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© picture alliance/dpa | Jan Woitas

Nach drei harten Jahren öffnet die Leipziger Buchmesse wieder ihre Pforten Die Stadt als kollektiver Kulturort

Die Leipziger Buchmesse, die in diesem Jahr vom 27. bis zum 30. April stattfindet, ist ein Phänomen. In der öffentlichen Wahrnehmung steht sie immer ein wenig im Schatten ihres Frankfurter Pendants, obwohl die Besuchszahlen sich kaum unterscheiden. Der Preis der Leipziger Buchmesse sorgt im Gegensatz zum Deutschen Buchpreis nicht automatisch für Bestseller, obwohl die Juryentscheidungen oft als interessanter und mutiger beschrieben werden. Der Preis zur Europäischen Verständigung bekommt erheblich weniger Aufmerksamkeit als der im Herbst vergebene Friedenspreis, obwohl die Liste der Ausgezeichneten hier wie dort beeindruckt.

Andererseits: Obwohl in zahlreichen Gesprächen mit Branchenkolleg*innen immer wieder die Logistik und die Enge thematisiert werden – die Anfahrt aus der Innenstadt zum Messegelände kann abenteuerlich sein und das Gelände selbst ist deutlich kleiner und somit Gänge wie Stände spürbar voller als in Frankfurt –, so herrscht doch große Einigkeit: Diese Messe begeistert viele, die seit Jahren beruflich oder privat dort zu Besuch sind.

Die Frage aber, warum Leipzig mit spürbarer Innigkeit geschätzt wird, ist nicht so leicht zu beantworten, nicht zuletzt wohl, weil Zuneigung – unabhängig, ob man sie einer Person oder einer Sache entgegenbringt – auch immer ein Moment des Irrationalen in sich trägt. Man kann sich der Antwort aber annähern, vielleicht über einen Umweg: Was vermisst man, wenn man diese Messe nicht besuchen kann – und was unterscheidet die beiden Messen in Frühjahr und Herbst voneinander? Die Pandemiejahre haben dahingehend Aufschluss gegeben.

Spätestens 2021, als Leipzig zum zweiten Mal abgesagt wurde und unsicher war, ob Frankfurt würde stattfinden können, wurde eine Grundsatzdiskussion immer lauter: Braucht es diese Messen überhaupt? Geht es nicht auch ohne? Und nicht zuletzt: Können die Betreiber diese Absagen ökonomisch überleben? In Frankfurt wurden diese Fragen ohne jeden Zweifel leiser diskutiert. Warum? Weil es in Frankfurt viel stärker als in Leipzig um ökonomische Fragen geht. Es gibt das riesige Agentencenter, dort werden die nationalen und vor allem die internationalen Verträge geschlossen.

Das soll nicht heißen, dass das Lesepublikum keine Rolle spielt, aber dass an den ersten Messetagen ausschließlich akkreditierte Fachbesucher aufs Gelände dürfen, unterstreicht den Schwerpunkt: An diesen Tagen bleibt die Branche unter sich. Das ist auch nicht zu beanstanden, Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, die zwar von ihren Leserinnen und Lesern abhängig sind, aber gleichzeitig Rahmenbedingungen schaffen müssen, um im Spiel von Angebot und Nachfrage mithalten zu können. Es verwundert nicht, dass niemand ernsthaft den Nutzen dieser Messe infrage gestellt hat.

In Leipzig hingegen lagen die Dinge zuletzt ein wenig anders, natürlich auch bedingt durch drei Komplettabsagen (die Messe in Frankfurt fand dagegen immer statt – 2020 digital, 2021 mit Zugangsrestriktionen, 2022 weitestgehend normal). Anfang 2022 hatten zahlreiche Konzernverlage, die wenige Monate zuvor in Frankfurt vor Ort waren, angekündigt, nicht in Leipzig vertreten sein zu wollen – ein Sargnagel für den Versuch, die Veranstaltung wieder durchzuführen.

Anlass waren in erster Linie Bedenken angesichts der Pandemie, dass es aber zugleich auch finanzielle Gründe gab, wurde in internen Gesprächen nicht bestritten. Neben dem tatsächlich relevanten Faktor, in ökonomisch volatilen Zeiten Stand-, Reise- und Übernachtungskosten zu sparen, wenn nicht mal sicher sein konnte, dass sich Aufwand und Ertrag zumindest die Waage halten, spielte sicher auch eine Rolle, dass in Leipzig eben das Lizenzgeschäft eine vernachlässigbare Komponente darstellt – im Frühjahr ist die Buchmesse in London dahingehend das Businesspendant zu Frankfurt.

Im Anschluss an die endgültige Absage musste ein Gipfeltreffen zwischen Kulturstaatsministerin Claudia Roth und anderen Spitzen der Politik stattfinden, um durch ein Bekenntnis zur Leipziger Buchmesse ein wenig Ruhe in die Debatte zu bringen – dass dieses Treffen überhaupt notwendig war, zeigte, in welch prekärer Situation sich die Messe befand.

Literatur ist mehr als ein Wirtschaftszweig

Was jedoch das Flair der Leipziger Buchmesse ausmacht, zeigte sich nach dieser Absage. Die unabhängigen Verlage, jene also, hinter denen kein Großkonzern steht, richteten kurzerhand eine Pop-up-Messe aus: Initiiert von Voland & Quist und dem Kanon Verlag präsentierten über 60 zumeist kleinere Verlage, aber eben auch Suhrkamp und Hanser, ihre Programme. Die vorhandenen Stände in einer alten Fabrik waren binnen Stunden gebucht, die Eintrittskarten für das Publikum rasch ausverkauft.

Von der Tagesschau bis zu den großen Tageszeitungen berichteten alle Medien: Das sind Fakten, die auswertbar sind und Erfolg unterstreichen. Daneben gibt es aber noch eine emotionale Ebene, die sich der Messbarkeit entzieht: Diese Messe war wichtig für das Selbstverständnis der Branche – und weit darüber hinaus. Nach ökonomisch heiklen Jahren, in denen Buchverkäufe zu Beginn der Pandemie zunächst stiegen, um dann doch wieder auf das historisch niedrige Niveau der Vorjahre zu fallen, in denen Lieferketten, Papiermangel und Publikumsschwund das Leben nicht leichter gemacht haben, selbstbewusst zu zeigen, dass man noch da ist und mit Zuversicht in die Zukunft blickt, kann nicht geschadet haben. Man darf nicht unterschätzen, wie wichtig Begeisterung und Optimismus für den Erfolg einer Sache sind, das ist in der Welt der Bücher nicht anders als beim Fußball.

Es ist genau diese Atmosphäre, die in Leipzig immer beeindruckt hat: Literatur ist mehr als ein Wirtschaftszweig, sie kann die breite Gesellschaft begeistern, vor allem als gemeinsam erlebtes Ereignis. Einige der schönsten Lesungsabende finden jähnlich auf der L3 statt, der Langen Leipziger Lesenacht in der Moritzbaste. Alle Räume in diesem alten Gewölbe werden parallel bespielt, man stellt sich sein eigenes Programm zusammen und wechselt von dieser Lesung zu jener. Und zwischen den Veranstaltungen treffen sich alle wieder dort, wo man sich immer trifft: an der Bar oder im Hof zum Rauchen.

Einen Backstagebereich für die auftretenden Autorinnen und Autoren gibt es nicht, sodass Publikum und Lesende sich immer wieder über den Weg laufen und ins Gespräch kommen. Und dann gab es 2018 diesen Abend in der Lyrikbuchhandlung: Bis weit nach Mitternacht lasen ein Dutzend Menschen aus ihren Gedichten, während draußen Schnee fiel. Die Bahnen hatten irgendwann ihren Dienst eingestellt, Taxis schlichen im Schritttempo durch die ungeräumten Straßen, aber immer wieder ging die Tür auf, jemand klopfte sich den Schnee vom Mantel und setzte sich dazu. Während der Wintereinbruch draußen die Stadt lahmlegte, gab es für die Lyrikbegeisterten nichts Wichtigeres, als trotzdem zu kommen – wie auch immer man es später zurück in die Innenstadt oder zu einer der legendären Partys schaffen würde.

Leipzig ist schon immer in erster Linie eine Messe fürs Publikum gewesen. Das beschränkt sich nicht darauf, dass neben Fachbesucher*innen alle Interessierten vom ersten Tag an eingeladen sind, zu relativ moderaten Preisen das Gelände zu besuchen. Vielmehr wird für vier Tage im Frühling die ganze Stadt zu einem Festivalort: »Leipzig liest« ist der Slogan. Nach offiziellen Angaben fanden 2019 im Rahmen von »Leipzig liest« 3.700 Veranstaltungen statt. Das Frankfurter Pendant »open books« hat im Vergleich 2022 100 Veranstaltungen realisiert.

Der Vergleich hinkt ein wenig, weil bei »Leipzig liest« jeder Veranstalter Lesungen melden kann, wohingegen »open books« nur an ausgewählten Orten kuratierte Events umfasst und links und rechts davon noch viel mehr stattfindet. Aber um genau diese Diskrepanz geht es eben auch: Dass im Frühjahr eine Stadt kollektiv zum Kulturort wird, alle Kräfte gebündelt werden statt jeder für sich. In Leipzig wird alles unter der gemeinsamen Dachmarke bespielt: Läden, Restaurants und Buchhandlungen, Kulturinstitutionen und Eventlocations, Bars und Bibliotheken geben Romandebüts und Sachbüchern, Lyrik und Bestsellern Raum, in einer Dichte, die es unmöglich macht, am frühen Abend durch die Stadt zu laufen und nicht in eine Lesung zu geraten.

Das »Wir« im Fokus

Das diesjährige Gastland in Leipzig, Österreich, präsentiert sich unter dem Motto »meaoiswiamia«, »mehr als wir«. Katja Gasser, Literaturkritikerin und Kuratorin des Auftritts, erklärt das so: »Jedes ›Wir‹ birgt die Gefahr in sich, zu einer ideologischen Behauptung zu verkommen. Zugleich: Eine Gesellschaft, die auf ein ›Wir‹ pfeift, bringt sich um die Solidarität, die ihr sozialer Kitt ist.« Eine sympathisch differenzierte Definition des Personalpronomens »wir«: Zu hoch gehängt, verkommt es zur pathetischen, leeren Worthülse. Ohne »wir« kommt aber keine Gesellschaft aus.

Die vier Messetage im Frühjahr, in denen eine ganze Stadt Lesungen veranstaltet, nehmen dieses Wir in den Fokus. Sie erinnern uns daran, was Kunst im besten Falle sein kann: kollektiv erlebbar und gerade deshalb anschlussfähig für Debatten und Gespräche. Von Tag eins an führt uns die Messe vor Augen, wie divers unser Publikum eigentlich ist: Da mischen sich Schulklassen mit den grauen Eminenzen der Branche, die aufwendig kostümierten und geschminkten Cosplayer kreuzen die Wege von Verlegerinnen und Verlegern in Businessoutfit.

Diese Begegnungen sind nicht zuletzt deswegen wichtig, weil sie uns damit konfrontieren, in welch begrenzten und homogenen Diskursblasen wir uns im Rest des Jahres bewegen. Diese wuselige Buntheit, die in Leipzig ausgeprägter ist als andernorts, holt uns alle auf schönste Weise auf den Boden der Tatsachen zurück: Hier stehen nicht wir im Mittelpunkt, sondern all jene, von denen wir abhängig sind, weil sie Bücher kaufen und unsere Veranstaltungen besuchen.

Die Organisatoren dieser Messe sind seit vielen Jahren bemüht, die große Zuneigung des Publikums zu unserer Zunft zu pflegen. Mit Erfolg. Und genau deshalb ist es auch so wichtig, dass wir uns in diesem Frühjahr wieder in volle Züge setzen, dass die Leipziger Buchmesse weiterhin existiert und ihre große Stärke unter Beweis stellen kann: Sich auf das »Wir« zu konzentrieren.

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