Wolfgang Thierse, einst Schriftsetzer und Kulturwissenschaftler, war Vorsitzender der Ost-SPD und langjähriger stellvertretender Vorsitzender der gesamtdeutschen SPD, Vorsitzender der Grundwertekommission und des Kulturforums der Sozialdemokratie sowie 1998–2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Er hat mit seinen Analysen, Erfahrungen und Anregungen Programmatik und Politik der SPD seit der Einheit wesentlich mitgeprägt. Zu den gesellschaftlichen Folgen der Pandemie und den politischen Lehren, die aus der tiefen Krise gezogen werden sollten, befragte ihn Klaus-Jürgen Scherer. Das Gespräch fand Anfang Juli 2020statt.
NG FH: Die dramatischen Wochen des Lockdowns sind in Deutschland vorbei, doch die Corona-Pandemie hat vieles verändert. Nicht nur ihre wirtschaftlichen Folgen werden uns noch lange beschäftigen. Wir müssen offensichtlich lernen, »mit dem Virus zu leben«, so heißt es. Aber wird wirklich alles anders? Werden ausreichende Konsequenzen aus der Krise gezogen? Sollten wir nicht darauf setzen, dass Menschen und Gesellschaften gerade in Situationen existenzieller Krisenerfahrungen auch lernen können?
Wolfgang Thierse: Die Zukunft ist wie immer auch in diesem Fall offen. Mit Blick auf vergangene Krisen und Katastrophen bin ich allerdings hinsichtlich des Lernens etwas skeptisch. Was hat die Menschheit zum Beispiel aus der Spanischen Grippe vor 100 Jahren gelernt, die immerhin mehr Tote gefordert hat als der Erste Weltkrieg? Sie hat diese Katastrophe schlicht vergessen. Trotzdem, wir müssen hoffen, dass die Menschheit lernt, allerdings ohne die Illusion zu haben, dass sich die Welt komplett ändern wird. Vielmehr gilt es zu begreifen: Krisen machen sichtbar, sie wirken als Beschleuniger von Entwicklungen, von Konflikten, von Problemen, die vorher schon herangereift waren. Ohne die Krise, ohne die Widersprüche des globalisierten Kapitalismus wäre die Pandemie nicht mehr als eine Pandemie, mit Schmerzen, mit Opfern, aber wirklich nicht mehr. Aber wir begreifen inzwischen, dass sie weit mehr ist als eine bloß gesundheitliche Katastrophe.
NG FH: Wenn dem so ist, wird dann von den Erfahrungen der Entschleunigung und Solidarität, der Beschäftigung mit sich selbst, der Konzentration auf das Wesentliche, wie es hieß, im positiven Sinne überhaupt etwas bleiben? Oder wird uns das nicht eher in Erinnerung bleiben als eine Zeit der besonderen Doppelbelastung, der Renaissance alter Rollenmuster, krankmachender Isolation, existenzieller Sorgen und vor allen Dingen – das Stichwort Kapitalismus ist gefallen – als eine Zeit zunehmender sozialer Spaltungen?
Thierse: Beides ist zu beobachten. Es gab die Erfahrung von Hoffnung machender Solidarität, von entschlossenem staatlichen Handeln und vernünftigem, einsichtigem Verhalten vieler Bürger. Andererseits aber haben wir auch das Leiden unter den Beschränkungen erlebt, wir haben grellen Egoismus erlebt und wir erleben soziale Spaltungen. Corona ist eben nicht der große Gleichmacher. Wir sitzen nicht wirklich alle in demselben Boot. Und wir erleben jetzt eine immer angespanntere Atmosphäre, als sei der Mensch des Menschen Virus, als müssten wir uns vor allem als Wirte des Virus gegenseitig wahrnehmen, eine durchaus unangenehme Erfahrung.
NG FH: Es scheint drei grundlegende Herangehensweisen zu geben. Da gibt es die Dystopien des möglichen Zusammenbruchs vieler Errungenschaften, vom Gesundheitswesen bis hin zur EU. Daneben gibt es die These von der Kontinuität: Nach der Auszeit läuft alles wieder erfolgreich weiter wie bisher. Es könnte aber auch zu einer Art drittem Weg kommen, zu einem Spurwechsel, bei dem aus den Fehlentwicklungen Konsequenzen gezogen werden hin zu einem anderen Modell des Arbeitens und des Konsums.
Thierse: Ich plädiere entschieden für den Spurwechsel, denn wenn die Pandemie durch menschliche Eingriffe in die Natur und deren Manipulation entstanden ist, wenn sie zugleich eine Seite, eine Folge der Globalisierung ist, dann geht es um eine doppelte Konsequenz: um eine veränderte Globalisierung und um eine Veränderung unserer Produktionsweise, unseres Lebensstils, unserer Konsumgewohnheiten und um die Überwindung einer verfehlten Wachstumsideologie.
NG FH: War die Krise nicht eigentlich der Beweis dafür, dass das Primat der Politik gegenüber einem Selbstlauf des Marktes möglich ist? Wirtschaftsliberale haben das ja stets bestritten. Kann so etwas, was jetzt plötzlich möglich wurde, um die Ansteckungswelle zu unterbrechen, nicht auch hinsichtlich anderer Ziele wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit helfen?
Thierse: Ganz unbedingt, denn die Krise hat politisch vor allem eines gezeigt: Die Staatsbedürftigkeit unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und auch der Wirtschaft hat sich erwiesen. Der Staat ist eben nicht der Leviathan, sondern – das konnte man in dieser Krise erleben – er kommt als sozialer und regelnder Staat seiner Schutzaufgabe nach. Neben der Familie hat sich der nationale Staat als funktionierende Solidargemeinschaft gezeigt. Hoffentlich wird das nicht nur als ein Rückfall verstanden, sondern wird damit im Gegenteil das Ende der neoliberalen Verteufelung des Staates und der Vergötzung des freien Marktes eingeläutet, auch das Ende der Vorherrschaft von Privat vor Staat, von Wettbewerb vor Kooperation. Es geht allerdings dabei um den Sozialstaat als organisierte, rechtlich verbürgte Solidarität und um einen Staat, der nicht dereguliert sondern stabilisiert, regelt und schützt.
NG FH: Vieles ist ja fraglich geworden, was uns selbstverständlich schien. Dazu gehört sicher auch das, was wir als Globalisierung verstanden haben. Auf einmal wurde diese ausgesetzt, Grenzen wurden dichtgemacht, Flüge eingestellt, Containerschiffe gestoppt. Auch vorher gab es bei den Rechten und Rechtspopulisten bereits die Betonung des »unsere Nation zuerst«, »America first« etwa. Gehen wir jetzt tatsächlich in ein Zeitalter der Deglobalisierung? Oder wie sollte sich die weltweite Arbeitsteilung entwickeln?
Thierse: Mit der Krise erleben wir überdeutlich, dass die Globalisierung auch eine, wie soll man es nennen, Weltgefahrengesellschaft, erzeugt hat. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass das das Ende der Globalisierung ist; vermutlich aber doch das Ende der Globalisierungseuphorie. Eine vollständige Deglobalisierung wäre eine Illusion und wohl auch ein folgenreicher Fehler, ein Rückschritt. Vielmehr geht es jetzt und künftig um eine andere Globalisierung, nicht um Renationalisierung. Wir müssen die Mischung aus regionalisierter Produktion und globaler Arbeitsteilung neu austarieren: eine Mischung aus Markt und Freihandel einerseits und politisch-staatlicher Lenkung andererseits; eine Einschränkung der Just-in-Time-Ökonomie mit ihrem weltweiten Netz von Wertschöpfungsketten über den ganzen Globus und ihren wahnsinnigen ökologischen Kosten.
Es hat sich in der Pandemie als gefährlich herausgestellt, Millionen Einzelteile und Produkte, zum Beispiel Arzneimittel, über den ganzen Planeten zu karren. Dieses System ist offensichtlich viel weniger stabil als behauptet, es ist jedenfalls höchst störanfällig. Und die Lehren daraus muss man ziehen.
NG FH: Eine Lehre, die mittlerweile weit über die SPD hinaus gezogen wurde, scheint ja die von John Maynard Keynes zu sein, sich aktiv gegen die Depression zu stemmen. Da gibt es das deutsche Konjunkturprogramm von Olaf Scholz, dazu das EU-Hilfsprogramm und vieles mehr. Ist die damit einhergehende große Verschuldung jetzt gar nicht mehr so schlimm, obwohl die »schwarze Null« jahrelang ein Tabu war? Kommt eine neue Gerechtigkeitsdebatte, wie und von wem diese Schulden abgetragen werden?
Thierse: Nichts gegen Keynes, aber es geht meines Erachtens jetzt um mehr. Zunächst halte ich eine Entideologisierung, gar eine Entmythologisierung des Themas Schulden für notwendig, auch hinsichtlich der »schwarzen Null«. Machen wir uns doch mal die Alternative klar. Heute keine Schulden zu machen heißt, Mängel und Defizite in der Infrastruktur, in der Bildung, der Innovationskraft und der sozialen Sicherheit in der Zukunft zu erzeugen. Das wären wahrlich dramatische Schulden, die nur mit viel größeren Schmerzen abzuzahlen wären. Es geht also nicht nur um ökonomisches Gegensteuern und Reparieren mit viel Geld, sondern um Investitionen in und für die Zukunft: um die Stärkung der Innovationskraft, um Modernisierung, zum Beispiel bei der Gestaltung und Organisation des Digitalisierungsschubs; es geht um Modernisierung unserer Technologie, unserer Wissenschaft und es geht um ökologische Modernisierung usw.
Bei der Rückzahlung der Schulden hat die Sozialdemokratie – wer sonst? – darauf zu achten, dass die Lasten generationengerecht und sozial gerecht verteilt werden. Das bleibt ihre Aufgabe neben dem Modernisierungsauftrag, den sie übernommen hat und übernehmen muss.
NG FH: Wenn also, wie gerade dargestellt, der staatliche Einfluss nun dringend genutzt werden müsste, um überfällige Innovationen anzugehen, dann fällt einem ja gleich das Konzept der öffentlichen Güter ein, die dem Markt ein Stück weit entzogen sind. Sollte dieses nicht reaktiviert werden?
Thierse: Das sozialdemokratische Konzept der öffentlichen Güter ist die Lösung und eben nicht etwa Verstaatlichung. Die hat sich in der DDR und dem kommunistischen System insgesamt als ziemlich untauglich erwiesen. Öffentliche Güter, das meint demokratische, politische Verantwortung für deren faire, gerechte Zugänglichkeit: im Gesundheitsbereich, der Bildung, Kultur und der sozialen Sicherheit, um nur die wichtigsten öffentlichen Güter zu nennen. Sie dürfen eben nicht allein dem Markt überlassen sein, sondern sie bleiben Gegenstand und Ziel demokratischer politischer Verantwortung.
Wie sie erbracht werden, dazu können und sollen vernünftigerweise die Mittel und Mechanismen des Marktes genutzt werden. Das ist aber etwas anderes, als öffentliche Güter vollends dem Markt zu überlassen. Da fällt einem der alte sozialdemokratische Grundsatz ein: so viel Staat wie nötig, so viel Markt wie möglich.
NG FH: Aber hat nicht gerade der Staat eine Art Renaissance erlebt? Er ist offensichtlich nicht zu ersetzen, um Sicherheit zu vermitteln.
Thierse: Ja, diese Lektion wird hoffentlich nicht so schnell vergessen. Äußere und innere Sicherheit sind besonders wichtige, sensible und geradezu existenzielle öffentliche Güter. Ihre Privatisierung ist des Teufels, man muss nur mal in Länder wie die USA oder nach Brasilien schauen, um zu erkennen, welche gefährlichen Entwicklungen die Privatisierung von Sicherheit erzeugen kann. Der legitime Schutzanspruch der Bürger ist und bleibt die Verantwortung des Staates, alles andere würde die Spaltung der Gesellschaft dramatisch verschärfen.
NG FH: Aber es gibt doch auch eine problematische Kehrseite. Der Staat hat in der Coronakrise viele Freiheitsrechte, bei uns zeitweilig, beschränken müssen. Unter Viktor Orbán in Ungarn und Jair Bolsonaro in Brasilien wurde versucht, die Coronakrise zum Demokratieabbau zu nutzen. Juli Zeh warnte gar vor einer Gesundheitsdiktatur. Und anscheinend sind auch nicht alle auf den »Hygienedemonstrationen« rechts oder irre. Ist die Sorge um die Freiheitsansprüche gegenüber dem Staat nicht doch berechtigt?
Thierse: Gewiss, in Krisenzeiten dominiert immer die Exekutive. Aber die Demokratie, der Parlamentarismus sind doch nicht außer Kraft gesetzt worden, weder in Deutschland noch in den meisten europäischen Ländern. Freiheitsrechte sind zwar eingeschränkt worden, aber durch Entscheidungen auch des Bundestages demokratisch legitimiert.
Diese Einschränkungen und ihre Legitimation sind daran zu bemessen, dass sie erstens erkennbar auf den Schutz der Menschen zielen, auch den Schutz des Gemeinwesens und der Wirtschaft, dass sie, zweitens, zeitlich beschränkt bleiben, und dass sie drittens nachvollziehbar der Solidarität mit den Betroffenen dienen.
Mit anderen Worten, die Grundrechte einschränkenden Maßnahmen, wie überhaupt alle anderen Entscheidungen, sollen und müssen in ihrer Plausibilität durch die politischen Akteure verständlich gemacht werden. Sie müssen in ihrer Verhältnismäßigkeit erkennbar sein. Sie müssen der ständigen Überprüfung unterliegen und der öffentlichen auch kritischen Diskussion zugänglich sein.
Darüber wird es immer auch Streit geben, das ist unvermeidlich. Im Zeitalter des Internets als einem Echoraum von Vorurteilen und gesteigerter Aggressivität kann das ärgerliche, ja bösartige Erscheinungsformen annehmen. Trotzdem darf Öffentlichkeit nicht eingeschränkt werden.
NG FH: Auch das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat in der Krisenzeit eine große Dynamik bekommen. Das Homeoffice und der Digitalisierungsschub sind wirklich gesellschaftliche Neuerungen.
Thierse: Auf die Veränderungen in diesem Feld bin ich wirklich neugierig. Die Digitalisierung und die verbreitete Erfahrung von Homeoffice werden Folgen haben. Es ist noch nicht sicher welche. Vermutlich werden sich Unternehmensrealität und der Begriff von Unternehmen verändern. Die klare Trennung von Arbeitszeit einerseits und Freizeit und Familie andererseits wird sich wohl verwischen. Mit ambivalenten Folgen fürchte ich, auch mit Risiken. Rechtliche Regelungen werden notwendig, da hat Hubertus Heil bereits zu Recht die Initiative ergriffen. Die Arbeitsrealitäten werden sich weiter differenzieren, mit weitreichenden Folgen weiterer Singularisierungen, weitergehender sozialer und kultureller Zerklüftungen der Gesellschaft. Das ist eine große Herausforderung für die Sozialdemokratie.
NG FH: Eine weitere Veränderung scheint mir zu sein, dass auf der einen Seite Wissenschaft und Expertentum eine größere Rolle spielen, auf der anderen Seite aber auch Verschwörungstheorien, Vernunftverweigerung, der Wahnsinn – besonders im Internet – Blüten treiben. Die gesellschaftliche Kommunikation ist doch heute nicht mehr so, dass orientierende Gemeinwohlalternativen und demokratische Narrative um eine Mehrheit ringen?
Thierse: Unübersehbar ist, dass wir neue, vor allem auch kulturelle und kommunikative Spaltungen der Gesellschaft erleben, zusätzlich zu den vorhandenen sozialökonomischen Spaltungen. Auf der einen Seite gibt es Respekt vor der Wissenschaft bis hin zu einer Art Wissenschaftsreligion – Virologen als Hohepriester. Auf der anderen Seite gibt es fundamentalistische Vereinfacher und Schuldzuweiser, Verschwörungsmythologen und -unternehmer. Noch schlimmer, wir erleben eine Spaltung der Wirklichkeitswahrnehmung, die Einigung darauf, was Fakten sind, ist offensichtlich schwerer geworden. Das Internet ermöglicht in der eigenen Vorstellungs- und Vorurteilswelt zu bleiben und dann mit besonders heftiger Aggressivität auf die Welt der anderen zu reagieren. Kommunikation wird konfrontativer, die Demonstrationen übrigens auch. Die Kollisionen zwischen dem starken, an den Staat gerichteten Schutz- und Sicherheitsbedürfnis von Menschen und dem gegen den Staat gerichteten widerborstigen, kräftigen Freiheitsbedürfnis von Menschen werden heftiger.
Es gibt in diesen Zeiten ein verbreitetes Bedürfnis und die vielfache Erfahrung von Solidarität und zugleich auch Exzesse des Egoismus. Ein erschreckendes Beispiel war die Schlauchboot-Party auf dem Berliner Landwehrkanal mit viel Lärm, weil man die Clubs wieder geöffnet haben wollte. Und das ausgerechnet vor einem Krankenhaus, in dem Menschen ums Überleben ringen und Pfleger und Ärzte einer harten Arbeit nachgehen. Das ist ein Beispiel für exzessiven Vergnügungsegoismus, den es eben auch in unserer Gesellschaft gibt.
Die Spannung zwischen dem verständlichen Bedürfnis nach Sicherheit, nach Klarheit, auch nach Vereinfachungen und der schwer erträglichen, aber unausweichlichen Offenheit, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität der Situation, der Krisensituation nimmt zu. Jürgen Habermas hat daran erinnert, dass die Welt, die Wissenschaft noch niemals so viel Wissen über unser Nichtwissen hatte. Das gilt es auszuhalten und das ist eine große kulturelle Herausforderung. Es gilt, den kritischen Rationalismus, den öffentlichen deliberativen Gebrauch der sozialen Vernunft zu verteidigen und zu praktizieren. Ohne Arroganz und ohne elitären Gestus! Auch dafür hat die Sozialdemokratie eine besondere Verantwortung.
NG FH: Besteht nicht auch die Gefahr einer Spaltung zwischen Alt und Jung? Zum anderen: Sind Demokratie und Kultur eigentlich überhaupt möglich, wenn die Menschen gar nicht mehr real zusammenkommen? Im Augenblick erleben wir ja, dass das Virus immer dann wiederkommt, wenn viele Menschen ungeschützt zusammen sind.
Thierse: Weil diese Beobachtungen stimmen, müssen wir ja gerade hoffen, dass die Pandemiekrise überwunden wird. Auch um der Zukunft unserer Demokratie und des Zusammenlebens der Generationen willen müssen wir auf den Impfstoff hoffen. Denn dieser Dissens zwischen den Generationen ist ja schon beunruhigend. Plötzlich gibt es Anfälle einer Art utilitaristischen Ethik: Die Alten könnten doch gefälligst Opfer bringen, damit der andere Teil der Gesellschaft und vor allem die Wirtschaft weiter gut funktionieren können. Der demokratische Rechtsstaat des Grundgesetzes und eine Ethik, die sich auf Immanuel Kant und auf das Christentum bezieht, dürfen solche Art von Selektion, von Wertunterscheidungen menschlichen Lebens nicht zulassen. Bezogen auf die Demokratie bin ich der altmodischen Überzeugung, dass sie davon lebt, dass wir einander unser Gesicht zeigen, dass wir dafür einstehen, was wir fordern und meinen, und den anderen ertragen. Das geht übrigens leichter, wenn man einander sieht, als wenn man nur anonym im Internet die Beschimpfungen erleben kann. Also auch um der Zukunft unserer Demokratie willen hoffe ich sehr, dass unsere Arbeitswelt, unsere Kommunikation, unser politisches Leben nicht allzu sehr ins Internet entschwinden.
NG FH: Können auch für die Zukunft der Solidarität in dieser Gesellschaft Erkenntnisse aus der Krise gewonnen werden?
Thierse: Das ist für mich eine Schlüsselfrage. Die widersprüchlichen Erfahrungen in der Coronakrise stellen die Frage nach der Zukunft der Solidarität, die geradezu eine Existenzfrage für die Sozialdemokratie ist. Positive Solidaritätserfahrungen, vernünftiges Verhalten in zugespitzten Situationen lassen hoffen. Die Beobachtung von verschärften Individualisierungsprozessen einer Gesellschaft der Singularitäten, wie das Andreas Reckwitz genannt hat, durch die digitale Transformation verstärkt, machen hingegen skeptisch. Gerade die Erfahrung des Social Distancing macht aber doch unser menschliches Angewiesensein auf Nähe, auf sozialen Zusammenhalt, auf Gemeinschaftlichkeit überdeutlich. Auch das sollten wir festhalten als eine Erfahrung dieser Krise. Dass solidarische Teilhabe Grundvoraussetzung eines menschenwürdigen Lebens ist und bleibt, diese Erfahrung zum Gegenstand von politischer Bildung, von Aufklärung und vernünftiger Einsicht zu machen, das könnte und sollte aus der Krise gelernt werden. Ohne einen solchen Lernprozess würde die Zukunft der Sozialdemokratie eher finster sein.
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