Es war so um die Zeit, als ich vom studentisch-radikalen Pseudo-Bolschewiken allmählich zum gemäßigten Linken wurde, als die Älteren um mich herum plötzlich den Genuss entdeckten, was ich mit Erstaunen und Neugierde zur Kenntnis nahm, ohne groß daran teilzuhaben, weil ich sowohl von meinen lebenskulturellen Hintergründen als auch von meinem Kontostand dazu nicht in der Lage war (was übrigens, wie wir aus heutigen »Klassismus«-Debatten wissen, zusammenhängt).
»Ich lernte faszinierende Begriffe wie ›Brunello di Montalcino‹ kennen, die sich für ewig in mein Gedächtnis einbrannten.«
Ich erinnere mich an meine Aufgaben als frischgekürter Jungredakteur, als ich in der Arbeiter-Zeitung, damals noch existent und formal sogar weiter »Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs«, eine Doppelseite zu betreuen hatte, bei der es plötzlich um gute Weine ging. Ich hatte von guten Weinen keine Ahnung, konnte mir bis dahin in meinen bevorzugten Kneipen nur den Hauswein leisten, und lernte faszinierende Begriffe wie »Brunello di Montalcino« kennen, die sich für ewig in mein Gedächtnis einbrannten. Von meinen ersten Monatslöhnen fuhr auch ich mit dem Zug von Wien nach Florenz, wo ich an jeder Ecke irgendwelche Bekannten traf, etwa den jungen Stadtrat Michael Häupl, der später als Wiener Bürgermeister zu einer Legende werden sollte. Man sagte mir, dass die Freundestrupps in kargen Bauernhäusern mit Natursteinen in den Hügeln der Toskana Urlaub machten, und man schwärmte mir von den geschwungenen Straßen, den idyllischen Dörfern, dem Blick in die Landschaft und den imposanten Zypressen vor.
Irgendwann war ich dann auch zu einer Hochzeit auf irgendwelchen fantastischen »Agriculturas« eingeladen und kurvte mit einem Freund in seinem VW-Golf-Kabrio mit offenem Dach durch die Gegend, die Haare wehten, ein Kollege hatte einen Strohhut auf und wir fühlten uns ein wenig wie Filmstars.
Es war die Zeit, in der der Begriff der »Toskana-Fraktion« geboren wurde, womit eine Spielart von Sozialdemokraten gemeint war, und der etwa in Deutschland so unterschiedliche Leute wie Oskar Lafontaine, Peter Glotz, aber auch Gerhard Schröder zugeschlagen wurden. Auch ein paar Grüne durften an Katzentischen Platz nehmen, wie Joschka Fischer. Was die Toskana zu so einem Sehnsuchtsort machte, war höchstwahrscheinlich mehrerlei: Sie war schön, und außerdem war die PCI – die Kommunistische Partei Italiens – hier stark, sie war im einfachen Volk tief verankert (jedenfalls legte man sich das so zurecht); die Toskana war auch leicht erreichbar, man konnte gut essen, sie war exotischer als Hessen, Kärnten oder Bayern, weshalb es eine gewisse Weltläufigkeit ausstrahlte, wenn man dorthin fuhr. Sie kultivierte die Kargheit und zugleich Glanz und Stil, man machte ein bisschen Urlaub am Bauernhof, aber die Bauernhöfe hatten die Grandezza heruntergekommener italienischer Aristokratie und nicht die Engstirnigkeit heimatlichen Landlebens mit seinem Kuhstallgeruch.
»Man konnte sich als irgendwie ›besonders‹ fühlen, mit einer Aura von Feingeistigkeit und Ästhetizismus umgeben.«
Eindeutig gab es mehr Individualtourismus als in den Erholungsgebieten, die von unseren Vorgängergenerationen bevorzugt wurden, wie Rimini, Jesolo oder Caorle. Man konnte sich also als irgendwie »besonders« fühlen, mit einer Aura von Feingeistigkeit und Ästhetizismus umgeben. Man konnte sich auch ein wenig an die Jugendtage erinnern, in denen man per Autostop oder mit dem klapprigen Käfer durch abseitige Landschaften fremder Länder tingelte und in Zelten oder im Straßengraben oder bei Genossen auf der Couch schlief, man hatte noch Reste dieses Spirits, aber ohne die Unbequemlichkeiten und ohne das schlechte Essen.
Jüngere können sich an diese Zeit wohl nicht mehr erinnern, und haben höchstwahrscheinlich auch noch nie von ihr gehört. Das Wort »Toskanafraktion« scheint mir heute aus dem Wortschatz verschwunden zu sein. Manchmal schreiben alte weiße Männer noch über sie, wenn ihnen sonst nichts einfällt, wie etwa Harald Martenstein (»Die Toskanafraktion galt ihren Verächtern als Indiz dafür, dass auch und gerade die führenden Linken ein total bourgeoises Leben führen.«) oder ich, wenn ich ausdrücklich danach gefragt werde und mir denke, irgendetwas wird mir dazu schon einfallen.
Politische Generation von Filous?
Schon bald kam die »Toskanafraktion« nur mehr als Schimpfwort vor, nicht erst heute, sondern wohl schon bald ab den 90er Jahren. Die Toskanafraktion stand für eine politische Generation von Filous, denen die existenzielle Ernsthaftigkeit von Leuten wie Kreisky, Brandt, Schmidt oder Wehner abging, die in den hedonistischen Gegenkulturen aufgewachsen sind, in den bedeutungslosen Hinterzimmerkonflikten irgendwelcher öder Juso-Ortsgruppen politisch sozialisiert wurden und einen Hang zum Luxus hatten. Das war natürlich auch ein bisschen ungerecht, aber auch nicht gänzlich falsch.
»Toskanafraktion«, da kommen viele Ambiguitäten zum Klingen: Eine Linke, die auf Differenz setzte, eine Linke, die die Gemütsenge, den Konformismus, das Spießertum und das Konventionelle, das sich auch in den Kulturen der Arbeiterbewegung breit gemacht hatte, nicht wirklich ertragen konnte. Teilweise war das natürlich auch eine verständliche Generationenfrage, denn diese Leute, die heute alle alt oder sogar schon tot sind, waren, bevor sie alt wurden, auch einmal jung gewesen und hatten ihre Konflikte mit dem kulturellen Konformismus ihrer Elterngenerationen, und diese Konflikte waren oft echte Brüche, wie man sie sich heute kaum mehr vorstellen kann, es waren echte Generationsbrüche mit Sprachlosigkeit und Unverständnis und dem Drang, die Herkunftsmilieus hinter sich zu lassen.
Mit diesen Arbeiterklassenkulturen, die ihre eigenen Engen hatten, hat man freilich auch das Proletariat hinter sich gelassen – »Abschied vom Proletariat« von André Gorz haben damals alle gelesen und weniger der Inhalt, als der Titel hatte schon etwas sehr Programmatisches – , und auch wenn das die Protagonisten damals nicht so empfanden, so wurden doch auch Abwege eingeschlagen, die heute gerne beklagt werden: Dass »die Linke« die »arbeitenden Klassen« oder die »einfachen Leute« vergessen habe, dass sie sich für die ästhetische Unbildung und manchmal auch für die fragwürdigen Ansichten derselben sogar genierte, ja, dass sie von einer Art von Verachtung diesen Leuten gegenüber geleitet war.
Von Arbeiter- zu Mittelschichtsparteien
Heute wissen wir, dass parallel zu diesem Geschehen auch Prozesse des sozialen Wandels einsetzten, ein ökonomischer Strukturwandel etwa, der viele Großindustrien mit ihren mächtigen Arbeiterheeren vernichtete, der auf der einen Seite zu Prekarität, wirtschaftlicher Verwundbarkeit und dem Abstieg der Arbeiterklasse führte, auf der anderen Seite wiederum zum Aufstieg von deren Kindern und der beweglichsten Teile der Arbeiterklasse in die Mittelschichten. Teile der arbeitenden Klassen verloren das Vertrauen in die Sozialdemokratien, die fürderhin einen größeren Anteil ihrer Wählerinnen und Wähler in den urbanen Mittelklassen gewannen. Die Sozialdemokraten verwandelten sich in »Mittelschichtsparteien«, allmählich, was die Wählerbasis anging, ziemlich schnell, akzentuiert und eindeutig, was ihren Funktionärskader und ihre Abgeordneten betrifft, die heute vorwiegend aus den relativ erfolgreichen, gut gebildeten Mittelschichten stammen und oft die Bildungseinrichtungen – Schulen, Universitäten – durchlaufen und danach direkt in den politischen Betrieb wechseln. Alles hier ist jetzt etwas holzschnittartig dargestellt, aber deswegen nicht falsch, aber natürlich auch nicht vollends richtig.
»Der Weg von der Toskana in die ›Neue Mitte‹ war ein ziemlich geradliniger«
Der Weg von der Toskana in die »Neue Mitte« war ein ziemlich geradliniger. Vor einiger Zeit war ich bei einer Diskussion bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, und ein älteres, normales Parteimitglied hat in sehr einfachen, aber auch sehr klugen Worten auf die Verlassenheitsgefühle der früheren sozialdemokratischen Wählerbasis hingewiesen. Eine der Mitdiskutantinnen auf dem Podium, die eine leitende Funktion im Parteiapparat hatte (ich habe Details vergessen), leitete ihre Antwort auf die Wortmeldung mit den Sätzen ein: »(…) Sie spielen auf die Auseinandersetzung zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen an«, worauf ich mir insgeheim dachte, »nein, darauf spielt er nicht an, weil er von dieser Debatte und diesen akademischen Begriffen natürlich noch nie gehört hat«, und ich dachte mir, dass dieser Hang, auf die Erfahrungswelten der Basis mit esoterischem Diskurs-Jargon zu reagieren, auch ein Teil unseres Problems ist.
Aber wenn wir zu unserem Thema zurückkehren, dann ist das Phänomen der »Toskanafraktion« natürlich genau in diese Debatte eingebettet, die mit den Schlagwörtern »Kosmopolitismus« und »Kommunitarismus« umkreist wird.
Hedonistische Wendung des Internationalismus
Die Toskanis waren natürlich die »Kosmopoliten«, ja, man könnte auch sagen, es war die hedonistische Wendung des Internationalismus. Man liebte die Ferne, und man hatte, durch Aktivismus, Politfunktion oder auch Beruf viele Netzwerke im Ausland. Die Juso-Anführer über die IUSY, linke Journalisten wiederum kamen berufsmäßig auf Reportagen viel herum, coverten hier eine Wahl, dort einen Krieg. Womöglich war man in Jugendtagen in einer K-Gruppe, die international gut vernetzt oder gar Teil einer hühnerbrüstigen »Internationale« war, was realpolitisch ohne Folgen war, aber sich in ein eng bekritzeltes Telefonbuch übersetzte, sodass man in Brüssel Ernest Mandel, in Paris Daniel Cohn-Bendit, in Rom Rosanna Rossanda jederzeit anrufen konnte. Später kamen dann auch noch Slavoj Žižek und die post-jugoslawischen Kumpels dazu, mit denen man es sich in Istrien und in Städten wie Piran gut gehen lassen konnte.
»Auch die Heimatdebatte fügt sich in die Diskurse von heute über Identitätspolitik, über eine ›neoliberal gewordene Linke‹ ein.«
Während die hedonistische Linke die Sehnsucht nach der Ferne lebte, gaben sich die Rechten heimattümelnd, bis dasselbe Feuilleton, das früher schlaue Gedanken über die »Toskanafraktion« wälzte, die Parole ausgab, es müsse fortan der Begriff der »Heimat« zurückerobert werden. Heimat als all das was Nahwelt ist. Das Intime des Vertrauten. Die Heimatdebatte ist eine ideologische, politische Auseinandersetzung, bei der es selten um die realen Heimatgefühle geht, die der Einzelne hegt. Es geht um Dinge, die nicht immer ausgesprochen werden. Da ist zunächst einmal die Frage des gesellschaftlichen Wandels. Heimaten verändern sich und das führt dazu, dass sich Einzelne zu Hause nicht mehr daheim fühlen. Auch die Heimatdebatte fügt sich in die heute gern geführten Diskurse über Identitätspolitik, über eine »neoliberal gewordene Linke« ein, die nicht mehr die Arbeiterklasse vertritt, sondern eine urbane Mittelschichtslinke geworden sei.
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