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Herausforderungen für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Die Suche nach der Weltvernunft im postfaktischen Zeitalter

»Es ist ein schreckliches Schauspiel, wenn die Irrationalität populär wird«, schrieb Thomas Mann 1944 in der Zeitschrift The Atlantic. Das Wirken Manns kann als Chiffre für die transatlantischen Kulturbeziehungen gelesen werden, gerade angesichts der heutigen Weltlage, in der Flucht und Exil auf der Tagesordnung stehen. Die Villa des Literaturnobelpreisträgers von 1929 in seinem kalifornischen Exil ist neuerdings Gegenstand der deutschen Außenpolitik, genauer gesagt, der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik (AKBP). Die Bundesrepublik hat das Haus bekanntlich erworben, um an diesem Ort künftig die großen Fragen der transatlantischen Beziehungen zu diskutieren.

Warum aber interessiert sich die AKBP für die Villa Thomas Manns, dessen frühe Haltungen doch keineswegs unproblematisch waren? Denn zu Recht wird er wegen seiner frühen Kriegsbegeisterung, seiner Gedanken im Kriege von 1914 und seines Antisemitismus kritisch betrachtet. Aus Manns Biografie lässt sich ein Lernprozess ablesen: Als politischer Autor wurde er ein wortmächtiger Streiter für den Humanismus, eine Galionsfigur der Hitlergegner und sogar von Willy Brandt in den Kriegsjahren als Präsident für ein »Deutschland nach Hitler« erwogen. Doch darf nicht verschwiegen werden, wie ambivalent Manns Beziehung zum Judentum war. Obwohl seine Frau Katia Jüdin war, er einen intensiven Austausch mit jüdischen Intellektuellen pflegte, stand er wohl, vor allem in seinem frühen Werk, »zwischen antisemitischen Klischees und bekennendem Philosemitismus«, wie dies in der neueren Thomas-Mann-Forschung diskutiert wird.

Aus den Vereinigten Staaten, auch aus seiner ehemaligen Villa in Pacific Palisades – oftmals bezeichnet als das »Weiße Haus des Exils« – richtete Mann dann zwischen 1940 und 1946 das mahnende Wort als redegewaltige Stimme der Vernunft aus den Volksempfängern an die »deutschen Hörer«. Die BBC übertrug insgesamt 58 seiner pointierten Ansprachen, in denen er das Kriegsgeschehen kommentierte und zum Widerstand gegen Hitler aufrief.

Die ambivalente Rezeption seines politisch-publizistischen Schaffens, gespickt mit Vorwürfen von links und rechts, kommentierte Willy Brandt in seiner Autobiografie Links und frei auf seine Weise: »Wenn aber alle Konservativen sich ein wenig an seinen Konservatismus gehalten hätten und alle Sozialisten so humanistisch gewesen wären wie er, stünde es um unsere Erde ein wenig besser.« 

Die besondere Verbindung zu Willy Brandt sah der Germanist Hans Rudolf Vaget in einem »militanten Humanismus« begründet, der sich aus der biografischen Kongruenz der Flucht- und Exilerfahrung der beiden Persönlichkeiten herleite. Ihre »unvermutet starke Gesinnungsaffinität (…), die über den zufällig gleichen Ursprungsort Lübeck weit hinausgeht«, ist auch insofern interessant, weil Willy Brandt Vorkämpfer für eine Auswärtige Kulturpolitik als »Arbeit an der Weltvernunft« war, was deren heutiges Selbstverständnis prägt. In seinen Erinnerungen von 1989 stellte Brandt klar, seine in Oslo erläuterte, auswärtige Politik sei von Thomas Mann einst vorgegeben worden.

In der Villa Mann sollen künftig Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und andere Intellektuelle Streitgespräche führen, um sich der gemeinsamen demokratischen Wertebasis zu vergewissern. Das ist die Aufgabe der Stunde.

Die AKBP ist dabei das wirkmächtigste Instrument des diplomatischen Werkzeugkoffers im vielzitierten »postfaktischen« Zeitalter. Wir brauchen ihre Dialektik aus »Diplomatie der Kultur« und »Kultur der Diplomatie« ebenso wie das Reflexionsvermögen der Künste gerade für das transatlantische Verhältnis – aber auch in einem schlingernden Europa. Und vielleicht lässt sich aus der Geschichte Thomas Manns lernen, der sich am Ende seiner Verantwortung als intellektueller Autorität nun wirklich bewusst war.

Das Misstrauen sucht Zuflucht in der Lüge

»Wenn die Irrationalität populär wird« – damit hat Thomas Mann vorweggenommen, was die modernen Zeiten charakterisiert, »postfaktisch« wurde zum internationalen Wort des Jahres 2016. Wenn auch nicht so ganz klar ist, was damit eigentlich genau gemeint ist, so hat seine Verwendung seit 2015 doch um 2.000 % zugenommen, wie die Redaktion der Oxford Dictionaries ermittelte. Der Begriff verbreitete sich in der retrospektiven Erfassung dessen, was der Brexit für die Zukunft Europas bedeutet – und wie es dazu kommen konnte. Endgültig wie ein Tsunami über den Atlantik geschwappt ist das »Postfaktische« dann mit dem Wahlsieg von Donald Trump, den Eduard Kaeser in der Neuen Zürcher Zeitung bereits im August des letzten Jahres als »Sumpfblüte« des »postfaktischen Zeitalters« charakterisiert hatte. Alard von Kittlitz erklärte in der ZEIT, was es mit den post-truth politics auf sich habe, benutzte aber den deutschen Begriff »postfaktisch« noch nicht. Angela Merkel hat den Begriff nach der für die CDU verlorenen Berlin-Wahl verwendet. Seitdem geistert er schillernd durch alle möglichen Diskurse. In den USA ist post-truth als Adjektiv und als Substantiv seit etwa 2012 im Sprachgebrauch. Kurios: Der Duden kennt die deutsche Entsprechung (noch) nicht. Dort ist allerdings ein anderer, eindeutiger und weniger intellektuell angestrichener Begriff zu finden: die Lüge.

Soziologen und Medienforscher haben versucht, das Postfaktische als Medienphänomen zu beschreiben. Manche machen Facebook, die Fake News in sozialen Medien oder Social Bots verantwortlich. Sie seien Werkzeuge populistischer Seelenfänger. Auch Donald Trump selbst hat auf die Bedeutung der Social Media für seine Kampagne hingewiesen. Technologieskepsis allein führt aber nicht auf den Grund des Problems, der Hochkonjunktur des Postfaktischen.

Der Populismus wuchs heran als Krisenphänomen der repräsentativen Demokratie in der globalisierten Welt, mit antidemokratischen Tendenzen freilich. Populismus ist damit gefährlich. Wer an der Menschenwürde, den Menschenrechten, dem Demokratieprinzip oder der Gewaltenteilung rüttelt, handelt schlicht verfassungsfeindlich. Kurz: Er macht sich strafbar. Dennoch müssen wir konstatieren: Die Populisten, Demagogen und Hetzer zündeln nicht mehr nur, sie begehen Brandstiftung. Ihr Feuer verfängt dies- und jenseits des Atlantiks.

Der 2016 verstorbene Philosoph und Schriftsteller Umberto Eco definierte Mitte der 90er Jahre Merkmale eines »Urfaschismus« anhand von 14 Kriterien, als eine Art »Faschismustest«, um dadurch künftig zu verhindern, was er im Italien Benito Mussolinis als Junge erlebt hatte. In wenigen Monaten wird der Präsident oder – notabene – die Präsidentin der Grande Nation gewählt, in Deutschland folgt auf die Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und NRW die Bundestagswahl. Wir sollten uns mit Umberto Ecos Kriterien beschäftigen. So weitsichtig unser Grundgesetz ausgestattet und unsere Demokratie auch wehrhaft ist, so bleibt sie doch verletzbar. Auch wir können uns am Feuer der Populisten verbrennen. Denn ausgerechnet aus der Verunsicherung, die eine sich verändernde Welt mit sich bringt, wird die Zuflucht in der Lüge gesucht.

Obgleich Deutschland in der Mitte Europas, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ein reiches Land ist, in dem niemand verhungern muss, spüren auch hier die Menschen die Schere zwischen Arm und Reich, die auch eine Schere der Aufklärung, zwischen Bildungsunterschieden, ist. In den USA war es auch diese gesellschaftliche Verwerfung, die Donald Trump zum Aufstieg verholfen hat.

Die möglichen Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen und die globale Ordnung sind ungewiss, müssen aber aus deutscher Perspektive immer im europäischen Konzert und unter Einbeziehung Russlands betrachtet werden, das im neuen Streben nach Größe und Bedeutung alte Gewissheiten außer Kraft setzt – und dabei in Kauf nimmt, Regeln zu verletzen. Ein gefährlicher Trend und vielleicht die größte Gefahr unserer Zeit ist es, eine der größten Errungenschaften des letzten Jahrhunderts, die Verständigung der internationalen Gemeinschaft in internationalen Organisationen, an die Entscheidungsgewalt in den Händen einzelner zu verlieren. Selbstgegebene Regeln funktionieren nur, wenn sich alle Beteiligten an sie halten. Dazu zählen etwa die Achtung der Menschenrechte, die Gleichberechtigung der Geschlechter und die ökologische Nachhaltigkeit. Sie sind die echten Fortschritte in der Zivilisationsgeschichte der einen, globalen Welt. Was, wenn sich im postfaktischen Zeitalter die postfaktischen Staatenlenker nicht mehr an sie gebunden fühlen? 

»Gegen Ideologisierung hilft nur Differenzierung«

Ein Teil der Antwort kann vielleicht in einer Außenpolitik liegen, die sich als eine Gegenbewegung zu den autoritären Tendenzen der Welt versteht. Eine »Außenpolitik der Zivilgesellschaften« statt einer »Außenpolitik der Staaten«, möchte man mit Ralf Dahrendorf rufen. Die Stärkung der Zivilgesellschaften kann jedenfalls dabei helfen, im Dialog nach der Wahrheit zu suchen – wissend, dass es die eine Wahrheit niemals gibt, in der unterschiedliche Betrachtungen, Geschichten, Traumata und Vorstellungen aufeinander treffen.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aufgespannten Folie aus Populismus, Ressentiment und Nationalismus muss die AKBP wirken. Frank-Walter Steinmeier hat in einer Rede im April 2016 mit der Formel »Gegen Ideologisierung hilft nur Differenzierung« beschrieben, wie die Dimensionen von Kultur und Bildung in religiösen, kulturellen und weltanschaulichen Konfliktlagen dazu beitragen können, diese zu entschärfen. Ein Kernelement: den Menschen Zugang zu Kultur und Bildung zu verschaffen.

Demgegenüber ein Gegengewicht der Wahrheitssuche zu bilden, den rationalen Diskurs zu pflegen, sich der eigenen Werte zu versichern, eine Vielfalt an Ansichten und Einsichten zu ermöglichen, sich über Weltbilder, Gesellschaftskritik und Utopien auszutauschen – das ist Aufgabe der AKBP.

In der Tat hat die Kulturdiplomatie angesichts von Krisen und Konflikten an Bedeutung gewonnen, denn sie hält Gesprächskanäle geöffnet. Ihr diplomatisches Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft. Nicht zufällig waren es die sozialdemokratischen Außenminister, die die AKBP gestärkt und als wesentliches Instrument ihrer Diplomatie genutzt haben, als Mittlerin einer Friedenspolitik in der Welt. Am Ende der Amtszeit von Frank-Walter Steinmeier als Außenminister hat der Haushalt der AKBP mit gut 923 Millionen Euro eine neue Rekordmarke erreicht. Schon der Betrag im Regierungsentwurf war so hoch wie noch nie – der zuständige Unterausschuss machte zudem zusätzliche 48 Millionen möglich, um etwa die Programmarbeit in Krisenregionen, die Philipp-Schwartz-Initiative für geflüchtete Wissenschaftler sowie den Ausbau des Netzwerkes an Partnerschulen im Ausland voranzutreiben.

Ebenso wie die zwei großen Vorhaben in der transatlantischen Zusammenarbeit: Die Thomas-Mann-Villa an der Westküste in Los Angeles in Nachbarschaft zur Villa Aurora sowie die Entwicklung der German Academy an der Ostküste, direkt auf der Fifth Avenue in New York. Beide Orte werden auf ihre Weise als Residenzen und intellektuelle Debattenorte genutzt werden, was angesichts einer tiefen politischen Spaltung und des Auseinanderdriftens in zentralen Gesellschaftsfragen dringend notwendig ist. Wichtige Themen wie das Überwachen und Abhören, der Freihandel, die Sozialpolitik oder Zukunftsthemen, wie Digitalisierung, Klimapolitik und Kreativwirtschaft, stehen an. Intellektuelle können an der Weltvernunft arbeiten. Mehr noch: Sie haben die Verantwortung dazu.

Das galt in den zehn Jahren, in denen die Manns ab 1942 das Haus am San Remo Drive bewohnten und dort emigrierte Literaten, Künstler, Schauspieler und Wissenschaftler zu Gast hatten, ebenso wie heute. Denn in einer Welt im Umbruch ist nur das Ungewisse gewiss. Neue Vorstellungen darüber, wie die Welt neu verfugt werden kann, entstehen nicht von selbst. Thomas Manns Glaube an den Sieg der Demokratie ist das, was in Europa heute Not tut. Sonja Zekri stellte in der Süddeutschen Zeitung zum Kauf der Mann-Villa fest: »Auswärtige Kulturpolitik ist wichtiger denn je. Nur ist das keine gute Nachricht.«

Warum eigentlich nicht? Trägt die AKBP doch überall da, wo sie die Sprachlosigkeit durchbricht, mit sanfter Macht zum Frieden bei. Sicher ist: »Das feine Schweigen«, wie es der Historiker Fritz Stern formulierte, können wir uns zum Beginn des Jahres 2017 weniger denn je leisten.

 

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