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Die Utopie sozialer Gerechtigkeit und die Sozialdemokratie

Mit dem Begriff der Demokratie wird ein Idealtyp politischer Herrschaft beschrieben, der sich durch eine pluralistische Herrschaftsstruktur, politische und bürgerliche Freiheitsrechte sowie Volkssouveränität auszeichnet. Es handelt sich um die Beschreibung eines Idealbildes, von dem die politische Praxis einzelner Systeme mehr oder weniger abweicht. Wie ist dieser Idealtyp konstruiert und welche realpolitischen Probleme können entstehen? Im Folgenden soll es insbesondere um die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit für die Qualität der Demokratie gehen und Schlussfolgerungen für eine sozialdemokratische Sozialpolitik abgeleitet werden.

Die Demokratie verknüpft zwei elementare Ideen – den offenen Wettbewerb um politische Ämter und Macht sowie die Partizipation aller Bürger*innen. Dieser Idealzustand, insbesondere die Partizipation aller Bürger*innen wurde und wird nie erreicht. Denn mit dem Anspruch auf Teilhabe ist die Erwartung verbunden, dass Bürger*innen nicht nur formal das Recht haben, ihre Präferenzen zu artikulieren, sondern dieses Recht auch tatsächlich nutzen. Dem Ideal der Demokratie folgend müssten außerdem die artikulierten Präferenzen der Bürger*innen von den Institutionen des demokratischen Systems und seinen Repräsentant*innen unabhängig ihres Inhalts und ihrer Herkunft gleich gewichtet werden. Das System müsste sich gegenüber allen Bürger*innen, ihren Interessen und Präferenzen also gleichermaßen responsiv verhalten.

Die Erfahrungen der politischen Praxis zeigen aber, dass sowohl das Handeln der Bürger*innen als auch das der politischen Akteur*innen hinter diesem Ideal zurückfallen: Die Partizipation der Bürger*innen unterliegt einer starken sozialen Schieflage. Dies gilt für das Wählen oder Abstimmen ebenso wie für unkonventionelle Formen der Partizipation wie etwa zivilgesellschaftliches Engagement oder die Teilnahme an Demonstrationen oder Onlinepetitionen. Bei der Bundestagswahl 2021 hat etwa jede*r vierte Wahlberechtigte keine Stimme abgegeben. Wachsende Ungleichheit sowie soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit sind neben Politikverdrossenheit und der Unzufriedenheit mit der Demokratie an sich die wesentlichen Gründe für dieses Phänomen.

Auch jenseits von Wahlen werden die Interessen privilegierter Bevölkerungsgruppen besser wahrgenommen und repräsentiert, als jene der Bürger*innen, die durch informelle (Selbst-)Exklusionsprozesse marginalisiert sind. Dies gilt etwa für Personen mit einem niedrigen Bildungsniveau und Einkommen, für Menschen, die Sorgearbeit leisten und Alleinerziehende sowie Menschen, die benachteiligten Minderheiten angehören. Die Demokratie bleibt in ihrer Praxis insofern stets defizitär und hinter ihren idealtypischen Ansprüchen zurück.

Das demokratische Grundprinzip der Gleichheit ist mit der Utopie der sozialen Gerechtigkeit eng verknüpft. Seitens der Bürger*innen ist die soziale Gerechtigkeit als Vorstellung, ja Erwartung unmittelbar mit der Demokratie als politisches Herrschaftssystem verbunden. Es gilt Armut und Ausbeutung zu überwinden sowie Bildungs- und Lebenschancen zu verbessern. Konkret geht es um finanzielle Aspekte, also Einkommen und Vermögen, um den Zugang zu Bildung und damit verbundenen Berufs- und sozialen Aufstiegschancen sowie um die Qualität der Gesundheitsversorgung, des Wohnens und des allgemeinen Lebensstandards, etwa auch in Bezug auf Kultur und soziale Teilhabe.

In diesem Kontext spielt auch die sogenannte Generationengerechtigkeit eine zentrale Rolle. Defizite in Bezug auf die soziale Gerechtigkeit werden von den Bürger*innen als ein Verstoß gegen das demokratische Gleichheitsprinzip wahrgenommen. Bei einer Befragung von infratest dimap zur Bundestagswahl vertraten im September 2021 mehr als drei Viertel der Befragten (77 Prozent) die Meinung, dass Wohlstand in Deutschland nicht gerecht verteilt sei. Im Februar 2022 gaben in einer Umfrage des ZDF-Politbarometers 53 Prozent der Befragten an, die gesellschaftspolitische Situation in Deutschland sei im Großen und Ganzen ungerecht beziehungsweise sehr ungerecht. Diese Problemwahrnehmung hat sich inzwischen weiter verstärkt: Im Juli 2022 vertraten laut Politbarometer 62 Prozent die Position, dass es in Deutschland ungerecht zugehe.

Sozialstaat als vorgelagerte Bedingung der Demokratie

Diese Wahrnehmung der Ungerechtigkeit geht einher mit einem gesellschaftlichen Klima der Härte und Kälte, sie führt zur Unzufriedenheit mit der Performance der Demokratie, zu Zweifeln an der Problemlösungskompetenz der politisch Verantwortlichen und letztlich zu grundsätzlichem Misstrauen gegen die Demokratie als politisches Herrschaftssystem an sich. Der Sozialstaat sowie die Fairness in der Verteilung wirtschaftlicher und kultureller Güter sind in der Demokratietheorie keine konstitutiven Elemente. Insofern ist soziale Gerechtigkeit auch kein definitorisches Merkmal der Demokratie, dennoch aber eine vorgelagerte Bedingung für das demokratische Grundprinzip der Gleichheit und für die substanzielle Qualität der Demokratie.

Zugleich muss die soziale Gerechtigkeit demokratisch erkämpft werden. Es geht darum, politische Entscheidungen für eine (Um-)Verteilung und einen sozialen Ausgleich zu treffen, die möglicherweise sogar – sowohl auf Seiten der Bürger*innen als auch der politischen Entscheidungsträger*innen – unmittelbaren individuellen Partikularinteressen zuwider laufen, da sie beispielsweise mit Verzicht und zusätzlichen Kosten verbunden sind.

Die Beweggründe für dieses solidarische Agieren zur Stärkung sozialer Gerechtigkeit können tatsächlich vielfältiger Natur sein: Für Bürger*innen und politische Entscheidungsträger sind etwa altruistische Motive ausschlaggebend, die aus grundlegenden politischen, moralischen oder religiösen Haltungen hervorgehen. Weitere Beweggründe können dem Wunsch nach Gemeinwohlorientierung und/oder Zusammengehörigkeitsgefühl entspringen; übergeordnete, kollektive politische, eventuell auch langfristige Interessen fördern die rationale Bereitschaft, kurz- und mittelfristige partikulare Eigeninteressen zurückzustellen.

Die damit verbundenen politischen Auseinandersetzungen sind ein Balanceakt, denn es ist Aufgabe der Parteien, in einer liberal orientierten repräsentativen Demokratie in erster Linie die Interessen ihrer eigenen Mitglieder und Wähler*innen zu vertreten. Darüber hinausgehende politische Maßnahmen zur Herstellung beziehungsweise Erhaltung sozialer Gerechtigkeit bedürfen deshalb – insbesondere in Zeiten der Individualisierung und der propagierten (kapitalistischen) Eigenverantwortung der Bürger*innen – einer besonders sorgfältigen und plausiblen Begründung.

Vor dem Hintergrund der zahlreichen gesellschaftspolitischen Krisen der vergangenen Jahre und Monate – von der Finanz-, Währungs- und Bankenkrise über die Pandemie bis hin zur Inflation und Energiekrise im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – hat die soziale Ungleichheit in Deutschland massiv zugenommen. Der Paritätische veröffentlichte jüngst alarmierende Zahlen: Rund ein Fünftel, in einigen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Bremen) gar mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist von Armut betroffen. Auffällig ist zudem ein ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen. Insbesondere Selbstständige haben während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen erlitten. Armutshöchststände werden außerdem bei Rentner*innen (17,9 Prozent) sowie Kindern und Jugendlichen (20,8 Prozent) verzeichnet (Armutsbericht 2022 des Paritätischen).

Die SPD ist jene Partei, der im deutschen Parteienwettbewerb traditionell die höchste Kompetenz in Fragen der sozialen Gerechtigkeit zugeschrieben wird. Im Juli 2022 gaben 31 Prozent der Befragten an, dass die SPD in Sachen sozialer Gerechtigkeit kompetent sei, während diese Werte bei der konkurrierenden CDU/CSU bei 14 Prozent lagen, jene von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke bei 11 Prozent. Zu beobachten ist allerdings, dass diese Kompetenzzuschreibung bei der SPD in Zeiten des Wahlkampfes jeweils zur Bundestagswahl 2017 und 2021 deutlich höher waren und in der Zeit der anschließenden Regierungspraxis jeweils rasch abnahm (Politbarometer Juli II 2022).

Diese Umfragewerte zeigen, dass das Eintreten für soziale Gerechtigkeit durchaus ein wichtiges Kriterium im Parteienwettbewerb darstellt. Daraus ergeben sich gleichermaßen Vorteile wie Erwartungen für die Beziehungen zu den sozialdemokratischen Wähler*innen. Gleichzeitig lastet auf der Sozialdemokratie eine besondere Verantwortung, die soziale Gerechtigkeit nicht nur als unerreichbare Wunschvorstellung vor sich her zu tragen, sondern auch praktisch im Sinne dieser Utopie Politik zu gestalten.

Sozialpolitik ist im 21. Jahrhundert kein karitatives Unterfangen. Es geht nicht länger um eine paternalistische Fürsorge, um eine beruhigende Stillung der Grundbedürfnisse, das Menschen in Abhängigkeit und zugleich Passivität hält. Es gilt stattdessen, das tiefe Misstrauen gegen Menschen, die Transferleistungen in Anspruch nehmen (müssen), zu überwinden.

Sozialdemokratische Politik der sozialen Gerechtigkeit ist heute vielmehr ein emanzipatorisches Projekt. Während der radikale Konservatismus bestrebt ist, soziale Ungleichheit als Ordnungsprinzip und Garant für Stabilität zu erhalten, wie Natascha Strobel 2021 in Radikaler Konservatismus konzediert, verfolgt der emanzipatorische Sozialstaat das Ziel, soziale Ungleichheit zu überwinden. Die Herausforderung bestehe laut Lehrbuch der Sozialpolitik von Jörg Althammer, Heinz Lampert und Maximilian Sommer darin, die Gesellschaft zu verändern, die Wirtschaft zu demokratisieren und die Selbstentfaltung des Individuums zu gewährleisten.

Die Erreichung dieser Gerechtigkeitsideale bedarf einer bedingungslosen und zugleich ausreichenden monetären Ausstattung der Menschen sowie des freien Zugangs zu Erziehung, Bildung und Information. Insofern gehen die Erwartungen in Bezug auf die Überwindung der sozialen Ungleichheit in unserer Gesellschaft weit über die schrittweisen Verbesserungen bestehender Transfersysteme, wie sie etwa beim sogenannten Bürgergeld realisiert wurden, hinaus.

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