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© picture alliance / Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa | Sebastian Willnow

Die SPD auf der Suche nach sich selbst – eine Zwischenbilanz

Bei der Bundestagswahl 1998 erzielte die SPD einen Zweitstimmenanteil von 40,9 %. Knapp 20 Jahre später, bei der Bundestagswahl 2017, war dieser Wert auf 20,5 % abgesunken. Wiederum ein Jahr später, im Herbst 2018, rutschten die Sozialdemokraten bei der sogenannten Sonntagsfrage auf 14 %; seitdem bewegen sie sich in den Umfragen in einem schmalen Korridor zwischen 13 und 16 %.

Der Abstieg der SPD manifestiert sich nicht nur auf der Bundesebene. Auch auf Kommunal- und Länderebene sind die SPD-Anteile in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch zurückgegangen. Ausnahmen von diesem generellen Trend finden sich in Ländern wie Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen, in denen die SPD erfolgreich zur fest verwurzelten Landespartei mutiert ist und so ihre Rolle als regionale Führungskraft verteidigen konnte. In Ländern wie Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt befinden sich die Sozialdemokraten nicht erst seit den Landtagswahlen in diesem Jahr in einem sehr schwierigen Umfeld.

Die SPD ist in weiten Teilen verunsichert und ratlos: Wie ist es dazu gekommen? Gibt es Wege aus dieser bedrohlichen Lage? Kolleginnen und Kollegen aus dem wissenschaftlichen, journalistischen, aber auch aus dem politischen Bereich haben eine dringend notwendige Diskussion über die SPD und ihre prekäre Lage in Gang gebracht. Ausdruck davon ist der Bericht »Aus Fehlern lernen«, der im Jahr 2018 der Parteiführung vorgelegt wurde. Unser Beitrag soll diese Diskussion durch einige Anmerkungen erweitern.

Mittlerweile scheint es unstreitig zu sein: Der Schwenk zur »Agenda-Politik« durch Gerhard Schröder und die damalige SPD-Führung führte zu einer »Markenkernschmelze« der deutschen Sozialdemokratie. Die traditionelle Ausrichtung an Verteilungsgerechtigkeit, Wohlfahrtsstaatlichkeit und die Rolle von sozialdemokratischer Politik als Gegenmacht zu den »Marktzwängen« ist durch die Hinwendung zur bloßen Chancengerechtigkeit und ein neues Politikverständnis gemäß der Formel von Anthony Giddens »Politics with markets« abgelöst worden. Damit hat sich eine neoliberale Überwölbung der SPD vollzogen, die wir auch bei allen anderen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Europa in dieser Zeit beobachten und die in den meisten Fällen mit dem Niedergang dieser Parteien endete. Der SPD ist ein so dramatisches Schicksal durch die institutionellen Stützen des Verhältniswahlrechts und des deutschen Exekutivföderalismus erspart geblieben.

Die damalige Führung der SPD hat damit den zentralen Konsens der deutschen politischen Kultur einseitig aufgekündigt – übrigens ein Fehler, aus dem Angela Merkel sehr schnell und erfolgreich gelernt hat. Über alle Bildungsschichten, Berufs- und Altersgruppen, Parteiengrenzen und regionale Grenzen hinweg, mit erwartungsgemäß noch jeweils deutlich stärkeren Ausprägungen in Ostdeutschland, hängen die Deutschen seit den ersten sozialwissenschaftlichen Erhebungen auf diesem Feld mit Mehrheiten zwischen 60 und 80 % einem klassisch sozialdemokratischen, extensiven Wohlfahrtsstaatsmodell an. Man kann das gut oder schlecht finden: Die deutsche politische Kultur weist schon immer eine starke egalitäre und wohlfahrtsstaatliche Grundierung auf. Mit dem Ausstieg aus diesem fundamentalen Konsens unterlief der SPD-Führung eine verhängnisvolle Fehleinschätzung. Diese schuf und stabilisierte zunächst eine neue gesamtdeutsche linke Partei und sie zog in der Folge bittere Enttäuschungen und Entfremdungen sowie wachsende politische Apathie vor allem bei bisher stabil sozialdemokratisch wählenden Milieus nach sich. Die »Agenda-Politik« ist seitdem eine ständige Begleiterin der SPD geblieben, denn Umbrüche in einer Partei können sich in einem Begriff als symbolische Kürzel verdichten. So ist »Godesberg« ein solches symbolisches Kürzel, das komplexe und mehrheitlich positive Assoziationen zur Entwicklung der SPD in der Bundesrepublik freisetzt. Auch »Agenda-Politik« und »Hartz IV« sind inzwischen symbolische Kürzel, wenngleich sie negativ konnotiert sind. Sie stehen für den Rückzug der SPD aus ihrer klassischen sozialen Schutzfunktion. Sie stehen (zu recht oder unrecht) für den drohenden Absturz vieler Menschen ins Prekariat. Diese Reizbegriffe wirken bis heute fort.

Erstaunlicherweise führten auch schwerste Wahlniederlagen der SPD wie die von 2009 mit ihrem Absturz auf 23 % nicht zu politischen Kurskorrekturen. Damit verloren die Wahlen ihre wichtige Informationsfunktion. Zwar prägten auf der Führungsebene immer wieder persönliche Rivalitäten und Ränkespiele das öffentliche Bild der Partei in den Jahren nach Gerhard Schröder, aber zu einer systematischen Aufarbeitung der »Agenda-Politik« und ihrer Folgen kam es lange Zeit nicht. Es existierte auch keine innerparteiliche Gegenelite mehr als kritisches Forum. Die stets streng angemahnte Maxime innerparteilicher Geschlossenheit erwies sich als wirkungsvolles Instrument, um dringend notwendige ideologisch-inhaltliche Veränderungen schon im Ansatz zu unterbinden. Erst nach der Wahlkatastrophe von 2017 ließ die Parteiführung von einer Gruppe wissenschaftlicher, journalistischer und praxiserprobter Expertinnen und Experten die oben schon erwähnte Analyse mit dem Titel »Aus Fehlern lernen« erstellen. Soweit sich das erkennen ließ, änderte sich freilich nichts an den Problemen, die zuvor in der Analyse bemängelt worden waren. Auch der nach dem Rückzug von Andrea Nahles aus der Politik eingeleitete Versuch, der Partei im Spätsommer 2019 durch ein Mitgliedervotum zumindest einen personellen Neuanfang zu verschaffen, führte nicht zu der erhofften Klarheit. Zwar konnten sich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Kritiker des Parteiestablishments positionieren und sich gegen Klara Geywitz und Olaf Scholz durchsetzen, aber der Sieg vermittelte nicht den Eindruck eines starken Aufbruchs.

Im Gegensatz zu zahlreichen Autoren, die in verschiedenen Variationen das berühmte Diktum von Ralf Dahrendorf vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters ins Feld führen, sehen wir in den Einkommens- und Vermögensunterschieden, in vielfältigen Prekarisierungstendenzen, in Alters- und Kinderarmut, in der immer bedrückenderen Wohnungskrise, in den Integrationsproblemen im Zeitalter der Migration, in den durch Corona zutage getretenen unterschiedlichen Bildungszugängen und schließlich auch in den großen Herausforderungen der Digitalisierung, den Transformationsprozessen in der Arbeitswelt und des Klimawandels handfeste Indizien für die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit eines neuen sozialdemokratischen Zeitalters. Selbstverständlich ist dies kein nationales Projekt mehr. Es schließt über die europäische Verankerung weltweite Bezüge ausdrücklich ein. Aber dennoch gilt: In Deutschland erfordert dieses neue sozialdemokratische Zeitalter eine SPD, die wieder zur sozialdemokratischen Tradition zurückkehrt und sich von dem ruinösen Credo der Marktkonformität wieder zu einem Ansatz der Dekommodifizierung bewegt. Die Herausforderungen unserer Gesellschaft brauchen die Rückkehr zu einer neuen Staatlichkeit, wie die Verwundung unseres Zusammenlebens durch die Corona-Pandemie schmerzhaft vor Augen führt.

Der Weg aus der Krise wird nicht in einigen kurzen Monaten bewältigt werden können, aber der Start sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden. Drei Schritte sind dabei unverzichtbar: Eine auch in der Öffentlichkeit als unmissverständliche Wende wahrgenommene Rückkehr ins sozialdemokratische Feld, die Wiederbelebung der Partei als eine teilhabeorientierte, gesellschaftlich verankerte Bewegungspartei und die Entwicklung einer Strategie zur Rückgewinnung der Kampagnenfähigkeit. Wir haben in unserem Buch zur Lage der SPD (Zwischen Selbstaufgabe und Selbstfindung) zu jedem dieser drei Schritte eine Reihe von praktischen Maßnahmen vorgeschlagen bzw. auf Projekte hingewiesen, die schon vorher im Raum standen, aber nach unserer Einschätzung nur unzureichende Beachtung erfahren haben.

Eine Re-Traditionalisierung der SPD bedeutet dabei gerade nicht ein einfaches »Zurück in die 70er Jahre«. Es geht vielmehr darum, die die Sozialdemokratie prägenden Traditionen für die neuen Herausforderungen zu übersetzen. Dabei muss man sich im Klaren sein, dass programmatische Veränderungen und daraus folgende Maßnahmen die politischen Erwartungen an die Sozialdemokratie in der Vergangenheit systematisch enttäuscht haben. Um also den Handlungskorridor halbwegs verlässlich beschreiben zu können, in dem sich sozialdemokratische Politik bewegen sollte, haben wir auf das Konzept des politischen bzw. des sozialdemokratischen Feldes zurückgegriffen, das aus der Ideenwerkstatt des französischen Soziologen Pierre Bourdieu stammt. Das Feld ist – so Bourdieu – ein thematisch festgelegter Raum, in dem sich verschiedene Akteure über längere Zeit hinweg nach gemeinsamen Regeln miteinander befassen. In unserem Fall ging es um die Frage, was hat in den letzten Jahrzehnten die Sozialdemokraten insgesamt ausgezeichnet? Haben sich das Politikverständnis, die Werthaltungen, das politische Handeln, aber auch die Adressaten des Handelns verändert? Natürlich hat sich auf dem sozialdemokratischen Feld im Lauf der letzten Jahrzehnte immer wieder viel verändert. So ist der Kreis der Adressaten größer und bunter geworden; der politische Regelungsbedarf hat sich um ganze Politikfelder wie die Transformation der Arbeitswelt, die Digitalisierung und den Klimaschutz aber auch die Migrationspolitik erweitert. Dennoch ist der Werterahmen bei all diesen Veränderungen fast gleich geblieben. So sind Verteilungsgerechtigkeit und extensive Wohlfahrtsstaatlichkeit noch immer unverrückbare Bezugsgrößen und Normen auf dem sozialdemokratischen Feld.

Alle großen politischen Integrationsleistungen der SPD haben darauf beruht, die Bindungen ihrer Anhänger an die Partei durch kluge Fortschreibungen der sozialdemokratischen Narrative und durch eine entsprechende politische Praxis zu festigen und zu verstetigen. Mit einer überzeugenden Fortschreibung der sozialdemokratischen Erzählung sollte auch das Projekt »Rückkehr ins sozialdemokratische Feld« beginnen. Für Olaf Scholz liegt hierin eine große Chance in einem sich wandelnden Parteiensystem am Ende als stärkste Kraft eine neue Regierungsformation auf der Bundesebene anzuführen. Dafür lohnt der Einsatz in der heißen Wahlkampfphase und für eine erstarkende Sozialdemokratie über den Wahltag hinaus.

(Das Buch »Zwischen Selbstaufgabe und Selbstfindung. Wo steht die SPD?« ist soeben bei J.H.W. Dietz in Bonn erschienen, 160 S., 18 €.)

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