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© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Nicolas Landemard

Szenarien für die Zukunft Polens und Ungarns innerhalb oder außerhalb der EU Die »schrecklichen Zwillinge« Mitteleuropas

Für die Europäische Union sind die Achtung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Beitrittskriterien, die über einen langen Zeitraum bei keinem der Mitglieder überprüft werden mussten. Doch in den letzten zehn Jahren machen sich die Institutionen der EU, aber auch große Teile der Öffentlichkeit in Westeuropa zunehmend Sorgen um den Zustand der Demokratie in Ungarn. Die »ungarische Frage« wurde zu einem neuen Studienfeld in der Politik- und Rechtswissenschaft. Daniel Kelemen, Professor an der US-amerikanischen Rutgers-Universität, betitelte etwa kürzlich einen Beitrag zu diesem Thema mit »Europe’s authoritarian cancer«, um klarzustellen, dass der Patient in Lebensgefahr schwebt und sich das Krebsgeschwür genauso gut auf andere Länder ausbreiten könnte.

Allerdings steht Ungarn seit 2015 nicht allein in der Kritik, sondern teilt sich das Rampenlicht in diesem Punkt mit Polen. So wandte die Europäische Kommission am 20. Dezember 2017 erstmalig Artikel 7 – der zur Aussetzung des Stimmrechts eines Landes in der EU führen kann – in Bezug auf die polnischen Justizreformen an. Am 12. September 2018 stimmte das Europäische Parlament (EP) dafür, Klage gegen Ungarn wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Grundwerte der EU einzureichen. Schon 2013 und 2018 hatte das EP das undemokratische Abdriften Ungarns in zwei Berichten untersucht und verurteilt.

Trotz der Bemühungen nicht nur der fortschrittlicheren politischen Kräfte, sondern auch des Europäischen Parlaments, ist es der EU als Ganzes nicht gelungen, Viktor Orbán wegen Korruption anzuklagen, obwohl der Missbrauch von EU-Mitteln enorme Ausmaße angenommen und sogar zu einer erheblichen Erosion innerhalb des Fidesz-Lagers geführt hat. Der Hauptgrund für dieses Scheitern war der Schutz durch die deutschen Christdemokraten, die die Einheit der EVP-Fraktion und vielleicht auch die deutschen Investitionen in Ungarn nicht gefährden wollten.

Angesichts der Entwicklungen in Ungarn – und später in Polen – war jedoch Nichtstun nach jahrelangen Debatten keine Option mehr. Im Rahmen der Haushaltsentscheidungen von 2020 hat die EU eine Rechtsstaatlichkeitsauflage für die Investitionsfonds der Gemeinschaft eingeführt und die Europäische Kommission hat damit begonnen, solche Mittel sowohl Ungarn als auch Polen vorzuenthalten. Endlich wurde verstanden, dass die Union Gefahr läuft, all ihre Bemühungen um die Förderung demokratischer Prozesse, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz, Solidarität und sozialen Dialog nicht nur in ihren Mitgliedstaaten, sondern auch in den Kandidatenländern zu diskreditieren.

Bei den ungarischen Parlamentswahlen 2022 hat die Regierungspartei Fidesz ihre große Mehrheit mit einem noch höheren Stimmenanteil als 2018 sichern können. Orbán-Sympathisanten sahen darin einen Beweis starker Legitimität, während die Kritiker dieses Ergebnis nur als einen weiteren Beleg dafür nahmen, dass das politische System in Ungarn manipuliert ist und es nicht einmal einem Sechs-Parteien-Bündnis gelingt, die Macht des Autokraten herauszufordern.

Regionaler Kontext der Autokratisierung

Kurz nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 2010 entwickelte sich Orbán zum schwarzen Schaf der EU-Institutionen und der internationalen Medien. Aber er inspirierte auch einige auf dem politischen Flügel rechts der Mitte. Seit 2015 hat er in der polnischen Regierung einen Verbündeten, der international ein viel größeres Gewicht hat. Gemeinsam prägen sie die gesamte Visegrád-Gruppe, insbesondere bei Themen wie Migration und Asyl. Die Extremen in der ungarischen und polnischen Regierung haben auf der anderen Seite jedoch auch zu einer Spaltung innerhalb der Visegrád-Gruppe beigetragen, denn Tschechien und die Slowakei haben nicht die Absicht, sich grundsätzlich gegen den EU-Mainstream zu positionieren.

Gleichzeitig baute Orbán durch die Ausweitung von Finanznetzwerken Allianzen mit Gruppen südlich von Visegrád auf, etwa mit dem rechtsgerichteten slowenischen Politiker Ivan Janez Janša und dem ehemaligen (und heute flüchtigen) Premierminister von Nord-Mazedonien, Nikola Gruevski. Wenn es dem westeuropäischen Lager Mitte-Rechts schon gelang, eine weiche Linie gegenüber Orbán zu fahren, so war das noch einfacher in Richtung des West-Balkans, wo das Modell einer »Stabilokratie« – autoritäre Führung, Nationalismus, neoliberale Wirtschaftsform, Demokratie nur als Mittel zum Zweck – locker toleriert wurde, ohne eine Strategie zu entwickeln, diese mittel- oder langfristig zu beseitigen.

Orbán inspirierte andere rechtsgerichtete Anführer in der Region nicht zuletzt, weil sie eine politische Wirtschaftsagenda teilten, die zum Ziel hat, die Ungleichgewichte zu korrigieren, die durch den Übergang in die Marktwirtschaft in den 90er Jahren entstanden waren, der in der ostmitteleuropäischen Region dazu führte, dass sich ein übermäßig großer Anteil der Wirtschaft heute in ausländischem Eigentum befindet.

Dies ist ein langfristiges Programm, unvollendet und nicht zu vollenden.In Ungarn war dies ursprünglich das Programm der extremen Rechten (beginnend mit dem bekannten Dramatiker István Csurka, der sich zu einem antisemitischen Politiker entwickelte), das Orbán zum Programm der Mitte-Rechten machte. Wirtschaftsnationalismus diente als Kitt für das autoritäre Programm in der Region, auch wenn er mit einer intensiven Zusammenarbeit mit multinationalen Unternehmen in der verarbeitenden Industrie durchaus in Einklang gebracht wurde.

Wichtig ist, dass die Europäische Volkspartei in diesen Jahren Orbán und seinen Anhängern einen Deckmantel gab. Trotz des Abbaus der Rechtsstaatlichkeit in einem EU-Mitgliedstaat blieb die EVP in einem Schutzmodus, um kein Mitglied zu verlieren. In den Anfangsjahren spielte die deutsche CSU eine entscheidende Rolle bei der Beschönigung der autokratischen Herrschaft von Orbán und drängte ihn nur in den Fällen zurück, in denen er zu extrem wurde, etwa bei der Diskussion über die Notwendigkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe. Orbán erfreute umgekehrt seine deutschen Verbündeten zum Beispiel damit, dass er sich für Sparmaßnahmen einsetzte, im Unterschied zu der vorangegangenen Periode, als Ungarn mit übermäßigen Defiziten zu kämpfen hatte.

Die osteuropäische Region verzeichnete vor der Omikron-Welle übrigens mehr als die Hälfte aller in Europa registrierten COVID-19-Todesfälle – obwohl sie nur 39 Prozent der Bevölkerung repräsentiert. Diese düstere Statistik spiegelt die schwache Gesundheitsinfrastruktur und die Folgen einer kontinuierlichen Ausblutung des medizinischen Personals wider. Im ungarischen Fall ist die hohe Sterblichkeitsrate auch die Folge davon, dass sich die Regierung auf die Machtsicherung konzentrierte, anstatt sich um die Bekämpfung der Pandemie zu kümmern und die notwendigen Informationen bereitzustellen. Die Rechte der politischen Opposition, der Sozialpartner und der Medien wurden zudem weiter beschnitten.

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hatte große Auswirkungenauf den ungarischen Wahlkampf 2022. Orbán spielte erfolgreich die »Friedenskarte« und die regierungsnahen Medien nannten die Opposition regelmäßig »Kriegsbefürworter«. Der Durchschnittswähler hatte den Eindruck, dass »Orbán uns aus diesem Krieg heraushalten wird, während die Opposition uns hineinziehen würde«. Dies war ein entscheidendes Argument.

Man wird sich im Westen fragen, warum die Ungarn in Erinnerung an 1956 nicht stärker auf die Invasion reagieren und mehr Solidarität mit der Ukraine zeigen? Bei einem genaueren Blick auf die ungarische Geschichte und Gesellschaft ist dies nicht schwer zu verstehen. Zweifellos war die sowjetische Militärintervention zur Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 brutal, aber die Annahme, dass alle weiteren Entwicklungen durch dieses dunkle Kapitel bestimmt würden, ist falsch. In der ungarischen Geschichte gab es mehrere heroische Aufstände und 1956 ist nur einer davon. Und die »goldenen Zeitalter« Ungarns waren meist mit Kompromissen mit den Kolonialmächten verbunden, Ende des 19. Jahrhunderts etwa oder in den 60er und 70er Jahren.

Erinnerung an 1956 mobilisiert nicht mehr

Wenn Sie die Ungarn fragen, welche die größten Tragödien für ihr Land im 20. Jahrhundert waren, würden eher rechts stehende Menschen den Ausgang des Ersten Weltkriegs nennen, mehr links stehende Menschen den Ausgang des Zweiten Weltkriegs (einschließlich des Holocausts). Im ersten Fall war Frankreich beteiligt und im zweiten Deutschland. 1956 reicht, was die Zahl der Opfer oder weitere Folgen anbetrifft, an beide Ereignisse nicht heran.

Die Erinnerung an 1956 schmerzt die Ungarn, aber sie hat in den letzten 30 Jahren selten große Menschenmassen mobilisiert. Vielleicht mögen die meisten Ungarn die Russen nicht besonders, aber sie relativieren die Dinge und schätzen die Möglichkeiten einer friedlichen und pragmatischen Zusammenarbeit. Die Beispiele Österreichs und der Türkei zeigen, dass es den Ungarn mehrmals gelungen ist, freundschaftliche Beziehungen zu Nationen aufzubauen, die zuvor als Besatzer und Unterdrücker aufgetreten sind.

Die ungarischen nationalistischen Ansichten nähren sich auch aus der Vorstellung, dass der Westen Ungarn 1945 auf der Konferenz von Jalta den Russen »übergeben« hätte. Damit hängt zusammen, dass der Westen, vor allem die USA, 1956 den bewaffneten Aufstand der Ungarn gegen die sowjetische Intervention zwar befürwortete, aber nicht unterstützte.

Dies wird mit der aktuellen Situation in der Ukraine verglichen. Wenn man die Bedenken der ethnischen Ungarn in der Ukraine dazunimmt, die sich in einer Phase des wachsenden ukrainischen Nationalismus kulturell unterdrückt fühlen, so ist es nicht schwer zu verstehen, warum die Klagen über Putin im jüngsten Wahlkampf verpufften, und warum die meisten Ungarn es vorziehen, sich aus dem Krieg zweier großer slawischer Nationen herauszuhalten.

Daher scheint das »revanchistische« Element, das sich seit Februar in Polen (und den baltischen Staaten) deutlich zeigt, in Ungarn scheinbar äußerst gering zu sein. Und im Falle eines Ölembargos hat Ungarn in der Wirtschaftsdebatte eine Position, die es ihm erlaubt, als Sprecher der »Binnenländer« aufzutreten. Inzwischen spielt Polen im Krieg nicht nur eine aktive Rolle, sondern auch eine strategische, als Aufnahmeland von Flüchtenden und als wichtiges Transitland für Waffenlieferungen. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Ungarn und Polen hätte nicht spektakulärer zerbrechen können.

Wahrscheinliche und unwahrscheinliche Szenarien

Aus heutiger Sicht sind mehrere Szenarien möglich. Die Entzweiung Polens und Ungarns könnte andauern, und Polen könnte seinen Einfluss aus der Zeit vor der PiS auf europäischer Ebene wiedererlangen. Das erforderte natürlich weitere Schritte zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz, was es wiederum der Europäischen Kommission ermöglichen würde, Mittel aus den Wiederaufbaufonds fließen zu lassen. Die polnischen und ungarischen Regierungsparteien blieben auch im Europäischen Parlament in getrennten Fraktionen. Polen würde in eine ähnliche Rolle finden, wie sie Großbritannien vor dem Brexit in der EU gespielt hatte.

Andererseits könnte die Spaltung zwischen Polen und Ungarn auch nur eine zeitlich begrenzte sein, insbesondere falls der Krieg bald endet und eine Einigkeit in der EU-Politik wieder leichter wird. Die EU reagiert auf verschiedene sich überschneidende Krisen mit einer erneuerten Vertiefungsagenda, die, insbesondere wenn es um den Übergang zu einer Steuer- und Sozialunion geht, den Widerstand der polnischen und ungarischen Rechten (möglicherweise mit einer aktiveren Beteiligung der tschechischen Machthaber) erneut anheizt, die in weiteren Debatten in der EU aufeinander angewiesen sein werden. Die schrecklichen Zwillinge mit einigen zusätzlichen Verbündeten spielen weiterhin ein europäisches Spiel, aber als vehemente Beschützer des »Europas der Nationen«.

In einem längerfristigen Szenario ist auch denkbar, dass sowohl Polen als auch Ungarn dem westeuropäischen Kern der EU entfremdet bleiben und sich auf die Ausgangstür zubewegen. Zwei Faktoren können dies auslösen: Zum einen, wenn sie und insbesondere Polen dank stetiger wirtschaftlicher Entwicklung ihre Nettoempfängerposition innerhalb des EU-Haushalts verlieren, und zum anderen, wenn ein stärkeres Engagement der Vereinigten Staaten in der osteuropäischen Geopolitik eine bessere Alternative bietet.

Wenn nur einer der beiden die EU verließe, ist die Frage, welches Landdas wäre. Aufgrund des Ausmaßes des Rechtsstaatlichkeitsproblems und der Anziehungskraft des Modells Putin könnte Orbáns Ungarn eher der Kandidat sein. Aber man kann auch an ein Ungarn denken, das mit oder ohne Orbán seine Beziehungen innerhalb des ehemaligen österreichisch-ungarischen Raums, aber auch mit Deutschland neu definiert und sein Verhältnis zur EVP wiederbelebt. In der Zwischenzeit würde Polen der isoliertere und entfremdete Spieler werden und in Richtung Austrittsoption abdriften, genau wie Großbritannien während der Regierungszeit von David Cameron sich selbst immer tiefer die Brexit-Grube schaufelte.

Und wir sollten last but not least ein Szenario nicht ausschließen, demzufolge sowohl Polen als auch Ungarn auf einen europhilen Weg zurückkehren. Dieses Szenario kann einer konservativen Version folgen, wie wir sie in Tschechien seit Oktober 2021 gesehen haben, oder in eine progressivere Richtung schwenken, ähnlich wie in Slowenien seit dem Frühjahr 2022. Da ein solches Szenario eine innenpolitische Dynamik voraussetzt, die sich dort in den nächsten Jahren womöglich nicht entfalten wird, bleibt genug Zeit um sich der Frage zu widmen, ob die erste Version eher für Polen und die zweite für Ungarn gilt oder umgekehrt.

Sicher ist, dass eine gleichzeitige proeuropäische Wende in Polen und Ungarn einen Bedeutungsverlust der derzeitigen Regierungsparteien Fidesz und PiS erfordern würde. Und dafür müsste das Glücksrad der Geschichte gleichzeitig in drei Schlüsselfeldern in die gleiche Position springen: in der Innenpolitik, den europäischen Beziehungen und dem größeren geopolitischen Kontext.

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