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Porträt einer defekten Demokratie Die USA nach den Midterm-Wahlen

Bei den Zwischenwahlen in den USA am 6. November hat die Demokratische Partei 39 Mandate im Repräsentantenhaus dazugewonnen und zwei Sitze im Senat verloren. Zudem hat die Wahl zwei wichtige Tendenzen in der amerikanischen Politik aufgezeigt: Zum einen lag die Wahlbeteiligung mit fast 50 % verhältnismäßig hoch, was daran lag, dass beide Wählergruppen mobilisiert werden konnten: auf der Seite der Demokraten durch ihre scharfe Kritik an Donald Trump, bei den Republikanern durch Trumps massiven Einsatz auf Wahlkundgebungen. Zum anderen war die Lücke zwischen den Parteipräferenzen von Frauen und Männern größer denn je. Nachwahlbefragungen ergaben, dass etwa weiße Frauen mit Hochschulbildung mit einem Abstand von 20 % Kandidaten der Demokraten bevorzugten. Gleichzeitig wählten weiße Männer ohne akademische Ausbildung mit einem Abstand von 33 % die Republikaner. Ein bemerkenswertes Gefälle! Dieser Unterschied bildet sich auch räumlich ab: Während die Demokraten viele neue Sitze in den wohlhabenden, vom Bildungsbürgertum geprägten Randgebieten der Großstädte gewannen, erhielten die Republikaner bei den Senatswahlen einen größeren Zuspruch bei der oftmals bildungsferneren, ländlichen Bevölkerung.

Eine einfache Gewinn- und Verlustrechnung verschleiert jedoch zentrale Aspekte des Wahlkampfes von 2018. Um die Ergebnisse und Folgen dieser Wahlen besser verstehen zu können, muss man zunächst deren Rahmenbedingungen erläutern, von denen viele lange vor diesem Wahlkampf geschaffen wurden. Ich vertrete die These, dass die Republikanische Partei systematisch die politischen Spielregeln in ihrem Sinne verändert hat, wodurch demokratische Kandidaten bei jedem Wahlgang grundsätzlich benachteiligt werden. So müssen sie permanent gegen Strukturen ankämpfen, die ihre Stammwähler aus dem Wahlprozess auszuschließen drohen und sie müssen oftmals viel mehr als eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen erringen, um eine knappe Mehrheit der Sitze im Kongress zu erlangen. Laut einer Untersuchung von Sam Wang, Ben Williams und Rick Ober im Rahmen des Princeton Gerrymandering Projects mussten die Demokraten bei den Midterm-Wahlen rund 7 % mehr Stimmen als die Republikaner erringen, um etwa 51 % der Sitze einzunehmen (tatsächlich betrug ihr Vorsprung bei den Midterms 9 %).

Im Senat ist dieses Missverhältnis sogar noch deutlicher. Laut der New York Times erhielten alle demokratischen Kandidat/innen für den Senat insgesamt 45 Millionen Stimmen, die republikanischen dagegen nur 33 Millionen; dennoch verloren die Demokraten zwei Mandate. Ein Anzeichen einer defekten Demokratie ist, dass sich der Volkswille nicht in den parlamentarischen Mehrheiten und der entsprechenden Politik widerspiegelt. Genau das ist aber in den USA seit mehreren Jahrzehnten der Fall. Aus diesem Grund kann der Wahlkampf von 2018 nicht als frei und fair bezeichnet werden. Die Wahlen selbst aber waren nur ein erster Auftakt in einem langwierigen Kampf um die amerikanische Demokratie und gleiche Rechte für alle.

In den USA laufen die demografischen Trends gegen die Interessen der Grand Old Party (GOP), wie die Republikaner sich gern nennen. Ihre Stammwählerschaft wird ständig älter, weißer, ungebildeter und männlicher, vor allem im Zug der Präsidentschaft von Donald Trump. Im Gegensatz dazu ist die typische Wählerschaft der Demokratischen Partei eher jünger und weiblicher, ebenso gehören Bevölkerungsgruppen wie Latein- und Afroamerikaner dazu. Wenn die Republikaner dieser demografischen Entwicklung keinen Einhalt gebieten, werden sie irgendwann eine Minderheitspartei sein. Um der Demografie zu trotzen, haben sich die Republikaner für eine Strategie der Wählerverdrängung entschieden. Sie wollen so viele demokratische Stammwähler wie möglich disqualifizieren, die Wahlbezirke so zuschneiden, dass sie die Kandidaten der Republikaner übervorteilen, Gruppen, die wie die Gewerkschaften den Demokraten nahestehen, schwächen. Und sie wollen die relevanten Spendengesetze so verändern, dass reiche, GOP-gesinnte Einzelpersonen und Gruppen mehr Geld für republikanische Kandidaten und Politiken geben dürfen, ohne deren Quellen öffentlich machen zu müssen. Diese Vorhaben möchte ich genauer betrachten:

Erstens: Entzug des Wahlrechts. Im Unterschied zu europäischen Ländern tragen in den USA die Bürger – nicht der Staat – die Verantwortung für ihre Anmeldung als Wähler. Niemand hat das Recht, eine Stimme abzugeben, ohne offiziell beim Wahlamt angemeldet zu sein. An der Wahlurne vergleichen die Wahlbeamten die Ausweise mit den in den Wählerlisten vorher eingetragenen Daten. Das gängigste Ausweisdokument ist in den USA der Führerschein. Wenn etwas auffällig ist, wenn also beispielsweise die Adresse auf dem Ausweis nicht mit der in den Unterlagen übereinstimmt, kann die Stimmabgabe verweigert werden. Nun ist es nicht für alle US-Amerikaner einfach, einen Führerschein zu erwerben. Die Bewerber müssen dazu mehrere Unterlagen mitbringen, darunter auch die Geburtsurkunde. Viele demokratisch gesinnte Wähler – besonders ältere Afroamerikaner aus dem Süden und Immigranten – verfügen jedoch über keine solche Urkunde. Hinzu kommt, dass die arme Bevölkerung in den Großstädten oftmals keinen PKW und deshalb auch keinen Führerschein besitzt. Zudem zieht die ärmere Bevölkerung öfter um bzw. wird obdachlos, was dazu führen kann, dass die Adresse auf dem Ausweis nicht der in den Wahlamtakten entspricht. Folglich können »strenge« Wählerausweisgesetze Tausende potenzielle Wählerinnen und Wähler entrechten.

Eine weitere Strategie sind die regelrechten »Säuberungen« der Wählerlisten. Zum Beispiel trägt im Bundesstaat Ohio der Innenminister die offizielle Verantwortung für den Erhalt und die Aktualisierung der Liste aller angemeldeten Wähler. Seit 2011 hat der Amtsinhaber Jon A. Husted fast zwei Millionen Wähler/innen aus dieser Liste gestrichen, die meisten davon einzig und allein aus dem Grund, weil sie während der vorangegangenen zwei Jahre nicht zur Wahl gegangen sind und nicht auf eine Anfrage seines Amtes bezüglich ihres Status und Wohnortes geantwortet haben. Laut einer Recherche von Harlan Spector, die in The American Prospect erschien, haben diese »Wählersäuberungen« eine unverhältnismäßig große Auswirkung auf die afroamerikanische Wählerschaft, einen verlässlichen Wählerblock der Demokraten.

Zweitens: Gerrymandering. Darunter ist zu verstehen, dass die Einteilung der Wahlbezirke zugunsten einer Partei manipuliert wird – eine Möglichkeit, die sich die Republikaner seit Jahren zunutze machen. Alle zehn Jahre werden nach der nationalen Volkszählung Sitze im Repräsentantenhaus neu verteilt, um Bevölkerungszu- bzw. -abnahmen in jedem Bundesstaat Rechnung zu tragen. Die Mehrheitspartei in jedem Bundesstaat kann die Einteilung der Wahlkreise so manipulieren, dass die Zahl der ihr zugeteilten Mandate bei Weitem ihren prozentualen Stimmenanteil übertrifft. Die bei den Republikanern beliebteste Technik des Gerrymandering ist das »packing and cracking« (was in etwa so viel bedeutet wie »zusammenfassen und spalten«). Im ersten Fall fassen die Republikaner so viele demokratische Stammwähler wie möglich in einigen wenigen Wahlbezirken zusammen. Im zweiten Fall spalten sie stark demokratisch gesinnte Gebiete auf, um deren Wähler auf mehrere verlässlich republikanische Wahlkreise zu verteilen. Nach der Volkszählung von 2010 hat z. B. der Bundesstaat North Carolina beide Techniken ausgenutzt, um den Republikanern mindestens zehn Sitze im Repräsentantenhaus zu sichern, wie der GOP-Abgeordnete Patrick T. McHenry stolz verkündete. Damit standen den zehn republikanischen Sitzen drei demokratische Sitze gegenüber, obwohl der Stimmenanteil für beide Parteien bei durchschnittlich 50 % lag.

Drittens: Den Gang zur Wahlurne erschweren. Bei dieser Strategie gibt es viele Möglichkeiten, eine sichere Methode ist allerdings, die Zahl der Wahllokale in den Bezirken zu verringern, die vornehmlich von Minderheiten bewohnt werden. So haben beispielsweise Wahlbeamte in Kansas das einzige Wahllokal für Dodge City, wo 60 % der Einwohner lateinamerikanischer Herkunft sind, in einen Ort verschoben, der fast zwei Kilometer von allen öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt liegt. Wähler mit niedrigem Einkommen, die oft zwei oder drei Jobs haben, können es sich nicht leisten, drei Stunden vor den Wahlurnen Schlange zu stehen, wie es bei diesen Midterm-Wahlen der Fall war. Ein anderer, vom Bundesstaat Florida bevorzugter Ansatz ist, allen Schwerverbrechern das Wahlrecht auf Lebenszeit zu entziehen. Dadurch wurden 1,4 Millionen überwiegend schwarze Bürger Floridas der Möglichkeit beraubt, ihre Stimme abzugeben. Das Gesetz wurde zwar durch ein Volksbegehren während der Midterm-Wahlen aufgehoben, die Entscheidung kam jedoch zu spät, um vielen demokratischen Kandidaten in Florida noch helfen zu können. Zudem bekommen Verbrecher, die ihre Gefängnisstrafen abgesessen haben, in sieben Bundesstaaten erst dann ihr Wahlrecht wieder, wenn sie alle Geldstrafen und Gebührenforderungen beglichen haben, die sich durch ihre Straftaten angesammelt haben – für die meisten praktisch unmöglich. Aktuell gibt es in den USA sechs Millionen Menschen, denen auf diese Weise das Wahlrecht vorenthalten wird. Ferner haben Bundesstaaten wie North Carolina die für ärmere Bürger wichtige Möglichkeit des sogenannten »Frühwählens« eingeschränkt.

Viertens: Das Justizsystem vereinnahmen. Bis zum Jahr 2013 sah der Voting Rights Act von 1965 vor, dass Staaten mit einer Geschichte der Diskriminierung afroamerikanischer Wähler dem US-Justizministerium alle geplanten Änderungen der Abstimmungsverfahren zur Vorabbestimmung vorlegen mussten. 2013 jedoch, in einem Urteil im Fall Shelby County vs. Eric Holder jr., hat das republikanisch dominierte Oberste Gericht den relevanten Teil des Voting Rights Act für verfassungswidrig erklärt. Dieses Urteil hat es vielen republikanisch regierten Bundesstaaten ermöglicht, die Teilnahme demokratisch geneigter Wähler zu verhindern. Eine Folge davon war, dass es 2016 868 weniger Wahllokale gab als noch 2012, vor dem Shelby-County-Urteil. Drei Jahre später urteilte das Gericht, dass der Bundesstaat Ohio rechtmäßig gehandelt habe, als er seine »Säuberungen« der Wählerlisten fortführte. In diesem Jahr hat sich das Gericht geweigert, sich in die heiklen Fragen des Gerrymandering einzumischen, auch wenn manche Wahlbezirke völlig groteske Formen angenommen haben, sodass sie offensichtlich demokratischen Wählern den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz verweigern.

Fünftens: Geldspenden verzerren den Wahlprozess. Lange Zeit haben die USA Gesetze gehabt, die jene Geldsummen beschränkten, die politischen Parteien und Kandidaten gespendet werden durften. Aber viele durch die Republikaner forcierten Bemühungen, diese Vorschriften zu schwächen oder zu umgehen waren so erfolgreich, dass heute Hunderte Millionen Dollar aus dunklen Quellen in den politischen Prozess eingeschleust werden können, ohne dass die Bürger erfahren, woher das Geld kommt, wieviel gespendet wurde, und wer davon profitiert. Zum Beispiel haben die libertären Milliardäre Charles und David Koch ein weitverzweigtes Netzwerk von Interessengruppen und Denkfabriken eingerichtet, um ihre Lieblingsprojekte zu fördern: Abbau von Umweltschutzstandards und Schwächung der Gewerkschaften. Zu dem Zweck haben sie über intransparente Umwege die Gesetzgeber in Wisconsin dazu bewegt, die Rechte der Beamtenvereine dort zu beschränken. Diese verloren die Hälfte ihrer Mitglieder und damit die Beiträge, durch die sie gewerkschaftsfreundliche Demokraten bei ihren Wahlkämpfen hätten unterstützen können.

Ab Januar 2019 werden die Demokraten eine Mehrheit im Repräsentantenhaus haben, aber die Republikaner werden weiter den Senat, das Präsidialamt, das Oberste Gericht und die meisten Bundesstaatsregierungen dominieren. Das bedeutet, dass die Demokraten keine radikalen Veränderungen werden durchsetzen können. Eher werden sie aus der Defensive heraus einige Gesetzesvorlagen und Politiken der Republikaner verhindern können. Zu ihren Aufgaben im Repräsentantenhaus gehört es, die Tagesordnung festzulegen. Dadurch können sie der Bürgerschaft zeigen, was sie machen würden, sollten sie nach den Präsidentschaftswahlen 2020 die Führung in den anderen Gewalten zurückgewinnen: z. B. die Einführung eines Mindestlohns von 15 Dollar je Stunde, eine Krankenversicherung für alle und mehr Fördermittel für Studierende. Es ist unwahrscheinlich, dass der Senat derartige Gesetzesvorlagen verabschieden würde, aber die Republikaner müssten zumindest erklären, warum sie diese populären Vorhaben blockieren. Darüber hinaus werden die Demokraten in der Lage sein, Untersuchungen mit Vorladungsbefugnis zu den vielen möglicherweise korrupten und gesetzeswidrigen Handlungen der Trump-Regierung anzuberaumen.

Am wichtigsten aber ist, dass die Demokraten gleiche Wettbewerbsbedingungen für künftige Wahlen schaffen und dafür sorgen, dass die oben beschriebenen Praktiken gestoppt werden. Der Kongress kann einige dieser Probleme direkt anpacken, etwa über eine Verfassungsänderung, die jedem Bürger das Wahlrecht eindeutig garantieren würde. Bis das aber erreicht ist, müssen Demokraten in den Bundesstaaten die Führungsrolle bei solchen Reformen übernehmen. Die Partei hat den Republikanern sieben Gouverneursämter abgerungen, zwei in wichtigen Staaten für die Präsidentschaftswahlen 2020, wo sie der Wählerverdrängung entgegentreten können. Die Demokratische Partei muss aber auch auf Bundesstaatsebene die Spielregeln für Wahlen neu formulieren, um künftig Wahlen frei und fair für alle zu gestalten.

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