Wählerinnen und Wähler, so lautet die erste naheliegende Vermutung, entscheiden sich für die SPD, wenn sie sich Vorteile davon für ihr Leben versprechen. Meist denkt man dabei an materielle Sicherheit, aktuell im Rentenalter, bei Krankheit und Arbeitslosigkeit. Das scheinen im Kern die Sorgen derer zu sein, für die die SPD historisch angetreten ist. Auch das Thema Sicherheit stand in den Umfragen rund um die Bundestagswahl 2017 hoch im Kurs.
Als die SPD gegründet wurde, dachten ihre Anhänger allerdings nicht nur an sich selbst, sondern auch an die anderen, die Sicherheit und Unterstützung sowohl im eigenen Land als auch überall auf der Welt brauchten. Darauf bezog sich auch der Ruf nach internationaler Solidarität, also dass der eigene politische Kampf nicht nur für die eigene Klientel, sondern für alle, die von ihrer Arbeit leben (müssen), eine bessere Welt schaffen würde: Davon gingen die meisten aus, gestützt auf eine marxistische Sicht auf den geschichtlichen Fortschritt, auf einen Fortschrittsglauben, wie ihn Aufklärung und Wissenschaft nahelegten, auf den Glauben an die eigenen Werte oder an Gottes Verheißung für eine Welt der Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit.
Einiges spricht dafür, dass die Anhänger und potenziellen Wähler der Sozialdemokratie auch heute durchaus nicht nur an sich selbst denken. Sie engagieren sich oft in der Entwicklungszusammenarbeit, in sozialen Diensten zu Hause, in der Kommune oder in Verbänden. Sie folgen dem Frieden als Leitstern, fragen sich allerdings, wie er politisch in einer immer mehr von gewaltsamen Auseinandersetzungen gezeichneten Welt erreicht werden soll. Sie streiten für mehr Gerechtigkeit in der Bildung, in der Arbeitswelt, im Gesundheits- und Wohnungswesen. Sie stehen auf gegen Waffenhandel und für mehr Solidarität in Europa. Sie arbeiten für eine intelligente Flüchtlingspolitik auf der Ebene der Kommunen. Sie sorgen sich um die Demokratie und bringen allerlei über zivilgesellschaftliche Organisationen voran. Sie helfen ihren Nachbarn und erschrecken über den weltweit zunehmenden Gegensatz zwischen Arm und Reich. Dabei sind sie selbst nicht immer arm, sondern oft besser gebildet als ihre Eltern und in kreativen Berufen tätig.
Insgesamt – so meine These – wollen die Wählerinnen und Wähler von der SPD nicht einfach rundum versorgt oder kulturell ruhiggestellt werden, sondern politische, soziale und wirtschaftliche Bedingungen erlangen, in denen sie und alle anderen in Würde selbstständig leben, arbeiten, ein Auskommen haben, Familien und Freundschaften pflegen und auch für andere da sein können.
Wofür die SPD also politisch stehen muss, damit sie gewählt wird, ist dieser weite Horizont eines »guten Lebens«. Ebenso für Vertrauenswürdigkeit, Kompetenz, Gerechtigkeitssinn sowie eine allgemeine leitende und auszudifferenzierende Vorstellung davon, mit welchen Strategien und Instrumenten sie zu Hause und global für eine »bessere Welt« politisch sorgen und kämpfen will. Ja – kämpfen! Nur lauwarm dafür sein reicht nicht. Widerstände überwinden, Konflikte durchstehen, kluge Kompromisse eingehen und dabei eine schlüssige Linie erkennen lassen – darauf kommt es an. Die innerparteiliche Vielfalt muss eine gemeinsame Stoßrichtung aufweisen.
Vertrauen bringt man zunächst einer Person entgegen, es verlangt also überzeugende Persönlichkeiten. Schon immer waren die vor allem auf kommunaler Ebene zu finden, wo man sie »anfassen« kann. Eine erste Konsequenz aus der Wahlniederlage der SPD im September muss sein, dass auf allen Ebenen mehr eigenständige Persönlichkeiten »zum Anfassen« erkennbar werden müssen. Persönliches Vertrauen strahlt dann auf längere Sicht auch auf die Partei aus. Die vom neuen SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil angestrebte Stärken-/Schwächen-Analyse des vergangenen Wahlkampfes wird das vermutlich zeigen.
Auch das Programm ist selbstverständlich wichtig. Hierbei werden zu oft Ziele und zu wenig Instrumente, Strategien, Bündnispartner – kurz: realistische Chancen der praktischen Umsetzung genannt. Der SPD fehlte im Wahlkampf die »Machtperspektive«, im engeren parteipolitischen, aber auch in einem weiteren Sinne, nämlich insgesamt in der Gesellschaft Verbündete zu finden. Diese Frage verweist auf Hannah Arendts Verständnis von Macht.
Im Unterschied zu einer Macht, die andere zwingen kann etwas zu tun, was sie ursprünglich nicht wollten (Max Weber), versteht Hannah Arendt Macht als das Vermögen, Bürgerinnen und Bürger für ein gemeinsames Projekt zu gewinnen, zu mobilisieren und es mit ihnen umzusetzen. Anders als Konservative ist die politische Linke, die ja die Verhältnisse ändern und eine bessere Welt schaffen will, auf diese Art von Macht angewiesen. Dazu gehört für die SPD – im klaren Gegensatz zum »Auf-Sicht-Fahren« der Kanzlerin – eine Vorstellung von einem »guten«, gelungenen Leben und die Überzeugung, dass man die sozialen und politischen Bedingungen dafür schaffen kann und soll. Ohne eine solche überzeugende Perspektive wird Politik immer wieder zum Selbstbedienungsladen, aus dem kein Vertrauen entstehen kann.
Diese geistige Seite einer »begeisternden« Macht hat die SPD trotz ihrer vielen aktiven Mitglieder in den letzten Jahren zu wenig erkennen lassen. Konservative brauchen sie nicht, ja schätzen sie in der Regel zugunsten betonter Nüchternheit gering, weil sie letztlich de facto vor allem Besitzstände schützen wollen.
Begeisterung fördert keine Illusionen und bleibt in der Realität, bei ihr halten sich Leidenschaft und Vernunft in einer Balance. Sie wird konkret. Aber sie weiß, dass sich Politik in einer Welt voller Gegensätze von Arm und Reich, voller unnötigem Leid, voller unerträglicher Verschwendung, die die Natur und andere Ressourcen zerstört, voller Egoismus und Leichtsinn derer, die nicht abgeben wollen, nicht im Klein-Klein verlieren darf.
Vielmehr muss sie neue Horizonte der Teilhabe – als Partizipation und als Gerechtigkeit – eröffnen, wenn alle Menschen eine Chance auf ein freies, verantwortliches und solidarisches Leben haben sollen. Sie muss diese Teilhabe global wie kommunal ausbuchstabieren und den Mut dazu aufbringen, Strategien der gerechten Teilhabe am globalen Reichtum zu propagieren – z. B. Steuererhöhungen für die Sicherung öffentlicher Güter und damit für mehr Gerechtigkeit –, auch wenn sie damit auf den wütenden Protest der politischen Gegner stößt. Ein Beispiel dafür sind gemeinsame europäische Infrastrukturinvestitionen, wie sie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner eben auch »begeisternden« Rede an der Sorbonne vorgeschlagen hat, für die dann solidarisch gebürgt wird (was im Verfahren des »Europäischen Semesters« durchaus gegen Leichtsinn nationaler Regierungen abgesichert werden kann. Das »Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik« wurde 2011 auf Vorschlag der Europäischen Kommission eingeführt und ermöglicht ihr die frühzeitige Überprüfung der nationalen Haushalts- und Reformentwürfe, bevor diese von den nationalen Parlamenten beschlossen werden).
Der Realitätsbezug dieser notwendigen sozialdemokratischen Begeisterung erschöpft sich nicht in der buchhalterischen Bestandsaufnahme dessen, was ist, und in der Addition der mächtigsten Interessen in der eigenen Wählerschaft. Er hat immer auch die Potenziale im Blick, dass Menschen über sich hinauswachsen können, auch Reiche!
Ohne diesen Blick verengt sich der Realismus auf eine Verkümmerung der Wirklichkeit um diese Potenziale, ohne die keine Europäische Union, keine Entspannungspolitik, keine Vereinten Nationen begründet worden wären. Sie sind jetzt immerhin der letzte Anker in einer globalen Entwicklung, in der Gesetzlosigkeit und krude politische oder ökonomische Macht gegenüber dem Recht die Oberhand zu gewinnen drohen. Frieden und Gewaltlosigkeit haben ohne Begeisterung, die die oft versteckten Friedenspotenziale in der Realität herausfindet und beharrlich immer erneut in die Welt bringt, keine Chance.
Übersetzt in die Frage nach den Wahlchancen der SPD im vergangenen Spätsommer und in Zukunft heißt dies, dass solche Begeisterung in der Gegenwart, in der die horizontlos-nüchterne Politik der Union und der Kanzlerin an ihr Ende gekommen und ratlos geworden ist, auch konkrete parteipolitische Umsetzungsoptionen braucht, die den Glauben an eine bessere Welt, an die Friedenspotenziale in unserer friedlosen Realität noch nicht aufgegeben haben. Das sind, nachdem sich die FDP unter Christian Lindner vorerst für einen National- und Wirtschaftsliberalismus entschieden hat, absehbar nur DIE GRÜNEN und DIE LINKE. Gemeinsame Projekte mit ihnen, die eine Mehrheit der Deutschen überzeugen können, fallen nicht in den Schoß, aber sie sind machbar.
Die SPD kann für eine solche Politik Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus gewinnen, selbst AfD-Wähler, wenn sie nur eine verlässliche Orientierung bietet. Dazu gehört, mithilfe einer entschiedenen Wirtschafts- und Sozialpolitik (in den Bereichen Gesundheit/Pflege, Wohnen, Rente, Familie), materielle Sicherheit zu ermöglichen und kulturell die dominierende Wettbewerbsmanie, die alle verunsichert und die meisten zu Verlierern macht, insbesondere in der Bildung und in der Kultur, zu überwinden. Damit würde die SPD zur psychischen Sicherheit beitragen, die dann nicht mehr auf die Droge des nationalistischen Chauvinismus angewiesen wäre. So kann sich Solidarität materialisieren, die letztlich das wichtigste soziale und kulturelle Sicherheitsnetz gegen die Vereinzelung, die Sinnlosigkeit und die Angst in der gegenwärtigen Welt des global ungebändigten Kapitalismus bietet.
Eine Regierungsverantwortung zusammen mit der Union bekommt der SPD und dem Land nur, wenn sie neue Horizonte öffnet: für einen solidarischen Aufbruch in der EU und eine entschiedene Klimapolitik, die auch für die aktuellen Verlierer Antworten hat. Für diese Dynamik brauchen wir DIE GRÜNEN, auch symbolisch und kulturell. Die Union hätte nach den Jamaika-Verhandlungen keine guten Gegenargumente. Bereitet die SPD damit das Bett für Schwarz-Grün? Nein, wenn gemeinsame Projekte SPD und DIE GRÜNEN verbinden und wenn diese Projekte, auch dank der Kooperation mit den GRÜNEN, in der Gesellschaft eine mehrheitliche Zustimmung finden. Das gilt allemal für eine großzügige Zusammenarbeit mit Macron für Europa und für eine entschiedene und zugleich sozial verträgliche Klimapolitik.
Die Union ist fixiert auf eine Politik der nekrophilen schwarzen Null und der Sicherheit durch Abschottung. Die politische Linke will die Türen für eine bessere Zukunft der Sicherheit durch Solidarität öffnen. Wenn sie dafür kämpft, wird sie die politische Macht dafür erhalten.
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