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Die SPD muss wieder zu sich selbst finden

Die SPD scheint irgendwie außer sich zu sein, die aktuelle Regierungsbeteiligung hin oder her. Sie erzielte 2017 mit 20,5 % ihr schlechtestes Wahlergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik. Seit 1998 hat sie die Hälfte ihrer Wählerschaft – etwa zehn Millionen Menschen – verloren. Mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder ist heute älter als 60 Jahre.

Sozialdemokratische Parteien in Polen, Griechenland, Italien, Frankreich oder Holland sind in den vergangenen Jahren in der Bedeutungslosigkeit versunken. Das bedeutet: Parteien können verschwinden. Gleichzeitig beobachten wir in ganz Europa das Erstarken rechtspopulistischer Parteien.

Die These dieses Beitrags lautet: Wenn die SPD so weitermacht wie bisher, dann kann sie bei den nächsten Wahlen auch deutlich unter 20 % landen. Das Mehr, was sie braucht, ist nicht mehr vom Gleichen, sie braucht etwas anderes. Eine andere Haltung, geklärte Konflikte, andere Themen, eine andere Sprache, anderes Personal, eine zeitgemäße Art der Parteiorganisation.

Die neue Regierungsmannschaft ist kein schlechtes Signal: Sie zeigt, dass Erneuerung möglich ist. Aber niemand sollte sich täuschen: Mit dem Personalaustausch im Staatsapparat ist es nicht getan. Mit strukturellen Problemen, die über Jahrzehnte entstanden sind, muss man sich aktiv auseinandersetzen. Sie erledigen sich nicht von selbst.

•  Haltung: Einerseits treten Parteifunktionäre in der Öffentlichkeit oft kraftmeierisch auf, ohne dass dies durch Wählerzustimmung gedeckt wäre. Das wirkt peinlich und unglaubwürdig. Andererseits gibt es in der SPD zu viel Wehleidigkeit. Am Misserfolg sind immer die anderen schuld: die böse CDU, die den Sozialdemokraten die Themen klaut; die bösen Medien, die stets feindselig kommentieren, ganz gleich was man tut. Und irgendwie sind auch die Wählerinnen und Wähler undankbar, die die Leistungen der SPD in den zurückliegenden Regierungsjahren nicht würdigten. Egal, ob in dieser Wahrnehmung auch drei Körner Wahrheit stecken: Es nützt nichts, auf andere zu zeigen. Die SPD muss aus eigener Kraft einen Weg finden, die CDU zu überflügeln und Wähler/innen und Medien von sich zu überzeugen.

•  Konflikte: Um zu einer besseren Haltung zu kommen, müssen folgende grundsätzliche Fragen geklärt werden: Geht es der SPD wegen der »rechten« Agenda 2010 und wegen ihrer Mitwirkung in den Koalitionen mit CDU/CSU 2005–2009 und 2013–2017 schlecht? Also wegen des »Verrats« linker Überzeugungen? Das glauben offenbar etliche Mitglieder und viele Funktionäre.

Geht es ihr schlecht, weil sie zu einseitig auf »soziale Gerechtigkeit« und benachteiligte Zielgruppen gesetzt hat – und dabei die Mitte der Gesellschaft aus dem Blick verlor? Das glauben die meisten Meinungsforscher, und die jüngsten Wahlergebnisse sprechen kaum dagegen.

Könnte es eine Antwort geben, die beide Positionen versöhnt? Also etwa die Beseitigung entwürdigender Umstände beim Hartz-IV-Bezug, zugleich aber eine selbstbewusste, unverdruckste Haltung zur Großen Koalition und außerdem eine Offenheit für die politischen Ansprüche und die Sorgen der gesellschaftlichen Mitte, die durchaus existieren, aber oft nichts mit materieller Not zu tun haben?

•  Themen: Sowohl das Ziel »mehr Gerechtigkeit« als auch die Ansprache der Mitte können eigentlich nur durch eine pragmatische Wende der SPD-Politik auf allen Ebenen erreicht werden: Was nützt? Was wirkt? Was schadet? Was ärgert die Leute einfach nur?

•  Für die Bildungspolitik stellen sich dabei vier Fragen. Erstens: Gibt es genug Krippen- und Kitaplätze – und fühlen sich die Kinder in der Betreuung wohl? Zweitens: Lernen Kinder in der Grundschule und an den weiterführenden Schulen tatsächlich Lesen, Schreiben, Deutsch und Rechnen, oder tun sie das nicht? Lernen sie genug über unsere Geschichte und unser politisches System, über Naturwissenschaften, Kunst, Musik und Literatur? Lernen sie ausreichend Fremdsprachen? Drittens: Haben wir es mit der Akademisierung übertrieben, sodass die Universitäten mit einer Studierendenquote von über 50 % überfordert sind und viele Studierende selbst permanent frustriert werden? Brauchen wir eine Modernisierung des dualen Ausbildungssystems? Viertens: Was müssen Kinder, Jugendliche und Erwachsene künftig lernen, damit sie sich in der digitalisierten Welt souverän bewegen können, statt von den Angeboten manipuliert zu werden?

•  Integration: Wie und wo, durch welches Zusammenspiel von Kindergärtner/innen und Lehrer/innen, Sozialpädagog/innen und Bibliothekar/innen, Übungsleiter/innen im Sportverein, von Ordnungskräften der Kommunen, Sozialbehörden, im schlechten Fall auch von Polizei und Strafverfolgungsbehörden, gelingt Integration? Und wo nicht? Erreichen wir, dass neue Mitbürger Deutsch lernen und ihr Wertesystem mit unserem Menschenrechtsuniversalismus kompatibel machen?

•  Sicherheit: Wie gewährleisten wir ein Gefühl von Sicherheit – vom Zustand der Straßen und der Sauberkeit der Grünanlagen über die Aufklärungsquote bei Wohnungseinbrüchen bis zur nächtlichen Nutzbarkeit des Nahverkehrs? Gehört zu einem grundsätzlichen Gefühl von Sicherheit auch eine einsatzfähige und voll ausgerüstete Armee?

•  Infrastruktur: Normale Arbeitnehmer/innen sind auf eine funktionierende öffentliche Infrastruktur angewiesen. Sie können nicht mit dem Helikopter zur Arbeit fliegen. Der gefühlte Normalzustand des Individualverkehrs ist aber für viele Berufspendler inzwischen der Stau. Die Bahn, in ihrer öffentlichen wie in ihrer privatisierten Form, ist unzuverlässig und (abseits der Renommierstrecken) in einem zum Teil haarsträubenden Zustand.

•  Haarsträubend ist ebenfalls der Zustand zu vieler staatlicher Schulgebäude und öffentlicher Sportstätten. Der gute alte Postdienst ist durch Privatisierung unzuverlässiger geworden, ebenso die Krankenhäuser (Hygienestandards, Arbeitsüberlastung). Kassenpatienten werden deutlich schlechter behandelt als Privatpatienten. Die Privatisierung öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften hat die Situation für Mieter nicht verbessert.

•  Digitalisierung: Was bedeutet Digitalisierung im Hinblick auf Arbeitsplätze, Sozialverhalten, demokratische Öffentlichkeit, Freiheit und Aufklärung, Privatsphäre, Energieverbrauch und Monopolbildung?

•  Die Macht der Stimmungen: Eine moderne Gesellschaft kann seelische Probleme entwickeln, die sich politisch auswirken. Zehn Millionen Deutsche zwischen 50 und 60 Jahren sind im richtigen Alter für eine Lebensbilanzkrise. Trennungen sind bei Ehen und Beziehungen von Anfang an einzupreisen. Alte Menschen leben allein, weil ihre Kinder über den Globus verstreut sind. Der moderne Kapitalismus produziert Verletzungen, die zu »posttraumatischen Verbitterungsstörungen« führen. Männer sind in ihrer Rolle verunsichert. Die Mittelschicht hat Statusangst. Solche negativen Gefühle werden im Resonanzraum Internet noch verstärkt. Welche Antworten – oder Therapievorschläge – hat die SPD? Ist sie überhaupt in der Lage, darüber in einer angemessenen Weise zu sprechen?

•  Sprache: Die Partei muss dringend an ihrer Sprache arbeiten. Die hat nämlich erstens eine Tendenz zur leblosen und phrasenhaften Abstraktion und zweitens zur bevormundenden Herablassung, zum Moralisieren, wo Argumente gefragt wären. Drittens merkt man sozialdemokratischen Texten zu oft an, dass ihre Autor/innen glauben, mit dem Aufschreiben von grundguten Zielen sei schon die Wirklichkeit verändert. Das ist aber nicht so.

•  Personal: Martin Schulz war nicht alleine schuld an der Wahlkatastrophe 2017. Nicht einmal der langjährige Vorsitzende Sigmar Gabriel war alleine schuld am Attraktivitätsverfall der SPD, an allen Dingen, die falsch gemacht oder versäumt wurden. Ein Präsidium, ein mehr als 40-köpfiger Vorstand hat noch die einsamsten, seltsamsten Entscheidungen mitgetragen. Funktionsträger aller Ebenen haben in diesen Fällen zu selten widersprochen.

Für eine ernsthafte Erneuerung muss die Partei ihre Personalpolitik ändern, sie muss Talente suchen und fördern, und die, die von selbst kommen, nicht gleich als Konkurrenz empfinden. Sie muss sich öffnen für Menschen, die Berufserfahrung haben und nicht ihr gesamtes Leben in der Politik verbringen. Sie muss bewusst darauf hinwirken, dass ihre Amts- und Mandatsträger nicht auf Gedeih und Verderb von der Politik abhängig sind. Sie darf nicht über Listenpolitik kritische Abgeordnete gefügig zu machen versuchen. Die SPD muss wählbare Kandidaten aufstellen.

•  Organisation: Die Partei braucht eine grundsätzliche Organisationsreform, die nichts mit sozialpädagogischer Pseudobeteiligung und Online-Beschäftigungstherapie zu tun hat (zumal der Parteiapparat im Willy-Brandt-Haus es ja nach wie vor zuverlässig nicht schafft, E-Mails zu beantworten). Menschen tauschen sich politisch gern face-to-face aus, aber in Zeiten, in denen das Umziehen zum Alltag gehört, muss es Alternativen zum Ortsverein geben. Wer 20 Jahre lang Professor in Hamburg war und über Gesundheitsreform oder Weltpolitik diskutieren möchte, muss in München nicht mit Kommunalpolitik anfangen. Aber wer in Sachsen überhaupt irgendwie die SPD erreichen will, muss wenigstens eine funktionierende Kreisgeschäftsstelle vorfinden. Die Mittel mögen knapp sein, doch wenn überhaupt Problembewusstsein vorhanden wäre, ließe sich schon viel mit Nebenjobs für Studierende und für Veteranen erreichen.

•  Der Vorwärts muss aufhören, ein reines Verlautbarungsorgan zu sein und sich – ja, wirklich! – wieder trauen dürfen, kritische Debatten zu führen. (Das sind nicht die Diskussionsbeiträge, die der Parteivorstand einstimmig gutheißen würde.) Vielleicht wäre das ein Weg, Intellektuelle für die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie zurückzugewinnen. Im Moment fehlt deren Input fast ganz.

•  Themenparteitage und Kongresse schließlich, die nicht zur Ablenkung von Machtfragen veranstaltet werden, könnten die Partei wieder interessanter machen – wenigstens für die eigenen Mitglieder, womöglich sogar für eine breitere Öffentlichkeit. Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger wollen eigentlich gern miteinander reden. Sie hören auch gern Leuten zu, die etwas von der Sache verstehen; die etwas zu sagen haben. Wenn es wirklich um das offene Abwägen möglicher, ehrlicher, vernünftiger Argumente, um das klassisch sozialdemokratische Einerseits-Andererseits, um das Sowohl-als-auch verantwortbarer Kompromisse ginge – und nicht um Rechthaberei, Besserwisserei, obrigkeitliche Belehrung und die hochmütige Ausgrenzung Andersdenkender –, dann wäre die SPD wieder bei sich.

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