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Die (un-)soziale EU und ihr hässlicher Geburtsfehler

Glaubt man der Darstellung der im Lissaboner Vertrag von 2009 deklarierten Hauptziele der Europäischen Union, ihrer normativen politischen Selbstbeschreibung und der Handlungsfelder ihrer primären Zuständigkeiten, dann müsste sie an Haupt und Gliedern eine gut ausgebaute soziale Demokratie mit vergleichbarem Niveau in all ihren Mitgliedsländern sein. Das ist der eindeutige Anspruch des Vertrags und darauf beziehen sich auf dem Papier auch ihre weit gefassten Zuständigkeiten und Grundrechte. Aber selbst ein kurzer Blick auf die Wirklichkeit zeigt im Gegensatz dazu, dass die Union davon trotz der immer neu entfachten großen Debatten und Initiativen zum Thema meilenweit entfernt ist. Das fällt ihren Bürgerinnen und Bürgern in den sozial am besten ausgestatteten Ländern im Alltag so gut wie gar nicht auf. Nur der auf- und abschwellende Fluss der Arbeitsmigration aus Ost- und vor allem Südosteuropa und das soziale Elend in Ländern wie Griechenland im Gefolge der Eurokrise lässt dieses für die EU in Wahrheit lebensbedrohliche Defizit gelegentlich in die breite Öffentlichkeit treten. Und nur in den ganz großen Krisen, in denen es tatsächlich um das Sein oder Nichtsein der Union geht, wird es für einige Monate zum Thema für ganz Europa, allerdings auch nur, um alsbald wieder in deren Schatten zurückzutreten. Die EU bietet damit für die verbreitete Polemik, sie leide an einer neoliberalen Schieflage, zum Bedauern ihrer Freunde durchaus Anlass.

Was sind die Ursachen dieser im Grunde absurden Schieflage? Sie sind alles andere als ein politischer Zufall. Das institutionelle Gebäude unseres europäischen »Regionalstaats« (Vivien A. Schmidt), in dem so vieles bis ins letzte Detail festgelegt ist, beruht nämlich auf einem Grundlagenvertrag, der auf die beklagte Entwicklung geradezu angelegt ist. Er überlässt die Realisierung und die Ausgestaltung seiner in ihren Grundsätzen und Zielerklärungen so überwältigend groß beschriebenen »sozialen Säule« fast gänzlich dem Zustandekommen von Konsens und qualifizierten Mehrheiten im Rat der Sozialminister. Damit hängen die Verwirklichung der sozialen Rechte und das Schicksal sowie die Ausstattung der sozialen Sicherung immer am seidenen Faden der aus regionalen, ideologischen und/oder wahlpolitischen Gründen eher unwahrscheinlichen Konvergenz der Mitgliedstaaten in allen maßgeblichen sozialstaatlichen Belangen. Im scharfen Gegensatz dazu sind die Ziele und die Verfahren zur Vollendung des liberalen Wunschtraums eines einheitlichen Marktes für die gesamte Union so gründlich in ihrer Verfassung fixiert, dass die Beseitigung auch noch der letzten Hindernisse auf diesem Weg wie durch einen Automatismus garantiert ist. Dieser ergibt sich im Zweifelsfall aus dem hermetischen Zusammenspiel zwischen Kommission und Europäischem Gerichtshof – auch dann, wenn das EU-Parlament oder ein widerstrebendes Mitgliedsland einen bestimmten Wirtschaftsbereich im sozialen Interesse vor der externen Konkurrenz schützen möchte.

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter und Europaexperte Dieter Grimm hat überzeugend dargelegt, dass diese Art einer rechtlichen Selbstimmunisierung der Marktdominanz, die Lebens- und Identitätsfragen der Union ein für alle Mal dem offenen politischen Prozess entzieht, durch zwei heute kaum noch zu korrigierende Entwicklungen zementiert wurde. Zum einen wurden alle Regelungen hinsichtlich des gemeinsamen Marktes in Teil II der europäischen Verträge (Vertrag über die Arbeitsweise der EU), die eigentlich für den laufenden Gesetzgebungsprozess der EU zugänglich bleiben müssten, in den Rang von Verfassungsrecht erhoben. Befestigt wurde diese Sichtweise, als sie vom Europäischen Gerichtshof in zwei das Arbeitsrecht betreffenden spektakulären Fällen 2008 in diesem Sinne, von den Mitgliedsländern unwidersprochen, »normalisiert« wurde.

Die Architektur und der Bauplan der EU sorgen also für ein europäisches Haus in beträchtlicher wirtschaftsliberaler Schieflage. Der eigentliche Pferdefuß dieses gravierenden Missstandes besteht darin, dass er sich selbst dann nicht mehr korrigieren lässt, wenn die EU durch die wesentliche Erweiterung der Rechte ihres Parlaments vollends demokratisiert und überzeugende Mehrheiten für eine echte Sozialstaatlichkeit der ganzen Union hervorbringen würde, denn das Parlament hat auf diese »Verfassung« keinen Zugriff.

Kann die Union dieser Falle entkommen, an der sie sonst scheitern könnte? Denn es dürfte ja im Verlauf der letzten Problemjahre, von der Euro- bis zur Corona-Krise und den vielen Stolpersteinen zwischendrin, deutlich geworden sein, dass mit den wachsenden sozialökonomischen Widersprüchen zwischen den Mitgliedsländern die Solidaritätsreserven allmählich schwinden und die Grundfesten des schiefen Gebäudes brüchig werden. Zwar ist das große euphorische Integrationsziel der Römischen Verträge von 1957, das »immer engere Zusammenwachsen« der Mitgliedsländer, seit Maastricht 1993 zu den Akten gelegt, aber die »soziale Kohärenz«, ein die Solidarität verbürgendes Maß an Vergleichbarkeit der Lebenslagen und an sozialer Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger der Union, wird immer aufs Neue beschworen – und ist ja auch ihre eigentliche Lebensversicherung. Ein gemeinsamer Markt, der statt alle zu schützen in der Hauptsache trennt und aussortiert, kann, so viel ist sicher, auf Dauer das mühsam errungene Gemeinschaftswerk nicht zusammenhalten. Jede kommende Krise würde zur existenziellen Bedrohung für den Zusammenhalt des Ganzen.

Die Schieflage der europäischen Verfassung, ihre institutionelle Asymmetrie zwischen dem, was ihre »supranationalen« Institutionen selbstständig regeln dürfen (Kommission, Parlament, Gerichtshof) und dem, was stets der Zustimmung der Mitgliedstaaten bedarf (»intergovernmental«), wurde schon in der Gründungsurkunde der Gemeinschaft, den Römischen Verträgen, eindeutig festgeschrieben. Die »negative Integration« der Schaffung eines einheitlichen Marktes durch den Abbau von nationalen Grenzen und Regelungen hat seither immer Vorfahrt vor der »positiven Integration«, der Korrektur dieses Marktes durch den Aufbau europaweiter sozialer Regeln (Fritz W. Scharpf). Dem Vertragstext von 1957 vorausgegangen war ein Disput zwischen den sechs Gründungsmitgliedern über das Verhältnis von Markt und Sozialpolitik. Die Vertreter Frankreichs plädierten für die möglichst weitgehende Gemeinsamkeit verbindlicher Regelungen zur Sozialpolitik im Vertrag mit dem Argument, es widerspräche den Funktionsbedingungen eines gemeinsamen Marktes, wenn jedes Land für sich das Niveau seiner Sozialpolitik festlegen dürfe, weil dies die großzügigen Länder im Wettbewerb der Kosten benachteilige, etwa beim Thema Gleichstellung der Geschlechter und damit auch der Lohnkosten. Die deutschen Vertreter verweigerten ihre Zustimmung mit dem Hinweis, dass doch alle Mitgliedsländer Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft seien und es darum jedem Land überlassen bleiben könne, wie es seine zusätzlichen Gewinne aus dem vergrößerten Markt in soziale Leistungen umsetzen wolle. Das »immer engere Zusammenwachsen« der Gemeinschaft würde ja vor dem sozialen Bereich nicht Halt machen können. Mit ihrer Forderung auf absoluten Kompetenzminimalismus hinsichtlich der Sozialpolitik im Vertrag haben sich die Deutschen damals weitgehend durchgesetzt, ebendas hat dann allerdings die Erfüllung ihrer Zukunftshoffnungen weitgehend vereitelt. Die Sozialpolitik ist in der Wirklichkeit für die Politik der Gemeinschaft bis heute das Stiefkind geblieben, das sie von Anfang an war: Ihre Ziele sind rhetorisch groß, aber ihre realen Mittel sind dürftig.

Die Bilanz, die das erzeugt, ist erschreckend einseitig und eindeutig. Hunderte von sozialen Regulierungen, die tatsächlich zustande gekommen sind, beziehen sich im Kern alle auf Beiträge zur Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Marktes durch die Gewährleistung eines einheitlichen Niveaus sozialer Arbeitskosten. Es beginnt mit der Gleichstellung der Geschlechter zur Verhinderung niedriger Löhne für Frauen, geht über die sehr kostenintensive Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie die Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und ihrer finanziellen Förderung, die wechselseitige Anerkennung von Ausbildungsgängen und Berufsqualifikationen und reicht bis zur Regelung von Freistellungen und bezahltem Urlaub. Alles gut und wertvoll, aber auf dieser Grundlage dringt die europäische Sozialpolitik nicht in den harten Kern des Niveaus der Sicherung, vergleichbare Mindestlöhne und Arbeitsloseneinkommen oder die soziale Grundsicherung und Krankenversicherung und die Höhe der Renten vor. Natürlich kann von der EU nicht sozialpolitische Gleichförmigkeit erwartet werden, denn im Europa der 27 existieren fünf verschiedene Sozialstaatssysteme, die jeweils einer eigenen Logik folgen. Prinzipiell möglich ist aber eine Annährung der Ergebnisse im Hinblick auf den Umfang und das relative Niveau der Leistungen.

Das aber will im Kernbereich sozialer Sicherheit außerhalb der Arbeitswelt nicht gelingen. Im Weg stehen dem außer dem skizzierten institutionellen Rahmen eine Reihe naheliegender Gründe, die die Regierungen der Mitgliedsländer immer wieder daran hindern, die Möglichkeit des Konsenses oder qualifizierter Mehrheiten für eine fortschrittliche Sozialpolitik in ganz Europa zu nutzen: ideologische Aversion im Falle ihrer (neo-)liberalen Prägung; die Befürchtung der großzügigen (skandinavischen) Sozialstaaten, Festlegungen auf EU-Ebene könnten sie später einengen; und umgekehrt, Befürchtungen der Niedriglohnländer, kostspielige EU-Regelungen könnten ihre begrenzten Kostenvorteile ganz zunichtemachen. Dazu kommt das wahlpolitische Kalkül bei allen, die Belohnung der Wähler für bessere Sozialleistungen lieber im eigenen Lande zu kassieren, als im fernen Brüssel verpuffen zu lassen. Die nachhaltige Behebung der institutionellen Schieflage der EU verlangt nichts weniger, als eine grundlegende Neugestaltung der europäischen Verträge, ihr stehen leider dieselben Hindernisse im Weg, die bisher schon eine großzügige Sozialpolitik blockierten.

So wie die Dinge in der EU liegen, gibt es letztlich nur einen erfolgversprechenden Weg nach vorn. Politische Mobilisierung zur vollen Nutzung des geringen Handlungsspielraums in den Mitgliedsländern selbst und in den Gremien der EU. Zwei solche Initiativen mit erheblichem Anspruch sind in jüngster Zeit in Brüssel gestartet worden: die Installation einer »Europäischen Säule sozialer Rechte« 2017 als gemeinsamer Selbstverpflichtung von Europäischem Parlament, Europäischem Rat und Kommission und der Startschuss der Kommission für eine gesamteuropäische Arbeitslosenrückversicherung (SURE) im April dieses Jahres. Falls es gelingt, beide Initiativen im beabsichtigten Sinne wirksam werden zu lassen, so wäre dies ein Hoffnung weckender großer Schritt nach vorn.

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