Bereits Ende der 60er Jahre entstanden die ersten Juso-Hochschulgruppen, der Bundesverband wurde 1973 gegründet. Neben bildungs- und wissenschaftspolitischen Fragestellungen wurden zunehmend auch gesamtgesellschaftliche Themen wie Nachhaltigkeit, Gleichstellung, Gute Arbeit und Digitalisierung auf die Agenda gesetzt. Armin Alizadeh und Julie Göths sind Mitglieder des aktuellen siebenköpfigen Bundesvorstands. Im Gespräch mit Thomas Meyer und Klaus-Jürgen Scherer erläutern sie, wie politisch die Hochschulgruppen heute sind, welche Themen sie diskutieren und verfolgen und welche Schwerpunkte sie bei der bildungspolitischen Debatte setzen.
NG|FH: Vor gut fünf Jahrzehnten gingen die Studierenden gegen die verkrusteten Strukturen an der Hochschule und allgemein in der Gesellschaft auf die Straße. Inwieweit spielt Politik heute an der Uni noch eine Rolle? Gab es durch den Bologna-Prozess eine Art Entpolitisierung?
Julie Göths: Die Kommilitoninnen und Kommilitonen sind auf jeden Fall politisch und haben auch zu vielem eine Meinung. Das Problem ist vielmehr, dass der Raum für Diskussionen, für politische Debatten an den Hochschulen nicht mehr so vorhanden ist wie früher, dass Hochschulen neutral sind und beispielsweise keine Veranstaltungsräume mehr für Podiumsdiskussionen zur Verfügung stellen. So wird das Politische immer weiter in den Hintergrund gedrängt.
Armin Alizadeh: Das würde ich unterschreiben. Wir haben unglaublich viele Studierendenschaften, die Ringvorlesungen und kulturelle Veranstaltungen organisieren und Politik in den Uni-Gremien machen. Sie sind jeden Tag aktiv, haben aber Schwierigkeiten, sich die nötigen Freiräume zu schaffen. Oft sind es studienorganisatorische Gründe, die sicherlich auch mit den Veränderungen im Rahmen des Bologna-Prozesses zusammenhängen, dann aber auch mit der Frage, wie Politik insgesamt an der Uni gerade organisiert ist. Wir nehmen wahr, dass auf dem Campus weniger Politik lieber gesehen wird.
NG|FH: Auch in der Vergangenheit waren die Aktiven ja eher eine Minderheit, selbst bei den 68ern. Ist es schwierig, politisches Engagement und Studium zu vereinbaren?
Göths: Die Studienbedingungen gestalten ein Engagement schwierig. An den meisten Unis kann man das BAföG nur verlängern lassen, wenn man in der studentischen Selbstverwaltung aktiv ist. Wenn man sich bei der Juso-Hochschulgruppe oder einer studentischen Initiative engagiert, ist es davon entkoppelt und man kriegt keine Verlängerung. Deswegen ist es so wichtig, dass man diese Dinge anpasst, damit sich Leute engagieren können.
NG|FH: Die Juso-Hochschulgruppen wurden 1973 unabhängig voneinander an einzelnen Hochschulen gegründet. An welchen Hochschulen sind die Juso-Gruppen derzeit präsent und wie viel Prozent holen sie bei den Wahlen zum Studierendenparlament in etwa?
Alizadeh: Es gibt mittlerweile 80 Hochschulgruppen mit steigender Tendenz. Natürlich sind nicht alle davon permanent auch an den Bundesverband angebunden. Einige konzentrieren sich mehr auf die Arbeit vor Ort und sind in den Gremien dort aktiv. 50–60 Gruppen sind konstant bei uns organisiert. Und die Wahlergebnisse variieren stark. Das hängt auch davon ab, wie lange es die jeweilige Hochschulgruppe gibt und wie sie strukturell verankert ist. Die Juso-Hochschulgruppen sind relativ häufig in den Studierendenschaften in den Koalitionen und spielen eine tragende Rolle, unabhängig von den Wahlergebnissen.
NG|FH: Gibt es in den Studierendenparlamenten auch AfDler und andere Rechte?
Göths: Die werden auf jeden Fall mehr. Ich habe mitbekommen, dass sich an verschiedenen Hochschulen die »Campus Alternative« gegründet hat. Daneben ist aber auch die Identitäre Bewegung mit Flyern, Stickern und Aktionen an den Hochschulen präsent, auch wenn sie sich nicht aktiv zur Wahl aufstellen lassen.
Alizadeh: Es wäre sicherlich eine Übertreibung zu sagen, dass das in den Parlamenten vor Ort oder bei Koalitionsbildungen ein Problem ist. Aber sie organisieren sich, teilweise auch unter einem anderen Namen. In Darmstadt haben Leute aus dem Landesvorstand der Jungen Alternative etwa eine Liste mit dem Namen »Die Unabhängigen« gegründet. Da muss man schon viel Aufklärungsarbeit leisten.
NG|FH: Welche hochschul- und bildungspolitischen Ziele verfolgen die Juso-Hochschulgruppen, welche Programmatik allgemein? Frau Göths, Sie sind für Digitalisierung, Studienreformen und Studienfinanzierung zuständig, Herr Alizadeh für Europa, Internationales, kritische Wissenschaft und Weiterbildung. Und wer ist für Sozialismus zuständig?
Alizadeh: Das bewältigen wir als Teamaufgabe.
NG|FH: Früher ging es um Themen wie Studienreform, Studienfinanzierung und ‑gebühren, um kritische Wissenschaft. Worin bestehen Ihre programmatischen Schwerpunkte?
Alizadeh: Wir behandeln natürlich immer eine Reihe von grundsätzliche Themen. Sie haben einige genannt. Unsere Grundwerte Sozialismus, Internationalismus, Feminismus bewegen uns seit unserer Gründung. Gleichzeitig haben wir den Anspruch, die aktuelle Politik mitzugestalten. Dazu gehören dann Themen wie BAföG oder der Hochschulpakt. Wir schauen natürlich auch auf die großen bildungspolitischen Debatten. Gerade bekommt das Thema Weiterbildung einen höheren Stellenwert.
NG|FH: Der Hochschulpakt ist sehr aktuell. Worum geht es dabei und welche Forderungen haben Sie?
Göths: Zum einen ist es gut, dass er jetzt verstetigt wurde, dass das Geld in den nächsten Jahren fließt und die Hochschulen Planungssicherheit haben. Gleichzeitig wurde nicht alles, was wir uns gewünscht hatten, auch umgesetzt. Der Qualitätspakt Lehre ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben, weil mehr Geld in den Hochschulpakt an sich geflossen ist. Das bestätigt das Bild, was man von der Lehre an Hochschulen hat. Dass sie kein zentraler Aspekt von Wissenschaft ist und nicht karrierefördernd. Die Leidtragenden sind die Studierenden. Wir haben uns gewünscht, dass die gute Lehre endlich einen größeren Stellenwert bekommt.
NG|FH: Was treibt Studierende am ehesten in eine Juso-Hochschulgruppe? Sind das eher die allgemeinpolitischen gesellschaftlichen Ziele oder die hochschulpolitischen und die direkte Betroffenheit?
Göths: Es kommt auf die Uni an. An einer TU ist die Aktivierung – zumindest in Aachen ist das so – mit konkreten, lokalen Angelegenheiten einfacher. An Hochschulen, die ein ganz anderes Fächerspektrum haben, kann man auch mit Allgemeinpolitik sehr viel bewegen.
Alizadeh: Die Beweggründe sind unterschiedlich. Einige wollen etwas vor Ort verändern, andere bewegt die internationale Politik oder was hier mit der AfD passiert. Dann gibt es viele Leute, die vor Ort in den Gremien arbeiten und einzelne Studiengänge konkret verbessern wollen.
NG|FH: In der Geschichte linker Studentenorganisationen gab es immer auch das andere Element, dass man sich als gesellschaftskritische Elite verstand und deshalb natürlich auch Theorie- und programmatische Arbeit gemacht und Kapitalismuskritik geübt hat. Wie sieht das heute aus? Die Sozialismusthesen, die aktuell das Land beschäftigt haben, kamen ja vom Juso-Vorsitzenden und nicht von den Juso-Hochschulgruppen.
Alizadeh: Die Kritik von Kevin Kühnert ist erst einmal eine gute Sache. Er hat gerade einfach auch die Aufmerksamkeit, die man braucht, um so eine Debatte loszutreten. Wir unterstützen ihn dabei mit der entsprechenden Fundierung. Politische Bildung gehört im Verband immer noch zum Selbstverständnis. Es gibt Seminarwochenenden, bei denen wir bewusst sehr theoretisch arbeiten. Das unterscheidet uns von den Jusos. Die Hochschulgruppen vor Ort machen das bei vielen Themen auch. Studierende, die bei den Juso-Hochschulgruppen aktiv sind, gehen oft in die ASten und treten dort Debatten los.
NG|FH: Welche Themen gehören dazu?
Alizadeh: Aktuell etwa beschäftigen uns viele feministische Fragestellungen: Etwa, wie man zu einer wirklich feministischen Gesellschaft kommen kann. Da gibt es konkurrierende Strömungen, unter denen viel verhandelt werden muss. Es laufen zudem Ringvorlesungen zu den verschiedensten Themen, etwa zur Religionskritik und vielem mehr.
NG|FH: Religionskritik zieht viele an?
Alizadeh: Man kann damit sicherlich keine Stadien füllen, aber das gehört eben zu unserem Selbstverständnis, dass auch für die Kommilitoninnen und Kommilitonen, die das interessiert, ein Angebot da ist, die Debatte weiterzuführen. Bundesweit sitzen Juso-Hochschulgruppen in den Asten, die die Diskurse innerhalb der Wissenschaft voranbringen.
NG|FH: Führen Sie auch Kapitalismusdebatten, darüber, wie man ihn verändern oder überwinden kann?
Göths: Die werden sogar an Technischen Unis geführt, etwa in Aachen, wo das Milieu eher liberal ist. Und erst recht nach den letzten Diskussionen ist das wieder ein Thema. Unsere Debatten beim Bundeskoordinierungstreffen sind theoretisch fundiert und auch die Seminarwochenenden dazu sind sehr gut besucht.
Alizadeh: Die letzten Seminare zur Analyse der 68er waren genauso gut besucht wie alle Seminare von uns, das Interesse an kritischen Diskursen ist nach wie vor groß.
NG|FH: Kommen die Teilnehmenden aus sozialdemokratischen Traditionen? Sind sie bereits in der Schule oder in der Uni politisiert worden? Welche Motive treiben sie an, welche Hintergründe haben sie?
Göths: Einige sind schon in der Schulzeit Juso-Mitglied geworden. Aber Viele stellen erst am Ende des Bachelorstudiums fest, dass im Bildungssystem etwas schief läuft und sie was dagegen tun wollen. Es gibt also solche mit sozialdemokratischem Background und solche ohne.
Alizadeh: Manche stellen fest, dass das, was sie im Studium lernen, zu unkritisch ist und wollen sich noch ein paar andere Perspektiven anschauen. Und dann wird zum Beispiel Marx gelesen.
NG|FH: Bei uns galt das Schlagwort »kritische Wissenschaft«. Wir wollten kritische Vorlesungen und Seminare. Wenn sie es nicht waren, wollte man es selbst übernehmen.
Alizadeh: Die großen Aufstände in den Uni-Seminaren gibt es gerade nicht mehr.
NG|FH: Wäre das aber nicht vielleicht gerade wieder nötig?
Göths: Ja absolut.
NG|FH: Etwa im Bereich der Industrieforschung. Das haben Sie aber bestimmt immer noch in Ihrem Programm.
Göths: Natürlich. Aber die Leute zu bewegen ist schwierig. Beim Thema Nachhaltigkeit wurde diskutiert, welche Aufgabe die Lehrenden und die Wissenschaft haben. In Vorlesungen wird immer noch vermittelt, dass der Verbrennungsmotor die zukunftweisende Alternative ist. Da gibt es nichts Kritisches. Das bleibt auch in den nächsten Jahren eine unserer Aufgaben.
Alizadeh: Die Hochschuldebatten sind nach wie vor die gleichen, die auch in der Gesellschaft geführt werden. Gesellschaftlich sind aber Debatten über den Kapitalismus komplett festgefahren. Wenn man etwa Wirtschaftswissenschaft studiert, kommt man mit Marx im Bachelor meistens nicht in Kontakt. Das ist natürlich fatal.
NG|FH: Das hat sich auch seit der Finanzmarktkrise nicht geändert?
Alizadeh: Es gab eine Welle, ausgehend von Frankreich, die versucht hat, die Probleme aufzugreifen. Es haben sich viele Initiativen gegründet, einige sind noch aktiv, u. a. in Frankfurt am Main. Der große Widerstand innerhalb der Wissenschaft ist aber ausgeblieben.
NG|FH: Entscheidet heute das Internet, was man an der Uni sagen darf? Gibt es etwa als Reaktion auf die Enthemmung der politischen Kommunikation durch die Rechten auf Seiten der linken Studierenden eine Art übertriebene politische Korrektheit, die die Redefreiheit genauso gefährden kann wie Fake News? Beispiel gendergerechte Sprache.
Alizadeh: Wenn man über politische Korrektheit diskutiert, kommt immer das Beispiel Gender. Das ist bei uns im Verband mittlerweile aber eine Selbstverständlichkeit. Das belastet die Debatte in keiner Form. Auch, wenn eine Person das vergisst, geht die Welt nicht unter. Einzelne Übertreibungen gibt es, wie in jeder Debatte. Das ist aber nicht die Mehrheit.
NG|FH: Welches sind die wichtigsten politischen Studierendengruppen an der Uni, wie sind die Kräfteverhältnisse?
Göths: Neben uns gibt es Campus-Grün bzw. die grünen Hochschulgruppen, die gerade, ähnlich wie wir, gut dabei sind. Dann gibt es die liberalen Hochschulgruppen, den RCDS, den Ring Christlich-Demokratischer Studenten, und natürlich DieLinke.SDS.
NG|FH: Das spiegelt relativ genau die parlamentarische Situation wider.
Göths: Dazu gibt es dann aber oft noch die Allgemeine Fachschaftliste, die aus den Fachschaften kommt oder die Alternative Linke Liste.
NG|FH: Ist das Verhältnis von Links und Rechts in etwa ausgeglichen oder gibt es eine eher linke Dominanz?
Alizadeh: Auf jeden Fall gibt es eine linke Dominanz. Die meisten ASten sind mit linken Koalitionen besetzt, da gibt es relativ wenige Ausnahmen. Und auch die Fachschaftenlisten verstehen sich häufig als links.
Der Einfluss auf Hochschulebene muss deutlich von dem auf Bundesebene unterschieden werden. Auf Bundesebene gibt es Verbände wie die Juso-Hochschulgruppen, die sehr alt und sehr gut vernetzt sind in die Partei und die Regierungsstrukturen hinein. Wir können da mitreden und unsere Themen einbringen. Andere hochschulpolitische Verbände sind eher lose mit der Partei verbunden und haben weniger Einfluss auf der Bundesebene. Dafür sind sie aber an den Unis unglaublich stark, erzielen gute Stimmenergebnisse.
NG|FH: Warum tauchen bei der Aufzählung die AfD bzw. die entsprechenden Unigruppen nicht auf?
Göths: In den Parlamenten spielen die AfD-Gruppen keine große Rolle und können auch dort, wo es sie gibt, das politische Leben nicht behindern. Es ist natürlich mehr als unschön, dass sie da sind und sie machen auch Aktionen, bei denen wir uns einig sind, dass sie nicht an die Hochschulen gehören. Aber sie haben bisher keinen Einfluss.
NG|FH: Es ist interessant, dass Sie die Bundespolitik der SPD beeinflussen können. Wie gestaltet sich dieser Einfluss? Früher waren die Hochschulgruppen und die Jusos eher gegnerische Fraktionen innerhalb des Juso-Spektrums. Ist die Zusammenarbeit heute in Bildungskommissionen, beim Parteivorstand oder bei den Jusos institutionalisiert?
Göths: Im Bundesvorstand sind wir durch Kooptierung dreifach vertreten: Armin sitzt für uns im SPD-Parteivorstand, wir sind in der AG Bildung und Forschung der Bundestagsfraktion vertreten und im Bundesvorstand der Jusos. Da sind wir auch regelmäßig zu Gast, melden uns zu Wort und versuchen, bestmöglich Einfluss zu nehmen.
NG|FH: Früher war der Hauptkampf das politische Mandat des AStA. Darf der AStA heute ein Mandat gesellschaftspolitisch, allgemeinpolitisch im Namen der Studentenschaft ausüben oder ist das strikt verboten?
Göths: Das kommt auch auf den Mut vor Ort an. Viele halten sich komplett daran, dass sie nur das hochschulpolitische Mandat haben, darüber hinaus äußern sie sich nicht. Daneben gibt es ASten, die sich trotzdem allgemeinpolitisch äußern, was wir auch begrüßen. Wir kämpfen seit Jahren für ein allgemeinpolitisches Mandat für die Studierendenschaften, weil es irrational ist, diese Ebenen voneinander zu trennen. Die Gesellschaft wirkt auf die Hochschule und umgekehrt. Deshalb ist es unabdingbar, sich als Studierendenschaft zu wichtigen Themen zu äußern.
NG|FH: Wie läuft das ab? Gibt es darüber Debatten? Wird das hingenommen?
Göths: In Aachen wurde von Seiten des AStA bei der Rechtsabteilung nachgefragt, ob man sich in den lokalen Ratsentscheidungen bewerben darf. Es gab auch die Diskussion, ob man sich Fridays for Future anschließen darf. Die Rechtsabteilung hat entschieden: auf gar keinen Fall, das ist Allgemeinpolitik. Wenn wir aber schon beim Klimawandel darüber reden, ob wir uns dazu äußern dürfen oder nicht, dann haben wir ein ganz großes Problem an den Hochschulen und müssen dringend darüber reden, was denn eigentlich unsere Aufgabe ist.
NG|FH: Es gibt bei Ihnen im Vorstand verschiedene Zuständigkeitsbereiche, auch einen für Digitalisierung? Wie gehen Unis mit diesem Thema und den damit zusammenhängenden Konflikten um? Wie sieht Ihr Beitrag etwa zum gesellschaftspolitischen Diskurs über den digitalen Kapitalismus aus?
Göths: Die Bandbreite der Themen ist sehr groß. Im Hinblick auf die digitale Lehre haben die Hochschulen einiges aufzuholen. Gleiches gilt für die digitale Verwaltung, etwa, ob man ein Attest online einreichen oder die Bachelorarbeit online anmelden kann. Wir müssen unter anderem über den Arbeitsmarkt und über Weiterbildung sprechen. Digitalisierung verstehe ich in meiner Zuständigkeit auch so, dass wir über Kommunikation sprechen müssen, über unsere Öffentlichkeitsarbeit. Wir müssen die sozialen Medien immer mitdenken.
Alizadeh: Wir haben im letzten Jahr auch die Frage nach der Erneuerung und der Rolle der SPD gestellt. In ausführlichen Anträgen in Arbeitsgruppen wurde theoretisch fundiert die Bildungspolitik der SPD diskutiert und, ausgehend vom Menschenbild der SPD, überlegt, was sich ändern muss. Grundsätzliche Themen wie Inklusion, Mehrgliedrigkeit des Schulsystems oder der Zugang zur Hochschule wurden diskutiert. Wir arbeiten hart daran, dass die SPD zu sich selbst zurückfindet.
NG|FH: Wo liegen die Hauptdefizite allgemein und im Besonderen der SPD in der Bildungspolitik?
Alizadeh: Das Hauptdefizit ist, dass man das große Ziel, dass alle ihren Bildungsweg selbstbestimmt gehen sollten und keine Selektion im Kindesalter stattfindet, aus dem Blickfeld verloren hat. Die Forderung nach einer Schule für alle war vor einigen Jahren noch klarer Teil dieses Selbstverständnisses. Mittlerweile geht das zunehmend verloren und man versucht zu argumentieren, wenn das Gymnasium eben die Schulform ist, die alle besuchen, dann haben wir ja praktisch die Schule für alle. Das ist natürlich nicht zutreffend.
NG|FH: In den 60er und 70er Jahren war die Gesamtschule das sozialdemokratische Konzept. Weil konservative Elternverbände intensiv dagegen mobilisiert hatten, gab es einige schlimme Wahlniederlagen. Das hat ein Trauma erzeugt. Seitdem hat die Gesamtschule in der Debatte auch gar keine Rolle mehr gespielt. Aber im Grunde ist das doch die sozialdemokratische Position. Aber die Erhöhung des Akademikeranteils hat andererseits dazu geführt, dass die handwerklichen Berufe oder dualen Ausbildungen vernachlässigt wurden. Gibt es hierzulande eine Überakademisierung?
Göths: Solange nicht alle studieren können, die studieren möchten, brauchen wir nicht über eine Überakademisierung diskutieren. Davon losgelöst müssen wir natürlich gucken, wie wir auch Ausbildungsberufe und die Ausbildung wieder stärken, attraktiver machen. Hier haben wir einen Nachholbedarf und optimal wäre es, wenn sich die SPD das auf die Fahne schriebe.
NG|FH: Woran liegt es, dass nicht alle studieren können, die studieren wollen?
Göths: Die größte Hürde ist, dass man sein Leben nicht ausreichend finanzieren kann, trotz BAföG. Die letzte Reform holt nur das nach, was in den letzten Jahren verschlafen wurde, passt das System aber nicht an die Lebensrealitäten an. So studieren heute deutlich mehr als die Hälfte über die Regelstudienzeit hinaus, das BAföG ist aber daran gekoppelt. Nach sechs, sieben Semestern muss man sich auf jeden Fall einen Job suchen, obwohl man Vollzeit studieren sollte. Dann kommt man in einen Teufelskreis.
Durch finanzielle Förderung können zwar auch Kinder aus nichtakademischen Familien an die Hochschulen kommen. In den letzten Jahren haben wir unter anderem dadurch zwar eine größer werdende diverse Studierendenschaft, aber es studieren immer noch nur 27 von 100 Kindern aus nichtakademischen Familien und damit deutlich zu wenig.
NG|FH: Besteht ein besonders zentrales Hindernis nicht vielmehr darin, dass die Schulen in Deutschland so arbeiten, dass sie die Unterstützung durch die Eltern voraussetzen? Können Eltern diese nicht leisten, müssen die Kinder eben die Schule verlassen.
Alizadeh: Das sieht man bei der Auswahl in der vierten Klasse. Viele Kinder, die eine Realschulempfehlung bekommen, werden von akademisch gebildeten Eltern trotzdem auf ein Gymnasium mit Aussicht auf ein Studium geschickt. Eltern mit Berufsabschluss heben tendenziell die handwerkliche Begabung der Kinder hervor. So verschließt sich der Weg zum Studium schon hier. Kinder, die in ihrer Familie gar keinen Bezug zur Hochschule haben, finden sich dort oft schwerer zurecht, weil die Unterstützung fehlt und Beratung an der Hochschule überhaupt nichts Selbstverständliches ist. Schulen und Hochschulen müssen hier mehr tun.
In der Akademisierungsdebatte wird es so dargestellt, als wäre alles miteinander verknüpft. Das ist einfach falsch. Die Probleme und die Defizite in der beruflichen Bildung haben keine Verbindung mit dem, was an den Hochschulen passiert. Das muss getrennt betrachtet werden.
NG|FH: Beschäftigen Sie sich in den Juso-Hochschulgruppen mit der Frage, wie die berufliche Bildung verbessert werden könnte?
Alizadeh: Auf jeden Fall.
NG|FH: Was neben den Qualitätsdebatten immer diskutiert wird: Alle Bereiche der Bildung sind laut internationalen Vergleichen in Deutschland unterfinanziert. Sehen Sie das auch so?
Alizadeh: Das ist natürlich ein Dauerthema.
NG|FH: Jobs als studentische Hilfskräfte und Assistenten, erste wissenschaftliche Stellen machen ja Sinn, wenn es danach für die meisten weitergeht. Sie können aber natürlich auch Sackgassen sein, oder? Muss man da nicht stärkere Absicherungen schaffen?
Alizadeh: Das wird insgesamt in den Blick genommen. Wir haben Ideen zur beruflichen Bildung, wie diese ausgestaltet werden muss. Anders als oft behauptet wird, sind die Probleme in der beruflichen Bildung nicht unmittelbar mit der Hochschule verknüpft. Zur Frage, was man mit dem akademischen Mittelbau machen kann, sollten wir verstärkt darüber diskutieren, ob das Lehrstuhlprinzip noch zeitgemäß ist. Mit einer Departmentsstruktur könnte die Anzahl der Professuren deutlich steigen und sich die Arbeitsverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb verbessern, vor allem hinsichtlich der massenhaften befristeten Verträgen.
NG|FH: Haben Sie das Gefühl, dass das, was Sie erarbeiten, Gehör findet, dass Sie Einfluss nehmen können, dass das für die SPD eine Rolle spielt?
Göths: Ja. Beispielsweise in der AG habe ich das Gefühl, dass sie unsere Meinung wertschätzen und den gegenseitigen Austausch mit uns abseits der normalen Sitzung unterstützen und fördern. Natürlich haben wir weitergehendere Forderungen, aber das ist ja auch unsere Aufgabe: progressiv reingehen. Wir werden als Expert/innen im wissenschaftspolitischen Bereich wahrgenommen.
Alizadeh: Es gibt natürlich eine Reihe von offen ausgetragenen Konflikten: Wir haben uns gegen die erneute Große Koalition in der Bundesrepublik gestellt. Wir wünschen uns klarere Linien bei Themen wie Seenotrettung und Nachhaltigkeit, aber vor allem auch in der Bildungspolitik. Da sind die Fronten klar. Aber es gibt viele Bereiche, in denen wir konstruktiv miteinander arbeiten können. Das ist auch das Selbstverständnis. Die SPD braucht kritische Stimmen mehr denn je.
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