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Digitalisierung, Sozialdemokratie – und der Wunsch nach einer »lebenswerten Zukunft« Die sozialdigitale Revolution gestalten

»Technik ist nicht neutral«, schreibt Thorsten Schäfer-Gümbel, Landesvorsitzender der hessischen SPD und zugleich stellvertretender Bundesvorsitzender der Partei, in seinem aktuellen Buch Die sozialdigitale Revolution. »Sie wird häufig als kühl, nüchtern und unvoreingenommen dargestellt, aber insbesondere wenn sie von Daten lebt und mit Texten, Fotos, Videos oder Sprachaufnahmen gefüttert wird, um Muster aus dem menschlichen Verhalten für ein eigenes, automatisiertes Regieren ableiten zu können (…), dann werden menschliche Werturteile auf algorithmische Prozesse übertragen.« Dem Autor geht es weniger um einzelne Antworten auf die Frage, was man dagegen tun sollte oder tun kann, vielmehr will er »einen Beitrag dazu leisten, dass uns allen die Bedeutung des Wandels klarer wird, der nicht bloß als industrielle, sondern vielmehr als sozialdigitale Revolution verstanden werden muss«.

Doch sollte diese »Zustandsbeschreibung« dem viel wichtigeren Ziel dienen »wieder in einen Gestaltungsmodus (zu) kommen«, appelliert Schäfer-Gümbel, und zwar parteienübergreifend, wenn es notwendig ist. Beispielsweise bei der Frage des autonomen Fahrens, das seiner Ansicht nach den Verkehr auf unseren Straßen deutlich sicherer machen wird. 2017 sind bei Auto-, Motorrad- und Fahrradunfällen 3.177 Menschen ums Leben gekommen: »Die Toten sind ein Kollateralschaden unseres Wunsches, sich jederzeit flexibel und individuell fortbewegen zu können.« Autonomes Fahren sei der Weg, die Opferzahlen deutlich zu reduzieren, aber nur wenn sämtliche Fahrzeuge autonom fahren, gesteuert von Computern und Algorithmen, die Tempolimits einhalten und potenzielle Gefahrensituationen im Blick haben. Alkoholeinfluss scheidet ja hier automatisch aus. »Bis zum Jahr 2025«, so die Vorhersage von Schäfer-Gümbel, »werden wir das autonome Fahren in Deutschland in einem Gesetz geregelt haben«. Abgestimmt wird fraktionsoffen und nach eigenem Gewissen. Doch das, dessen ist sich der Autor sicher, erst nach einer »leidenschaftlichen und vom Ethikrat vorbereiteten und von zahlreichen Organisationen und Initiativen begleiteten Debatte«, denn die Umstellung würde die Gesellschaft kolossal verändern.

Ähnlich übrigens wie Algorithmen und automatisierte Entscheidungshilfen. Diese bergen auch neue Risiken: »Wird ein Täter verurteilt, errechnet ein Computerprogramm mithilfe eines ›Risk Score‹, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls ist.« Wollen wir das? Schäfer-Gümbel antwortet: »Ich will es nicht.« Aber darum ginge es nicht. Es gehe um den Versuch, der »uns Aufschluss über das technische Potenzial und die Rahmenbedingungen für den Einsatz im Ernstfall geben kann und verdeutlicht, was korrigiert werden muss«. Aus diesem Grund sei der Modellversuch am Berliner Bahnhof Südkreuz, bei dem Kameras zwölf Monate lang rund 300 Testpersonen unter den Passanten bis Ende Juli 2018 identifizierten, seiner Meinung nach richtig.

Bei der Suche nach geeignetem Personal kann durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz Zeit eingespart werden: »Vor allem für große Konzerne, die Tausende von Bewerbungen im Jahr erhalten, ist das eine Arbeitserleichterung.« Die Maschinen könnten beispielsweise sehr gut eigenständig das Netz und Social-Media-Profile durchsuchen und passende Kandidatinnen und Kandidaten vorschlagen, die selbst womöglich noch gar nichts von der vakanten Stelle wüssten. Werden Personaler und Personalerinnen dadurch überflüssig? Mitnichten: Sie können die so gewonnene Zeit für persönliche Gespräche nutzen. »Kein Algorithmus ersetzt ein persönliches Gespräch«, denn der »Mensch muss die finale Entscheidung treffen«. Standardisierung durch Digitalisierung sei keine Antwort auf die anstehenden Fragen.

Transparenz und Selbstbestimmung

»Technologie ist spannend, weil sie mehrere Probleme löst«, meint Schäfer-Gümbel. Sie würde nur dann zur lebenswerten Zukunft führen, wenn technologische Innovationen »den Menschen dienen und sozialen Fortschritt auslösen«. An neuralgischen Punkten bräuchte man Transparenz und Selbstbestimmung der Nutzerinnen und Nutzer bzw. Bürgerinnen und Bürger, wie beim Datenschutz, wo man Menschen sensibilisieren solle, zu verschlüsseln oder sparsam mit den eigenen Daten umzugehen. Lösungen könnten lauten: Dateneigentum, obwohl oft nicht leicht zu klären sei, wem welche Daten gehören; eine Regelung zum Beschäftigtendatenschutz; ein »One Pager« ‒ eine einseitige Zusammenfassung wichtigster Punkte der jeweiligen Allgemeinen Geschäftsbedingungen – oder ein Digitalministerium.

Sinnvoll wäre es aus der Sicht Schäfer-Gümbels, die »Plattformkonzerne zu einer Öffnung ihrer Daten, Algorithmen, Indizes, Quellcodes und Betriebssysteme zu zwingen, um es anderen Unternehmen zur Verfügung zu stellen« – nach dem Vorbild des deutschen Schienen- bzw. Telekommunikationsfestnetzes. Gegen Scoring, Datenerheben und Sammeln von Daten, die »zu Propaganda, Fehlinformationen, Steuerung und Überwachung führen«, müsste es gleichwohl irgendwie gelingen, im 21. Jahrhundert »die Sicherheit in unserem demokratischen Staat« zu gewährleisten. »Die Meinung der Kritiker, denen zufolge es grundsätzlich keine Vorratsdatenspeicherung geben dürfte, teile ich (…) nicht«, bemerkt der Autor, und mit Internetkriminalität befasste Beamtinnen und Beamten sollten »die zur Verfügung stehenden strafrechtlichen Werkzeuge nutzen können, was bisher nicht gewährleistet ist«.

Entschieden ist er gegen Grundeinkommen und für das aus der Schmiede von Andrea Nahles stammende Konzept des sogenannten Chancenkontos: ca. 20.000 Euro einmalig, pro Kopf und über die gesamte Lebensdauer. Damit bei diesen Chancendimensionen eine Meisterprüfung, die bis zu 25.000 Euro kosten kann, nicht zu Überschuldung führt, sollten »Kita, Meister, Master« kostenlos sein. Auf das Leben im 21. Jahrhundert sollten Schulen und Universitäten besser vorbereiten, so beispielsweise mit Projektunterricht oder Coden lernen, denn »Gymnasien müssen endlich auf den Arbeitsalttag vorbereiten«.

Aber auch mit sanierten Toiletten und besser ausgebildeten Lehrkräften, was durch die Lockerung des sogenannten Kooperationsverbots in Artikel 104c des Grundgesetzes, das dem Bund vorher untersagte, Bildungsmaßnahmen in den Ländern zu finanzieren, ermöglicht wird: Bildung sei das zentrale Thema und Akademiker nicht »die Krönung der Bildungsschöpfung«. Den Ländern würden zwar die finanziellen Mittel fehlen, doch mit der Finanzierung innovativer Ideen und Konzepte gäbe es keine Probleme, wenn »Google, Amazon, Apple, Starbucks und andere internationale Konzerne auch nur annähernd ihren fairen Anteil an Steuern zahlen« würden. Solche Steuervermeidungsstrategien seien zwar legal, jedoch nicht legitim, so Schäfer-Gümbel. Deswegen solle das Problem auf internationaler Ebene angepackt werden, etwa mit einer europaweit zuständigen Steuerbehörde, die noch zu gründen sei, sowie mit einem reibungslosen Austausch von Informationen zwischen den nationalen Steuerbehörden. Wenn es um die Finanzierung der künftig notwendigen Bildung geht, müsse man auch noch einmal über die Verteilung von Geld sprechen, appelliert der Politiker.

Was kann die Politik tun?

Die Erwartungen an die frühere »Internet-« oder »Datenschutz-Partei«, wie die SPD noch in den 90ern gerne genannt wurde, sind sehr hoch. Diesen Anspruch stellt der Autor auch gleich im Klappentext: »Keine andere Partei ist in einer solchen Weise dazu aufgerufen und in der Lage, die politische Aufgabe zu erfüllen, welche die sozialdigitale Revolution uns stellt«. Mit Mainstream-Lösungen sind diese Erwartungen vermutlich nicht zu befriedigen. Und die Strafe der enttäuschten Wählerinnen und Wähler kann, wie die Geschichte lehrt, wahrlich furchtbar sein.

»Lassen Sie uns zeigen, dass es ›die Politikerinnen und Politiker‹ nicht gibt, sondern dass wir sachlich und respektvoll um die richtigen Antworten ringen«, appelliert Thorsten Schäfer-Gümbel ‒ auch an die anderen demokratischen Parteien.

Das dürften zugleich die wesentlichen Erkenntnisse aus diesem Buch sein: Angesichts des Tempos und der Komplexität der Veränderungen hat auch der Autor keine abgeschlossenen Antworten und die Zeit sei angebrochen, »im Sinne des Gemeinwohls zu agieren und nicht nur zu reagieren«. Und man wird dafür, um den US-amerikanischen Sicherheitsguru Bruce Schneier zu paraphrasieren, mehr Menschen mit technischem Verständnis benötigen, die sich an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligen.

Thorsten Schäfer-Gümbel: Die sozialdigitale Revolution. Wie die SPD Deutschlands Zukunft gestalten kann. Murmann, Hamburg 2018, 199 S., 20 €.

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