Grass gesagt – ist zutiefst mit seinem persönlichen, jahrzehntelang unausgesprochenen Schamgefühl verbunden. Erst in einem doppelten Schuldeingeständnis, heißt es einmal, »erkennen wir uns ganz«. Auschwitz umschreibt auch die »Schamschwelle«, die Grass nach dem Mauerfall von 1989 vor der Errichtung eines neuen deutschen Einheitsstaates glaubte aufrichten zu müssen: Erst Auschwitz habe die Deutschen dazu gebracht, die »Demokratie ernst zu nehmen, und Vorkehrungen zu treffen, dass sich so etwas nicht wiederholt«. In dieser Haltung kam – viel dringlicher als man bis dahin hatte ahnen können – die Auseinandersetzung mit der eigenen moralisch-intellektuellen Sozialisation zum Ausdruck, die seinen jugendlichen Weg in die Waffen-SS nicht verhindert, sondern sogar begünstigt hatte. Scham, hat Grass einmal gesagt, sei die Voraussetzung seines Lebenswerkes und jeder einzelnen Seite dieses Werkes; mit Auschwitz habe für ihn, aber nicht nur für ihn, eine neue Zeitrechnung der Menschheitsgeschichte begonnen. Dieses nicht nur historische, sondern mehr noch persönliche Stigma hat man gerade in Deutschland lange kaum wahrgenommen. Grass ist mehrfach zu Freundschaftsbesuchen nach Israel gereist und hat es an gelegentlicher politischer Kritik nicht fehlen lassen. Aber im Ganzen bezeugt sein Werk alles andere als Missachtung oder gar Feindseligkeit gegenüber den Juden und ihrem Staat, vielmehr eine geschichtlich und persönlich verankerte Verbundenheit, die dem Anspruch einer »Literatur nach Auschwitz« gerecht zu werden versucht.

Nach dem Streit um das Gedicht »Was gesagt werden muss« schrieb der israelische Soziologe und Historiker Moshe Zuckermann: »Günter Grass ist kein Antisemit (auch nicht ›objektiv‹ oder ›sekundär‹, wie es im armseligen deutschen akademischen Diskurs in den letzten Jahren zu diesem Begriff heißt).« Eine solche Verteidigung, die der vor 90 Jahren in Danzig geborene Autor der Blechtrommel eigentlich nicht nötig haben sollte, lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass der Begriff Antisemitismus durch seine inflationäre und banalisierende Verwendung das ursprünglich emanzipatorische und aufklärerische Potenzial allmählich einzubüßen droht und zuweilen sogar Gefahr läuft, zur Verdunkelung beizutragen.

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