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Warum manches in Argentinien und Uruguay besser läuft Die Spitze des Kontinents

Argentinien und Uruguay sind mehr als nur Nachbarn. Eher »eineiige Zwillinge«, so Pepe Mujica, ehemaliger Präsident Uruguays. Sehr unterschiedlich groß zwar und mit verschiedenen Werdegängen. Aber kulturell doch in vielem eng verbunden. Migrationsbedingt sind sie europäischer geprägt und auch sonst anders als der Rest des Kontinents: Uruguay als regionaler Champion in Sachen Demokratie, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung sowie Pandemiekontrolle. Argentinien als Land der Widersprüche. Traum von Millionen Migranten, pleite, hochverschuldet und zugleich Mitglied im G20-Club.

In einer von einer Demokratiekrise gebeutelten Region sticht hervor, mit welcher Selbstverständlichkeit beide zuletzt demokratische Regierungswechsel organisierten. Ende Oktober wählte Uruguay von links nach rechts, Argentinien in die andere Richtung – was es zum aktuell einzig demokratisch progressiv regierten Land Südamerikas macht. Während der Übergaben produzierten sie symbolträchtige Bilder republikanischer Reife: Der ehemalige argentinische Amtsinhaber Mauricio Macri, der Alberto Fernández direkt nach dessen Wahlsieg zum Arbeitsfrühstück empfängt. Uruguays scheidender Präsident Tabaré Vázquez, der eingehakt mit seinem designierten Nachfolger Luis Lacalle Pou kurz nach dessen historisch knappem Sieg in der Stichwahl zum Gratulieren bei Fernández' Amtseinführung erscheint.

Geht man mit den Herausforderungen an den beiden Ufern des Rio de la Plata also besser um? Es gibt Bereiche jenseits der Sozialpolitik, in denen progressive Regierungen auf dem Kontinent zuvor versagten und damit auch die rechte Gegenoffensive begünstigten, insbesondere bei Fragen der politischen Reformen, eines nachhaltigeren Wirtschaftsmodells mit solideren Wohlfahrtsstaaten und öffentlichen Gütern. Deren Relevanz legt die aktuelle COVID-Krise brutal offen. Wie solide ist diesbezüglich in Uruguay das Erbe nach 15 Jahren Mitte-links-Regierung durch die Frente Amplio (FA)? Und wie vielversprechend sind die Ansätze der neuen Frente de Todos-Regierung in Argentinien?

Die argentinische Gesellschaft befindet sich aktuell in einem sehr bewussten Prozess der gewaltlosen Auseinandersetzung über ihr demokratisches Gemeinwesen. Die letzten beiden Präsidentschaftswahlen, die jeweils einen politischen Richtungswechsel herbeigeführt haben, zeugen davon. Für Argentinien sind dies noch immer neue Erfahrungen. Vor 1983 waren der Bruch mit demokratisch gewählten Regierungen und die Flucht in autoritäre Regime oder Militärdiktaturen die Norm. Anders in Uruguay, der konsolidiertesten Demokratie Lateinamerikas, in der die zwölfjährige Diktatur bis 1985 eher eine Ausnahme darstellte.

Entscheidend sind für beide Demokratien angesichts der Geschichte die weitgehende Verbannung der Militärs aus der Politik, Fortschritte in der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktaturen und die Wiederaufnahme von Prozessen gegen Täter der Regime, die in Argentinien vor allem unter der Regierung der Kirchners zur Verurteilung der verantwortlichen Militärs und ihrer Helfershelfer führten. Die FA in Uruguay muss sich fragen, ob sie diesbezüglich genug getan hat. Ihre Niederlage hat schließlich auch mit dem Aufstieg von Cabildo Abierto zu tun, einer neuen militaristisch-rechtspopulistischen Bewegung, die in dem ansonsten bemerkenswert stabilen Parteiensystem aus dem Stand viertstärkste Kraft und Teil der Regierungskoalition wurde. Deren Anführer General Guido Manini Ríos, von der FA einst zum Armeechef befördert und dann Anfang 2019 geschasst, unterminiert heute als Senator mit einem Dauerfeuer auf die Justiz deren Ruf und Unabhängigkeit und drängt auf die Verjährung von Verbrechen des Militärs. Er kultiviert Demokratiemüdigkeit. Doch die Zustimmungsraten zur Demokratie als Staatsform in Uruguay zählen trotz negativer Tendenz noch immer zu den höchsten in Lateinamerika. Ein funktionierender Staat und hohes Vertrauen in die Institutionen, auch dank der laut Transparency International niedrigsten Korruptionswahrnehmung Lateinamerikas, erklären auch Uruguays erfolgreiches COVID-Management.

In Argentinien herrscht zwischen Gesetz und Realität hingegen oft eine beachtliche Kluft und findet seine Erklärung in einer politischen Kultur, die von einem hohen Maß an Klientelismus, Vetternwirtschaft, Geringschätzung von Recht und Gesetz sowie Korruption geprägt ist. Die hohe Machtkonzentration in der Exekutive und die finanzielle Abhängigkeit der Provinzregierungen von der Bundesregierung fördern diese Tendenzen. Da von den 38 Jahren seit Ende der Militärdiktatur Peronisten 24 Jahre die Geschicke des Landes lenkten, tragen sie auch eine Verantwortung für diese Situation, aber natürlich nicht allein.

Starke Bürgergesellschaften

Vorbildgebende Fortschritte gelangen beiden Ländern in der Ausweitung der Bürgerrechte, beispielsweise mit der Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Diese sind eher auf den Druck der Straße zurückzuführen denn auf die genuine Überzeugung der jeweils Regierenden. Aktive und demonstrationsfreudige Bürgergesellschaften zeichnen beide Demokratien aus – vor allem wiedererstarkte feministische Bewegungen. In Uruguay erstritten diese gegen die Vorbehalte der FA-Regierung eine liberale Abtreibungsgesetzgebung. In Argentinien ist man ganz nah dran. Fehlten nach den Massendemonstrationen in 2018 noch einige Stimmen im Senat, kann man nun mit Rückenwind seitens der Exekutive rechnen. Feministinnen bringen seit Jahren auch andere Demokratiemakel auf die Agenda, insbesondere die in beiden Ländern ausgeprägte Gewalt gegen Frauen oder deren unzureichende politische Repräsentation. Bezüglich dieser gibt es in Argentinien Fortschritte, auch dank eines Paritätsgesetzes: der Anteil der Frauen im Abgeordnetenhaus liegt beispielsweise bei 42 % – in Uruguay sind es beschämende 19.

Und wie sieht es in Sachen Wirtschaft aus? Die Wirtschaftsentwicklung Argentiniens ist wie eine Achterbahnfahrt und lässt sich nur schwer einordnen. Sie ist vor allem nicht nachhaltig und scheint gefangen in einem Teufelskreis aus Rezession, Inflation, sozialer Verelendung, Verschuldung und Staatspleiten. Alberto Fernández war gewählt worden, um diesen zu durchbrechen. Die schwierigen Rahmenbedingungen wurden jedoch durch die Pandemie noch verschärft. Allein 2020 wird laut CEPAL das argentinische BIP um 10,5 % fallen. Nach Ausbruch der Pandemie stellte Fernández die Gesundheit und soziale Fragen in den Mittelpunkt der Politik. Er greift den Sozialreformismus der Kirchners neu auf und befürwortet einen nachhaltigeren Umbau durch Umverteilung, gerechtere Besteuerung, Restrukturierung der vom Agrarexport abhängigen Wirtschaft und Stärkung lokaler Wertschöpfungsketten.

Uruguay zeigte mit seinem Weg aus der tiefen Wirtschaftskrise zur Jahrtausendwende, wie sich erfolgreich wirtschaftliche mit sozialer Entwicklung verbinden lässt. Die FA-Regierungen bauten öffentliche Güter wie Gesundheit und digitale Infrastruktur aus und brachten sogar eine Pflegepolitik auf den Weg. Mit einer Kombination aus aktiver Investitionspolitik und progressiver Sozial-, Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik reduzierten sie deutlich Armut, Informalität und Ungleichheit, stärkten Gewerkschaften, erhöhten Reallöhne und Renten und stärkten damit den Binnenmarkt. Einher ging dieser Strukturwandel mit der längsten Wachstumsphase der Geschichte, die erst in der COVID-Krise ihr Ende findet (erwartet wird für 2020 ein Rückgang von 3,5 %). Verlangsamt hatte sich das Wachstum jedoch schon in den letzten Jahren und dabei blinde Flecken des Entwicklungsmodells offengelegt, die ähnlich auch in Argentinien gelten: eine hohe Abhängigkeit von Primärgüterexporten und einer immer industrialisierteren Landwirtschaft, die angesichts zunehmender Landkonzentration und Monokulturen die zugrundeliegenden Ressourcen Boden und Wasser überstrapaziert und zugleich relativ wenig Beschäftigung erzeugt, dazu stark ungleiche Bildungschancen und entsprechend hohe Jugendarbeitslosigkeit sowie Diskriminierungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt als zusätzliche Entwicklungshemmnisse.

Dass die FA in ihrer verzagten dritten Amtszeit darauf nicht mehr mit aktivem Staat und öffentlichen Politiken zu reagieren wusste, erklärt auch ihre Niederlage. Die neue Regierung geht nun den entgegengesetzen Weg. Statt Konjunkturprogramme zu initiieren, treibt sie inmitten der COVID-Krise trotz steigender Armut und Arbeitslosigkeit ihre Agenda der Austerität und des Staatsabbaus voran. Als erstes kürzte sie beispielsweise die Haushalte aller Ministerien pauschal um 15 %, was vor allem im Bereich der Sozialprogramme empfindliche Einschnitte bedeutet.

Argentiniens Produktionsminister Matías Kulfas unterstreicht im Kontrast dazu eine sozialdemokratische Sichtweise der Beziehung von Staat und Markt: »Wir glauben an einen aktiven Staat, der präsent ist, der nicht den Markt ersetzt, sondern ihn komplementiert und ihm Orientierung gibt.« Während in Argentinien Kindergeld, Sozialhilfe und Nahrungshilfe schon vor Corona existierten, wurden gleich zu Beginn der Pandemie Höchstpreise für bestimmte Lebensmittel und Hygieneartikel festgelegt, ein Nothilfeprogramm für Arbeit und Produktion und eine Art Grundeinkommen für private Haushalte in extremer Not, das mittlerweile 9 Millionen Argentinier erreicht, aufgelegt. Der hoch verschuldete Staat finanziert diese Maßnahmen auf zwei Arten: Neuzuweisung von Haushaltsposten und Geldausschüttung. Der neu verhandelte Schuldenschnitt mit den ausländischen privaten Gläubigern vom August 2020 – eindeutig auf der Habenseite der neuen Regierung – führt zu einer sehr wichtigen Entlastung des Staatshaushaltes. Weitere Ideen sind eine mögliche Vermögensteuer (allerdings als einmalige Besteuerung) sowie ein Fokus auf Wirtschaft und Produktion, der den Binnenmarkt stärken soll.

Die Frage nach der Rolle des Staates ist im politischen Diskurs der Parteien beider Länder zentral und polarisiert. In Argentinien schaut der ausländische Beobachter eher verständnislos auf die politische Kultur des Peronismus. Durch seine Wandlungsfähigkeit ist er schwer zu greifen. Er ist keine Partei oder politische Strömung, sondern Bewegung, Kultur und Methode in einem. Durch eine Politik der Fürsorge bindet er Wählerschichten an sich, er bietet eine Erlösung von den schlechten Bedingungen der Hoffnungslosen und Marginalisierten, die im Liberalismus lateinamerikanischer Lesart meist nur von der anderen Seite des Zaunes aus dem Festmahl zusehen dürfen. Innenpolitische Gegner begegnen dieser Politik mit Verachtung oder bezeichnen ihn als freiheitsberaubendes Regime. Präsident Fernández steht einer breiten Koalition von Peronisten verschiedener Farbtöne von links bis konservativ vor; er selbst gehört dabei eindeutig zum sozialdemokratisch geprägten Teil.

Uruguays Frente Amplio entspricht demgegenüber viel eher europäischen Vorstellungen einer breiten Mitte-Links-Mitgliederpartei. Die für Fernández’ Erfolg entscheidende Fähigkeit, ein breites ideologisches Spektrum unter einem programmatischen Dach zusammenzuhalten, hat die FA in ihren fast 50 Jahren zur stärksten politischen Kraft Uruguays werden lassen. Als 40-%- schwere Oppositionspartei sucht sie derzeit noch eine konstruktive Linie zwischen Unterstützung der Pandemiekontrolle, Widerstand gegen die neoliberale Regierungsagenda, Verteidigung ihres Erbes und Aufarbeitung ihrer Niederlage. Die komplexen Aushandlungsprozesse, die das Bündnis zusammenhalten, erschweren ihre notwendige Erneuerung.

Die progressiven Kräfte an der Südspitze Südamerikas teilen aktuelle politische Herausforderungen mit der europäischen Sozialdemokratie. Politische Freundschaften sollten daher dringend ausgebaut und gepflegt werden. In der Pandemie sind die offenen Wunden Lateinamerikas überall sichtbar geworden: In der Sozialpolitik, in der Arbeitsmarktpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Finanz- und Steuerpolitik wie auch in der internationalen Politik. Uruguay war lange Zeit Pionier eines erfolgreichen Weges inklusiven Wachstums – und dreht auf diesem nun um. In Argentinien hingegen deutet sich eine neue inklusive Variante des Staates an. Die Achillesferse bleibt die Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge, ihre Finanzierung und Nachhaltigkeit. Ohne – so zeigt es die Pandemie – hat Lateinamerika insgesamt keine Chance auf eine sozial stabile und demokratische Zukunft.

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