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Über die militärische Seite Europas Die Signale stehen auf Kooperation und Integration

»Wir leben in einer Zeit strategischer Überraschungen.« So beschrieb ein ehemaliger NATO-Oberbefehlshaber, US-Admiral James G. Stavridis, die Welt, in der wir seit dem Ende der alten Blockkonfrontation in Jahr 1990 leben: Gräuel auf dem Balkan, 9/11-Terror, Bürgerkriege, Krim-Annexion. Könnte auch eine weltweite Seuche so eine strategische Überraschung sein? Was, wenn eine Großmacht auf diese Weise versuchen würde, die geopolitische Machtbalance zu ihren Gunsten zu verschieben? Oder einer der üblichen Schurkenstaaten? Oder, wenn unbeabsichtigt ein Virus aus einem B-Waffenlabor entspränge? Nichts davon muss wahrscheinlich sein, um dennoch eine denkbare sicherheitspolitische Herausforderung darzustellen. Und selbst wenn, wofür viel spricht, alles mit natürlichen Dingen zugeht, könnte die gegenwärtige globale Viruskrise sicherheitspolitische Auswirkungen haben. »Möglicherweise«, schreibt Nora Müller von der Körber-Stiftung in einem aktuellen Policy-Paper, stehen etwa im arabischen Raum »politische Umwälzungen bevor, denn das Coronavirus könnte sich als Beschleuniger für die fatale Mischung aus schlechter Regierungsführung, grassierenden wirtschaftlichen Problemen und wachsendem Misstrauen zwischen Eliten und Gesellschaften erweisen«.

In einem Essay für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb schon 2016 der damalige Vorstandsvorsitzende der Münchener Rückversicherungsgesellschaft, Nikolaus von Bomhard, über die Risiken unserer Zeit: »Auch müssen wir davon ausgehen, dass es früher oder später nochmals zu einer weltweiten Pandemie kommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein entsprechend gefährliches Virus und die ›richtigen Umstände‹ zusammentreffen. Angesichts der Fülle von atomaren, biologischen und chemischen Waffen auf der Welt ist es leider auch absehbar, dass irgendwann Bestände hiervon in die Hände von Verbrechern oder Terroristen fallen. Es hilft nicht, vor solchen Szenarien den Kopf in den Sand zu stecken. Man sollte also besser Murphys Gesetz ernst nehmen, wonach alles, was schiefgehen kann, irgendwann auch schiefgehen wird.«

»Alles« – darauf kann keine Firma und kein Staat jemals komplett vorbereitet sein. Man plant ja gewissermaßen immer für den zuletzt geführten Krieg. Deshalb gilt umso mehr Bomhards Maxime: »Wer auf das prinzipiell Vorhersehbare vorbereitet ist, der hat die Hände frei für das wirklich Unvorhersehbare, wenn es denn passiert, wenn also ein echter Schwarzer Schwan landet.«

Im vergangenen Jahr habe ich in einem schmalen Buch zur deutschen Sicherheitspolitik (Deutschland und das Europa der Verteidigung, J.H.W. Dietz) einige Bedrohungen beschrieben, die für unsere strategische Voraussicht existenziell sein können: von der Klimakrise und ihren möglichen Auswirkungen (Unbewohnbarkeit, extreme Wetterereignisse, Migration, Ressourcenkriege, failed states) über die totale Digitalisierung und Vernetzung von allem und jedem (Cyberangriffe, Zerstörung kritischer Infrastrukturen), den dschihadistischen Terror gegen mehr oder weniger säkulare islamische Gesellschaften und die offenen Gesellschaften des Westens, die Hegemonialpolitik Chinas und seinen Rüstungswettlauf mit den USA bis hin zu hybriden russischen Aggressionsmustern (Georgien, Ukraine, Baltikum, Weißrussland) und Putins nuklearer »Deeskalationsschlag«-Doktrin.

Zwei geopolitische Prinzipien konkurrieren in unserer Gegenwart miteinander: wertegebundener Multilateralismus und aggressive Einflusssphärenpolitik, wobei im Moment die Initiative bei jenen Mächten zu liegen scheint, die sich letzterer verschrieben haben. Das gibt Anlass zur Sorge. Spannungen nehmen weltweit eher zu als ab: im Verhältnis Russlands zum Westen, der USA zu China, zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Lager in der islamischen Welt, zwischen Indien und Pakistan. Nationalismus und religiöser Fundamentalismus gewinnen an Kraft. Die Welt rüstet auf. Manche Wissenschaftler ziehen Vergleiche zu 1913.

Europa kann in dieser Lage eine positive Rolle spielen, wenn es als starker globaler Akteur auftritt. Strategische Autonomie für Europa bedeutet, auch dann handlungsfähig zu sein, wenn die NATO nicht als Ganzes betroffen ist. In Afrika oder im Nahen Osten muss es außer der NATO und den USA andere Akteure geben können, zum Beispiel in der Sahel-Region. Hier sollte die Europäische Union aus sich heraus handlungsfähiger werden.

Die Amerikaner haben eine Armee. In Europa haben wir – NATO und EU – 32 verbündete Armeen. Das wäre richtig viel militärische Power: mehr als 1,5 Millionen Soldaten! Aber es ist nicht eine Armee. Deshalb brauchen wir eine effektivere Organisation unser aller Streitkräfte. Es geht letztlich darum, die 32 unterschiedlichen Armeen, die nach 1990 jeweils für sich national drastisch verkleinert wurden, nach und nach zu einem funktionsfähigen Ganzen zusammenzufügen. Oder erst einmal die vielleicht 20 Armeen, die schon zusammengehen wollen. Dabei geht es wirklich nicht darum, das transatlantische Bündnis zu ersetzen, es geht um Komplementarität. Der Existenzgrund der NATO ist und bleibt die Verteidigung des Westens, klassischerweise die Verteidigung Europas. Im Übrigen gehört dazu natürlich eine eigenständige europäische Wehrtechnik.

Wir sollten uns jetzt auf das konzentrieren, was praktisch möglich ist – und auf die normative Kraft des Faktischen: Je mehr es Verbindungen und Verbindlichkeit im Militärischen gibt, desto mehr muss man auch politische Einigkeit herstellen. Indem wir die Fähigkeiten verschmelzen, wird das Bewusstsein für die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns größer. Deutschland hat dabei eine besondere Verantwortung. Viele Nationen in Europa wollen vor allem mit uns enger zusammenarbeiten.

Tatsächlich hat die Gründung einer europäischen Armee längst begonnen. Vielen ist bewusst, wie uneffektiv unsere sicherheitspolitische Kleinstaaterei heute ist. Wir können die große Aufgabe der militärischen Integration etwa mit der Einführung des Euro vergleichen. In den 70er Jahren hat man erste Beschlüsse gefasst, die Währungen aufeinander zuzubewegen. Das neue Geld kam dann 2002. Das berührte elementar das Souveränitätsverständnis der Staaten, weshalb es eine Generation dauerte. Jetzt aber ist unsere Gemeinschaftswährung etwas ziemlich Selbstverständliches, so wie es vielleicht 2050 die Armee der Europäer sein wird.

Dafür müssen wir nicht schon 2020 den Einigungsvertrag über die Gründung einer europäischen Armee aushandeln, sondern wir sollten heute so viel europäische Praxis wie möglich etablieren. Wir brauchen Inseln funktionierender Kooperation. Diese Inseln werden nach und nach größer, sie wachsen zusammen und bilden irgendwann Festland. Dann wird der Zeitpunkt kommen, an dem man sich über einen Vertrag und einheitliche Regeln für Europas Militär unterhalten muss. Im Moment sollte man das noch nicht tun. Die Zusammenarbeit muss wachsen. In der Praxis gibt es schon mehr Fortschritt als gemeinhin wahrgenommen. Wir sehen drei parallel laufende Prozesse: Da ist erstens das von Deutschland initiierte Framework Nations Concept (FNC) der europäischen NATO-Armeen. Es zielt darauf ab, die Zusammenarbeit der NATO-Mitglieder in Europa zu stärken.

Zweitens gibt es auf EU-Ebene PESCO, die Permanent Structured Cooperation, die im Vertrag von Lissabon schon angelegt war, aber erst gesondert aktiviert werden musste. Katalysator für den Wunsch, europäische Handlungsfähigkeit in der Verteidigungspolitik zu demonstrieren, war die Brexit-Entscheidung 2016. Inzwischen beteiligen sich 25 EU-Mitglieder an PESCO. Auch hier geht es wie beim FNC um Projekte der Zusammenarbeit und um die Standardisierung von Ausrüstung, Training und Organisationsstrukturen.

Drittens gibt es die bi- und multinationalen Kooperationen. Dieser Pfad der Europäisierung scheint inzwischen am weitesten fortgeschritten. Es handelt sich um Integrationsprojekte wie etwa das gemeinsame belgisch-niederländische Marinehauptquartier oder die Eingliederung zweier niederländischer Heeresbrigaden in die 1. und die 10. deutsche Panzerdivision. Das Europäische Lufttransportkommando in Eindhoven koordiniert schon heute jeden Tag Luftwaffenverbände aus sieben Nationen. Immer mehr Ausbildungseinrichtungen werden multinational, vom Gebirgsjägertraining über die U-Boot-Schule in Eckernförde bis zur Hubschrauberausbildung. Der militärische Megatrend heißt Europäisierung.

Wir Europäer wollen uns für eine multipolare, wertegebundene, regelbasierte Weltordnung stark machen. Und Stärke wird jetzt eben auch wieder eine militärische Kategorie, Betonung auf »auch«. Tatsächlich müssen wir die realen Bedrohungen sehen und rational diskutieren. Dabei sollten wir nicht mit falschen Bildern der Vergangenheit hantieren. Wir haben inzwischen ein breites Verständnis von Konfliktlagen in der Welt. Auch im Inneren sind unsere demokratischen Gesellschaften herausgefordert: durch Populismus, Autoritarismus, Antisemitismus, Rassismus und eine neue Art Fake-News-Globalisierung. Und wie die Corona-Krise das politische Denken verändert wissen wir noch gar nicht.

Das Wichtigste für Europa ist heute, Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Rationalitäten auf ehrliche Weise zu thematisieren. Phrasen wurden genug gedroschen. Am weitesten auseinander aufgrund ihrer Geschichte, der strategischen Kulturen und der objektiven Gegebenheiten scheinen hier Deutschland und Frankreich zu sein. Aber beide haben den Willen sich zu einigen. So steht es zum Beispiel im Aachener Vertrag von 2019, dem neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, der unter anderem einen deutsch-französischen Sicherheitsrat ins Leben gerufen hat. So diskutiert es auch die neue deutsch-französische Parlamentarische Versammlung.

Frankreich ist Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht, hat Atomwaffen und ein verflossenes Kolonialreich mit 40 Staaten weltweit im Rücken, in denen Französisch gesprochen wird. Die Lage Deutschlands ist eine komplett andere. Wir haben versucht, unsere furchtbare Vergangenheit glaubwürdig aufzuarbeiten. Uns wird heute in der Welt die Funktion des ehrlichen Maklers zugetraut. Wir haben einen guten Ruf, auch weil wir eine Kultur militärischer Zurückhaltung als Lernerfahrung aus unserer Geschichte pflegen. Wenn wir in Deutschland über militärische Integration sprechen, ist unsere erste Frage, wie wir verbindliche Strukturen schaffen können, die die Notwendigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt so unwahrscheinlich wie möglich machen.

Die Franzosen dagegen stellen zuerst die Frage, wie Strukturen aufgebaut werden können, mit denen ihre eigenen militärischen Interventionsaufgaben weltweit Unterstützung durch andere erfahren können: Frankreich führte ja schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg in Übersee Kolonialkriege, die ausgesprochen opferreich waren.

Alle politischen Signale stehen heute auf Integration und Kooperation. Man muss nur erst einmal anerkennen, dass wir aus unterschiedlichen Positionen auf die Bedrohungen und Gefahren der Gegenwart schauen. Ein großes Problem wäre, keine Partner zu haben, mit denen wir uns streiten und einigen können.

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