Menü

Die SPD und die Sozialisierung von Produktionsmitteln

Anfang Mai dieses Jahres rief der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert mit einem Interview in der Zeit beträchtliche Aufregung hervor. Es waren zum großen Teil die üblichen reflexartigen und grobschlächtigen Reaktionen des politischen, auch innerparteilichen Gegners, bei denen man sich gelegentlich fragen musste, ob die inkriminierten Äußerungen überhaupt in ihrem Zusammenhang zur Kenntnis genommen und inhaltlich verortet worden waren.

Natürlich darf gestritten werden, auch polemisch, sofern die Polemik nicht an der Sache vorbeigeht. Die Empörung über Kühnerts Äußerungen machte sich vor allem an zwei Punkten fest: erstens an seinem Verständnis vom »demokratischen Sozialismus« nicht nur – wie es seit dem Godesberger Programm von 1959 der SPD-Mehrheitslinie entspricht – als Leitbild und ständige Aufgabe, sondern auch als eine Gesellschaftsordnung »jenseits des Kapitalismus« (Richard Löwenthal, 1946), gekennzeichnet durch umfassende Demokratie, die Abschaffung des Privateigentums an den großen Produktionsmitteln und die Überwindung des Profitprinzips. Zweitens hängten sich viele kritische Kommentare an den konkreten Beispielen für denkbare Enteignungen auf, die in dem Interview zur Sprache gekommen waren; um Wohnungsgesellschaften und – von den Fragestellern eingeführt – um BMW.

Man mag Kühnerts Position bejahen oder für verfehlt halten: Weder sprengt sie den Rahmen des in der Sozialdemokratie legitim Vertretbaren – die Jungsozialisten haben in den vergangenen 50 Jahren stets Identisches oder Ähnliches vertreten – noch kollidiert sie gar mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, wie in wütenden Pressekommentaren teilweise behauptet, unterstellt oder angedeutet wurde. Tatsächlich stellt das Grundgesetz in Artikel 15 fest: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden«. Die Höhe der Entschädigung sei in gerechter Abwägung der dabei berührten Interessen festzusetzen, wobei gegebenenfalls der Rechtsweg offenstehe.

Ohne diese Bestimmung hätte das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat kaum die Zustimmung der SPD-Fraktion gefunden, denn die Partei vertrat bei ihrer Wiedergründung 1945/46 ein dezidiertes Programm der sozialistischen Umgestaltung, wobei neben der programmatischen Tradition und der (irrigen) analytischen Annahme, ein kapitalistischer Wiederaufbau sei weder wirtschaftlich noch sozial möglich, stets eine politische Begründung ins Feld geführt wurde: die Verantwortung des Großbesitzes, insbesondere der Schwerindustrie, für die NS-Diktatur.

Die Bereitschaft, Eingriffe ins Privateigentum vorzunehmen und eine gewisse Wirtschaftsplanung zu gewährleisten, reichte zunächst bis weit in die CDU. In einer Reihe von Landesverfassungen konnte die SPD Teilsozialisierungs- bzw. Mitbestimmungsartikel verankern, die in zwei Fällen (Hessen und Bremen) in Volksabstimmungen bestätigt werden mussten. (Das am 30. Juni 1946 in Sachsen stattfindende Plebiszit zur »Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher«, de facto eines beträchtlichen Teils des Großkapitals und des Großgrundbesitzes, mit über drei Vierteln Zustimmung musste nicht manipuliert werden; solche Maßnahmen waren damals durchaus populär.) Im Landtag von Nordrhein-Westfalen, wo es um die Zukunft der Ruhrindustrie ging, fand ein Antrag der SPD zur Verstaatlichung der Kohlewirtschaft am 6. August 1948 die Unterstützung der Mehrheit. Während auch die KPD und das katholische Zentrum zustimmten, votierte die FDP dagegen, und die CDU enthielt sich im Hinblick auf ihr eigenes gemischtwirtschaftliches Modell von »Vergesellschaftung«.

Alle erwähnten, in höchstem Maß demokratisch legitimierten Umgestaltungsschritte wurden auf dem Gebiet der Westzonen im Sommer 1948 von der amerikanischen Besatzungsmacht oder auf deren Veranlassung gestoppt und suspendiert unter Hinweis auf die inzwischen in Vorbereitung befindliche Weststaatsgründung und den künftigen Primat des Bundesrechts. Im Juni 1948 war die Währungsreform durchgeführt worden, die nicht nur schlagartig die Schaufenster wieder füllte (mit großenteils dafür gehorteten Waren), sondern mit ihrer Begünstigung der Unternehmen und des Sachwertbesitzes zur Rekonsolidierung der überkommenen Klassenkonstellation beitrug, ebenso die gesellschaftspolitisch mitnichten neutrale Marshallplan-Hilfe und die von Ludwig Erhard geleitete Wirtschaftsverwaltung der Bizone. In Frankreich und in Großbritannien, souveränen Staaten, wurde eine Teilsozialisierung der Wirtschaft in den nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschenden antifaschistisch-antigroßkapitalistischen Grundbestimmungen realisiert, ohne dass die Gesellschaftsordnung im Ganzen transformiert worden wäre.

Angesichts der sich verschiebenden Kräfteverhältnisse und der Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat, gebildet aus den Landesparlamenten, verzichtete die SPD auf den Versuch, Neuordnungsziele, soweit sie die Eigentumsordnung berührten, im Grundgesetz zu verankern. Die Hoffnung lag auf der ersten Bundestagswahl, die durch den Einzug kleinerer Gruppierungen dann aber eine deutliche bürgerliche (antisozialistische) Mehrheit ergab, und im angenommen nächsten Schritt auf der Wiedervereinigung Deutschlands, die mit den alten Hochburgen in Mitteldeutschland der Sozialdemokratie die Mehrheit sichern würde, eine damals nicht abwegige Erwartung.

Es kam zur schrittweisen Abkehr der SPD von ihrer im traditionellen Sinn reformsozialistischen Programmatik während der 50er Jahre, mündend in das Godesberger Grundsatzprogramm. Das Parteiprogramm bekannte sich zum Vorrang des Marktes vor der Planung und sah Vergesellschaftung von Privateigentum nur noch als letztes Mittel gegen wirtschaftliche Machtzusammenballungen vor, weil Einschätzungen und Vorhersagen der ersten Nachkriegsjahre sich offenkundig nicht bewahrheiteten. Die materiellen Zerstörungen und die zeitweilige Suspendierung von Eigentümerrechten wurden vielfach als Ende des Kapitalismus fehlgedeutet. Die kapitalistische Marktwirtschaft erholte sich stattdessen nicht nur, sondern die Rekonstruktionsperiode ging in der ganzen industrialisierten westlichen Welt in einen lang anhaltenden Boom über: eine neue Epoche in der Formationsgeschichte des Kapitalismus mit einer vordem kaum vorstellbaren Verbesserung des Lebensstandards auch der sozial unteren Hälfte der Bevölkerung und mit einer neuen Qualität sozialer Absicherung.

Angesichts dieser Entwicklung nahm die europäische, insbesondere die deutsche Sozialdemokratie einschließlich der sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften den Kapitalismus immer weniger als klassengesellschaftliches System wahr, das auf parlamentarischem Weg und graduell hin zu einem qualitativ anderen System verändert werden sollte. Die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie, so der Marktmechanismus, erschienen den sozialdemokratischen Wirtschaftsfachleuten, unter Rezeption des Keynesianismus und der skandinavischen Erfahrungen, zunehmend nutzbar für die eigene, vermeintlich von alten Dogmen befreite Politik.

Dieses eher sozialliberale als im Sinn der frühen Nachkriegszeit reformsozialistische Verständnis der eigenen historischen Aufgaben wurde stark befördert durch den Ost-West-Konflikt, in dem die Sozialdemokratie, sofern es um die unvereinbaren politischen Ordnungen ging, von vornherein auf die Seite des Westens trat als eine Art linker Flügel der »Weltdemokratie« (Kurt Schumacher). Die lautstarke Berufung des Sowjetkommunismus und seiner Verbündeten auf die marxistische Tradition förderte die Distanzierung davon ebenso wie die Anschauung der poststalinistischen Diktatur im Osten und des – wie auch immer verursachten – westöstlichen Wohlstandsgefälles.

Mit dem Heranwachsen jüngerer Generationen, deren Angehörige nicht mehr direkt mit den demoralisierenden Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Weltkriege, Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise, Aufkommen des Faschismus und des Stalinismus, wiederholtem materiellen Elend, Terror und schweren Niederlagen der Arbeiterbewegung bzw. der Demokratie) belastet waren, belebten sich international und sogar blockübergreifend in dem Jahrzehnt um 1970 noch einmal erheblich die Massenstreikaktivitäten, die jetzt vielfach auch gegen die Autoritätsstrukturen in den Betrieben gerichtet waren. Die von Land zu Land unterschiedlich stark auftretenden Arbeiterrevolten begleiteten die als 68er-Bewegung bekannte antiautoritäre Jugendradikalisierung, deren Kern, aber nicht alleiniger Träger, die quantitativ expandierende Studentenschaft war. Insbesondere im westlichen Europa begünstigten die Streikaktivitäten und Protestbewegungen einen Aufschwung der politischen Linken in all ihren Strömungen und Erscheinungsformen, nicht zuletzt der Sozialdemokratie, wo sich, wie schon in den mittleren 30er und den mittleren 40er Jahren, eine deutliche Verstärkung und Revitalisierung antikapitalistischer bzw. kapitalismuskritischer und radikaldemokratischer Tendenzen zeigte.

Kevin Kühnert hat Fragen aufgeworfen und eine Richtung, in der Antworten zu finden seien, anzugeben versucht, die dicht bei dem liegen, was vor einem halben Jahrhundert in vielen Köpfen war, nicht selten diffus und naiv. Mehrere Kommentare führender Sozialdemokraten zu Kühnert haben auf die Notwendigkeit hingewiesen, wieder grundsätzlicher zu reflektieren und zu diskutieren. Während die Aufschwungphase der Sozialdemokratie um 1970 im Zeichen von Aufbruch und Optimismus stand, dominiert nach 40 Jahren die Entfesselung des Marktkapitalismus unter Vorherrschaft des Finanzkapitals bei Niedergang der klassischen Arbeiterbewegung trotz ausgeprägter sozialer Polarisierung (weltweit wie innergesellschaftlich) und fast ungebremster ökologischer Selbstzerstörung der Menschheit, mörderischen regionalen Interventions- und Stellvertreterkriegen sowie wieder zunehmender Atomkriegsgefahr links der Mitte: auf der einen Seite ein sachkundiger und in Einzelfragen durchaus erfolgreicher Pragmatismus, auf der anderen Seite das Bedürfnis, »aufzustehen« und dem abwärts rollenden Wagen in die Speichen zu greifen. Hinter beiden, hier vereinfacht gegenüber gestellten Grundhaltungen verbirgt sich oftmals eine tiefe Ratlosigkeit, gefördert von der Gewissheit, dass namentlich die deutsche Sozialdemokratie selbst im günstigen Fall durch ein Tal der Tränen wird gehen müssen, bis sie wieder einen festen und erkennbaren Platz im Parteiensystem gefunden und sich – auf vermutlich niedrigerem Niveau als in den 70er Jahren – rekonsolidiert haben können wird.

Es wird viel (und meist stark vereinfacht) über die zum wirtschaftlich-sozialen Status- und Meinungsspektrum quer liegende Spaltung in urbane, junge sowie gut ausgebildete »Kosmopoliten« und den eher provinziellen, einfachen und »normalen« Arbeitnehmern bzw. kleinen Selbstständigen, den »Kommunitaristen«, gesprochen. Nur die Verbindung beider Großmilieus würde jedoch den Weg zur Wiedererlangung von Mehrheiten links von CDU/CSU und FDP erneut öffnen. Wer außer der SPD soll eine solche Integrationsleistung zustande bringen, nachdem die Linkspartei, forciert durch ihren Kurs und ihr Erscheinungsbild, die soziokulturell eher konservative Normalo-Klientel mehr und mehr an die AfD zu verlieren droht und die Grünen ohnehin auf die Kosmopoliten festgelegt sind? Damit sind keine rein taktischen Aufgaben benannt, sondern es verbergen sich dahinter fundamentale strategische Probleme, von denen die programmatische Grundsatzdiskussion, wie sie Kevin Kühnert angestoßen hat, nicht getrennt werden sollte.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben