Menü

Über die zunehmende Geringschätzung von Bildung und Kultur Die Verrohung der Öffentlichkeit

Wir alle kennen solches Gerede und haben gewiss schon öfter darüber gelächelt oder abgewinkt, wenn es hieß: »Früher war alles besser.« So redeten und reden die Altvorderen gerne und verweisen auf ihre jungen Tage, in denen es viel sittsamer, höflicher, respektvoller, gebildeter und anständiger zuging. Und dann folgten die Klagen über die Gegenwart. Das ist, wie gesagt, eine wohlbekannte Leier, aber sie muss dennoch nicht unbedingt falsch sein und keineswegs nur dem eben geschilderten Klischee von den über den Sittenverfall jammernden Alten entsprechen.

Nein, es scheint nicht nur, es hat sich in der Tat etwas geändert im Umgang der Menschen untereinander, das einer zunehmenden Verrohung gleichkommt. Und das nicht nur sprachlich, indem gröbste Schimpfwörter bis hin zu rassistischen, sexistischen Verunglimpfungen und Beleidigungen schon in Kindergärten und auf Schulhöfen alltäglich sind, von den Orgien an Unflat bis hin zu wüsten Mord- und Vergewaltigungsandrohungen in den sogenannten sozialen Medien gar nicht zu sprechen. All das ist bekannt, von den Gräuelvideos der terroristischen Szenen ganz abgesehen, die sich mit ihren Grässlichkeiten schmücken und sich an der weltweiten Empörung weiden und diese makabre Popularität als Zeichen ihrer Wirkungsmächtigkeit geradezu genießen. Doch neben solchen plakativen, obszönen und brutalen Provokationen, die auch typisch für Rechtsnationale und -radikale aller Schattierungen sind, gibt es noch einen Prozess des schleichenden Verlustes von Rücksicht, Respekt und Achtung vor dem anderen. Tagtäglich lässt sich beim Betreten und Verlassen von Trambahnen, Bussen und Zügen erleben, was es heißt, sich in einem Land der Rippenstöße, des Schubsens, Drängelns, Schiebens und Drückens zu befinden. Wer einmal in Japan gewesen ist, wird die Rückkehr nach Europa fast als Schock empfinden.

In Japan ist es selbstverständlich, ruhig an der auf dem Bahnsteigboden angezeigten Anstehlinie zu warten, bis alle Passagiere einer U-Bahn oder eines Busses ausgestiegen sind. Dann erst steigen die Wartenden nacheinander ein. Es ist in Japan auch selbstverständlich, die Mitfahrenden in Tram, Bus oder U-Bahn nicht durch Essen und Trinken zu belästigen, und es ist selbstverständlich, irgendwelche Überbleibsel des eigenen Aufenthaltes im Verkehrsmittel nicht liegen zu lassen, sondern unbedingt mitzunehmen. Also staunt der Europäer oder die Amerikanerin darüber, so gut wie keine überlaufenden Abfallkörbe zu sehen, Toiletten in perfektem Zustand vorzufinden und ähnliches mehr. Darüber hinaus herrscht die Unbedingtheit einer ausgefeilten Höflichkeitskultur, deren tatsächlicher Wahrheitsgehalt im Privaten und Einzelnen bezweifelt werden mag, die aber das öffentliche Miteinander im täglichen Leben gerade in den von Menschen überquellenden Millionenstädten durchaus praktikabler, leichter und angenehmer macht.

Dann kehrt man zurück nach Berlin, München oder aufs Dorf und hat sofort den ersten Ellenbogen im Kreuz, die erste Tasche in der Kniekehle, das erste Anraunzen im Ohr und ist entsetzt, ja, verletzt über solcherart Grobheit, Unzivilisiertheit, Frechheit und Rücksichtslosigkeit. Man braucht etliche Wochen, um sich wieder an diese derbe, übellaunige und die Anderen verachtende ichbezogene Lebenswelt zu gewöhnen. Doch während dergleichen früher den sogenannten Ungebildeten angedichtet wurde, den »Proleten«, von denen sich die vermeintlich besseren, bürgerlich kultivierten Schichten durch Benimm, Anstand und eben auch Höflichkeit abzuheben schienen, ist es nun überall gang und gäbe, neben den Ruppigkeiten des Alltags auch noch all das zu bemäkeln, zu beschimpfen oder sich darüber lustig zu machen, was mit Bildung und Kultur zu tun hat.

Das Verschwinden der Kritik

Aber werden nicht gerade überall im Land Konzertsäle wie die Elbphilharmonie oder das Bochumer Musikzentrum für viele Hunderte Millionen Euro neu gebaut und eröffnet? Werden nicht Literaturpreise in vielen Abstufungen vergeben? Wurde nicht Martin Walser groß gefeiert zu seinem 90. Geburtstag und werden nicht Museen und Ausstellungen bestens besucht?

All das ist richtig und trifft dennoch nicht den Kern: Denn mit der Unterscheidung zwischen sogenannter Hochkultur und weitverbreiteter Populärkultur hat jene schleichende und inzwischen offene Geringschätzung begonnen, die besonders die schönen Künste und die Bildung in diesen schönen Künsten trifft. Dass an den Schulen Musik- und Kunstunterricht wahlweise geboten wird, wenn er überhaupt stattfindet, ist längst die Regel, dass im Deutschunterricht für die Alltagstauglichkeit der Schüler Gebrauchsanweisungen studiert werden und zunehmend weniger Anleitung zur Wahrnehmung von Literatur betrieben wird, ist längst üblich.

Gerade dieses Entweder-oder aber trägt dazu bei, dass die Entfremdung und infolgedessen die Geringschätzung von Kultur und Bildung und auch von Wissenschaft rapide anwächst. Dass manche Politiker heute stolz darauf hinweisen, so gut wie kein Buch gelesen zu haben, um ja nicht irgendwie anders zu scheinen als ihre vermeintlichen Wähler, wäre zu Zeiten von Willy Brandt, Franz Josef Strauß und Carlo Schmid undenkbar gewesen. Helmut Kohl bezeichnete sich noch beherzt als Leseratte, und Helmut Schmidt war durchaus stolz darauf, so gut Klavier spielen zu können, dass er sich sogar ins Aufnahmestudio traute und mit Christoph Eschenbach und Justus Frantz das Konzert für drei Klaviere von Mozart einspielte.

Der Ruf nach Bildung für alle, der in den 60er Jahren als Fortschrittsfanfare überall ertönte, ist in seiner emphatischen Form längst verstummt. Bildung wird nun verwechselt mit dem vorgezeigten Wissen in der Quizshow Wer wird Millionär? oder mit Diskussionen in den sich unendlich wiederholenden Talkshows, die in nur graduell wechselnder Besetzung komplexe politische und gesellschaftliche Probleme auf Twitter-Niveau herunterbrechen, also auf plakative Kurzformeln, die jener unwirschen Ungeduld und Ruppigkeit des alltäglichen Rippenstoßens und Sich-Vordrängens genau entsprechen. Entwickelnde, die jeweilige Problematik aus verschiedenen Blickwinkeln sichtende und abwägende Erläuterungen und gar daraus folgende Fragestellungen erscheinen da nur altmodisch, umständlich, akademisch, vielleicht ja gebildet, aber irgendwie doch sehr störend, weil sie die simple, aber so effektvolle Unterscheidung in Gewinner und Verlierer behindert.

Die wohl fatalste Wirkung hat die Quotenwerbung entfaltet für den Umgang mit Kultur in all ihren historischen und gegenwärtigen Facetten und mit Bildung als dem Weg zur Kultur und dem Verständnis von Kultur. Dementsprechend haben sich Fernsehen und Radio vulgarisiert, verschwindet die Königsdisziplin des Feuilletons, die kritische Betrachtung und Einordnung von Musik, Kunst, Literatur, Theater zugunsten von angeblich leserfreundlichen Formaten wie Reportage und Porträt. Damit verändert, ja verkehren sich Aufgabe und Idee der Kritik grundsätzlich ins Gegenteil: Anstatt nach bestem Wissen und Gewissen, nach Kompetenz und Können zu urteilen und so künstlerische Leistung und ihre Bedeutung einzuschätzen, leistet man nun als Interviewer, Reporter und Porträtist letztlich dem Geschäft des Marketings von Agenturen und Künstlern Vorschub. Wie ein Konzert, ein Buch, eine Opern- oder Theateraufführung ausfällt, ist dann nicht mehr von großem Gewicht, weil nach den glänzenden und interessanten Vorberichten Kritik nur mehr als bloßes Nachräsonieren ankommt.

Unter Legitimationsdruck

Quantität frisst Qualität, könnte man twittermäßig polemisieren. Also rief Donald Trump triumphierend, dass er die Ungebildeten liebe, also verwandeln sich die einst als vorbildlich geltenden britischen Umgangsformen seit der Brexit-Abstimmung in unverhohlen chauvinistische und fremdenfeindliche Pöbelei, denn die Mehrheit hat nicht nur recht, sondern die Andersdenkenden werden darüber hinaus gedemütigt. Nach solchen rein quantifizierbaren Kriterien werden nun zunehmend und rabiat die Kulturteile von Zeitungen und Zeitschriften, von Radio und Fernsehen ausgerichtet, um ja nicht in den Verdacht des Abgehobenen, des Orchideenzüchtens und anderer Absonderlichkeiten zu kommen. Es trifft auch Universitäten, wo archäologische Forschungsinstitute, spezialisierte geisteswissenschaftliche Fächer und Ähnliches so unter Legitimationsdruck, das heißt unmittelbaren Quoten- und Nutzwert geraten, dass ihr Fortdauern akut gefährdet ist. Und noch weiter, wissenschaftliche Erkenntnisse etwa um den menschengemachten Klimawandel werden einfach verleugnet und mit Absurditäten wie den inzwischen schon sprichwörtlich gewordenen alternativen Fakten gekontert. Kein Wunder, dass George Orwells Klassiker über den Totalitarismus 1984 so aktuell wie lange nicht mehr erscheint, vorausgesetzt, man liest ihn.

Es bleibt festzustellen, dass die äußere Verrohung der Gesellschaft genau jener Geringschätzung entspricht, die der sogenannten Hochkultur und ihrer Voraussetzung, der Bildung, widerfährt. Übrigens haben weder Johann Wolfgang von Goethe, der einst die Vision einer Weltliteratur entwarf, noch Ludwig van Beethoven, der in seiner 9. Symphonie mit Friedrich Schiller appellierte, alle Menschen werden Brüder, je daran gedacht, »Hochkultur« zu schaffen. Im Gegenteil: Ihre Visionen und Appelle hatten und haben durchaus alle im Sinn.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben