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1968 kam nicht aus dem Nichts Die Vorgeschichte

Um es vorweg zu sagen: Das zu Recht mit dem »Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte« ausgezeichnete Buch von Michael Frey Vor Achtundsechzig gehört mit zu den besten Werken in der umfangreichen Bibliothek über 1968. Und dies nicht zuletzt aus einem ganz banalen Grund. Frey ließ sich nicht blenden von spektakulären Bildern, Zeitzeugen-Interviews und anderen problematischen Quellen, sondern fragte sich, wie es denn überhaupt zu 1968 kam. Die Antwort ist zugleich einfach und hochkomplex. Der Autor wendet sich einerseits der Vorgeschichte zu, andererseits entfaltet er diese komplexe Geschichte bis in ihre feinsten Verästelungen, Brüche und Kontinuitäten.

Die New Left in den USA wie die Neue Linke in der Bundesrepublik sind keine Produkte von 1968, und die Geschichte beider Bewegungen lässt sich auch nicht als eine Geschichte der 1968 ohne Zweifel wichtigsten Träger darstellen – der amerikanischen »Students for a Democratic Society« und des »Sozialistischen Deutschen Studentenbundes« wie das seit über 50 Jahren von sehr vielen deutschen Autoren suggeriert worden ist. Michael Frey zeigt überzeugend, dass diese Verkürzung vor allem der deutschen Geschichte auf einer groben Lesart der Akten aus dem Stasi-Nachlass und auf Einlassungen von primär auf ihre Selbstdarstellung erpichten Zeitzeugen beruht. Zuträger und Mitarbeiter der Stasi waren natürlich daran interessiert, ihre Spitzel- und Unterwanderungstätigkeiten in einem möglichst starken Licht als effiziente Arbeit darzustellen, und Selbstdarstellungen von Zeitzeugen interessieren sich notorisch nur für die eigene Person. Wer Stasiakten und -selbstdarstellungen 1:1 übernimmt, begibt sich immer aufs Glatteis und läuft Gefahr, Unterwanderungsabsichten mit Realitäten, subversive Einflussnahme auf Personen automatisch mit politisch unbedarften, leicht manipulierbaren und verängstigten Subjekten in einer Diktatur zu verwechseln. Genau das war jedoch der Fall bei den zweifelhaften Versuchen der Stasi, »den« SDS fernzusteuern.

Zur Protestbewegung von 1968 gehört, dass sie in den USA wie in der Bundesrepublik auf 1956 zurückgeht. Das war ein Schlüsseljahr: im Februar die Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag, der die sogenannte »Entstalinisierung« einleitete, im Sommer der Krieg um den Suezkanal und im Oktober/November der Aufstand in Ungarn im Windschatten jenes Krieges. Alle drei Ereignisse verweisen zwar auch darauf, dass die bipolare Welt des Kalten Krieges Risse bekam, aber die Epoche war noch nicht zu Ende. Das bekamen zuerst jene zu spüren, die sich dem manichäischen Weltbild bzw. dem, was Frey den »antikommunistischen Konsens« nennt, zu entziehen versuchten: religiöse Sozialisten, Pazifisten, Linkssozialisten, Trotzkisten, Bürgerrechtler und Bewegungsaktivisten. Sie wurden politisch marginalisiert und verzichteten sogar wie die Abrüstungsbewegung auf den Begriff »Frieden« und sprachen von »Sicherheit«, um sich nicht dem Verdacht »kommunistischer Propaganda« auszusetzen.

Unruhe in der Studentenschaft

SPD und Gewerkschaften waren – nicht zu ihrem Vorteil – eingebunden in den antikommunistischen Konsens. Nur wenige unabhängige Intellektuelle und Gewerkschafter (u. a. Wolfgang Abendroth, Jürgen Habermas, Wolfgang Leonhard, Hermann Weber, Kurt Hiller, Viktor Agartz) sowie kleinere Zeitschriften und Zeitungen (Sozialistische Politik, Die andere Zeitung) suchten nach einer Alternative bzw. einem »Dritten Weg«. Das änderte sich in der Bundesrepublik erst um 1958, in den USA etwas früher. Der amerikanischen Entwicklung, die Frey kenntnisreich darstellt, kann hier aus Platzgründen nicht gefolgt werden. Im Juli 1958 stellten die Münsteraner Studierenden Ulrike Meinhof und Jürgen Seifert in einem Artikel für die Blätter für deutsche und internationale Politik eine »Unruhe in der Studentenschaft« fest. In vielen Universitätsstädten bildeten sich Ausschüsse gegen die Wiederaufrüstung und gegen die atomare Rüstung, die von der 1957 gewonnenen CDU-Bundestagsmehrheit im März 1958 beschlossen worden war. Die studentischen Ausschüsse und die auch von der SPD und Teilen der christlichen Kirchen unterstützte Kampagne »Kampf dem Atomtod« entwickelten sich parallel und waren die Initialzündung für das, was man später die »58er Bewegung« bzw. »Neue Linke« nannte – sie verabschiedete sich vom »antikommunistischen Konsens«. SDS-Mitglieder waren in dieser Bewegung tätig, aber nirgends in leitender Funktion. Die studentischen Ausschüsse hatten nur einen Koordinationsausschuss. Die SPD klinkte sich schrittweise aus der Protestbewegung gegen die Atombewaffnung aus, nachdem die CDU in den Landtagswahlen in NRW die absolute Mehrheit gewonnen hatte. Aber die Mobilisierung und Politisierung der Studenten lief weiter. Zum definitiven Bruch mit der SPD kam es, als auf dem Studentenkongress am 3. Januar 1959 direkte Verhandlungen mit der DDR gefordert wurden. Bei der Abstimmung über eine entsprechende Resolution bediente sich eine Gruppe um den Konkret-Herausgeber Klaus Rainer Röhl, der enge Verbindungen zur DDR unterhielt, einer »manipulativen Strategie«, die bei der Stasi die Illusion nährte, sie steuere die ganze Bewegung fern. Sie erzielte jedoch bestenfalls einen »Pyrrhussieg«, denn der Erfolg bestand nur darin, dass sich die »58er Bewegung« spaltete und im Sommer 1959 »sang- und klanglos einschlief«.

Doch die Initialzündung zeigte Wirkung: Kalter Krieg und Antikommunismus verloren an Glaubwürdigkeit. Aus der »58er Bewegung« herauswuchs »Die Neue Linke« ab 1960 mit der Ostermarschbewegung, der Solidaritätsbewegung für Algerien und gegen französische Kriegsverbrechen. Der SDS nabelte sich von der SPD ab und radikalisierte sich politisch, erreichte mit der Kritik an Kapitalismus und Antikommunismus und mit der Solidarisierung mit der »Dritten Welt« einen Punkt, an dem der Bruch mit der »Alten Linken« unausweichlich wurde.

Michael Frey: Vor Achtundsechzig. Der Kalte Krieg und die Neue Linke in der Bundesrepublik und in den USA. Wallstein, Göttingen 2020, 471 S., 42 €.

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