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Gedanken zu Konservatismus und Fortschritt Die Welt ist nicht schwarz-weiß

Wer über Politik sprechen will, muss beim Menschen beginnen. Denn Politik regelt das Zusammenleben der Menschen. Annähernd acht Milliarden leben momentan auf der Erde.

Keine zwei von ihnen sind völlig identisch. Sie haben unterschiedliche und gemeinsame Vorstellungen, wie sie leben wollen. Sie haben unterschiedliche und gemeinsame Interessen. Und sie haben alle dieselbe Würde, allein deshalb, weil sie Menschen sind. Es gibt keine »minderwertigen« Menschen, die man als bloße Objekte behandeln dürfte. Menschen sind mündige Subjekte, die eigene Entscheidungen treffen. Diese können richtig oder falsch, gut oder böse sein, denn der Mensch ist weder nur gut noch nur böse – und er kann sich irren.

Wir Menschen sind auf mannigfaltige Art verschieden (Amartya Sen). Daneben haben wir aber auch jenseits der unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten vieles miteinander gemein. Die Welt ist nicht schwarz-weiß, wir oder die, Freund oder Feind.

Mit »konservativ« oder »fortschrittlich« beziehungsweise »progressiv« werden zwei politische Strömungen bezeichnet, die, von unterschiedlichen politischen Haltungen ausgehend, das Zusammenleben der Menschen regeln wollen.

Beide blicken auf historische Verirrungen zurück. Der Kommunismus sah sich an der Spitze der Fortschrittlichkeit und träumte von einer klassenlosen Gesellschaft in ferner Zukunft: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« (Karl Marx). Stalin, Mao und andere haben mit ihren Methoden zur Verwirklichung aus dieser Utopie einen Albtraum gemacht.

Die Konservativen in Deutschland trauerten dem Kaiserreich nach, waren antiparlamentarisch, nationalistisch und völkisch. Sie halfen mit, die Weimarer Republik zu zerstören. Ohne die Konservativen wäre Hitler nicht an die Macht gekommen. Nach 1945 war der preußisch-deutsche Konservatismus deshalb nachhaltig diskreditiert.

Unkritische technologische Fortschrittsgläubigkeit gab es bei Konservativen und Progressiven, als es in den 60er Jahren um die friedliche Nutzung der Kernenergie ging. Der FDP-Spruch »Digitalisierung first« lässt befürchten, dass man aus vergangenen Fehlern nicht gelernt hat. Denn ohne seriöse Technikfolgenabschätzung geht es nicht.

Der Blick zurück zeigt spezifische Gefahren für Konservative und Progressive. Konservatismus kann ins Reaktionäre und Rechtsextreme abgleiten. Eine Fortschrittsgläubigkeit, die sich im Besitz der Wahrheit wähnt, steht in der Versuchung, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen und in eine Erziehungsdiktatur zu münden, um den »neuen Menschen« zu schaffen.

Aber Politik ist nicht Pädagogik, und selbst die muss die Menschen so unvollkommen nehmen, wie wir nun mal sind.

Was ist Fortschritt?

Unsere Zeit- und Geschichtsvorstellung ist linear: Aus dem Mittelalter in die Moderne, von der Geburt bis zum Tod. Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir. Kommenden Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen, ist seit jeher die Triebfeder für menschlichen Fortschritt.

Um das Jahr 1500 unterschied sich das Leben aufeinander folgender Generationen kaum. Im 21. Jahrhundert leben Kinder in einer anderen Welt als ihre Großeltern. Internet, Digitalisierung und Globalisierung werden die Veränderungsgeschwindigkeit weiter erhöhen.

Neue technische Möglichkeiten können zu Fluch oder Segen für die Menschen werden. Künstliche Intelligenz (KI) kann helfen, Probleme zu lösen. Man kann aber mit ihr auch Menschen lückenlos überwachen und kontrollieren. Erst im Rückblick wird sich zeigen, ob künftige Generationen dank KI ein besseres Leben gehabt haben werden. Ob etwas Fortschritt ist, weiß man erst im Nachhinein.

Wenn Politik Fortschritte erreichen will, braucht sie Ziele. Mit den 17 »Zielen für nachhaltige Entwicklung«, den Sustainable Development Goals (SDG), haben 2015 alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine Agenda 2030 gemeinsam definiert und angenommen, was als Fortschritt für das Zusammenleben der dann über acht Milliarden Menschen auf dieser Welt angesehen werden soll.

Die Stichworte: Armut und Hunger beenden; Ungleichheiten bekämpfen; Selbstbestimmung stärken; Geschlechtergerechtigkeit; gesundes und gutes Leben für alle; Wohlstand bei weltweit nachhaltiger Lebensweise; ökologische Grenzen der Erde respektieren; Klimawandel bekämpfen; natürliche Lebensgrundlagen bewahren und nachhaltig nutzen; Menschenrechte schützen; Frieden gewährleisten; gute Regierungsführung; für alle Zugang zur Justiz. Zum Erreichen dieser Fortschrittsziele gilt es, eine globale Partnerschaft aufzubauen.

Manche dieser Ziele basieren auf Veränderung, andere auf Bewahren. Die Bekämpfung der Erderhitzung ist eine konservative Aufgabe, die viel Veränderung erfordert. In dem Maß, in dem diese Ziele bis 2030 erreicht werden, ist das Fortschritt.

Was ist Konservatismus?

Der Begriff stammt vom Lateinischen conservare = bewahren. Bewährtes soll bewahrt werden. Konservative sehen, dass Wandel stattfindet, stehen den Fortschrittsversprechen allerdings skeptisch gegenüber, weil sie wissen, dass Menschen irren können. Aus dieser Einsicht folgt die Erkenntnis, dass andere auch manchmal Recht haben könnten. Damit grenzt sich konservatives Denken von doktrinärer Fortschrittsgläubigkeit ebenso ab wie von populistischer Rechthaberei.

Jede Form von Fanatismus oder Extremismus ist dem Konservatismus fremd. Maß und Mitte, verbunden mit pragmatischer Besonnenheit prägen seine Haltung, sein politisches Denken und seine Sprache. Konservative denken nicht in Freund-Feind-Schablonen. Aufstachelnde Demagogik oder Hetze ist nicht konservativ. Konservative bemühen sich um angemessenes, inklusives und wertschätzendes Sprechen, ohne dabei übertriebene Auswüchse der Political Correctness oder des Genderns mitzumachen.

Konservative trennen zwischen Staat und Gesellschaft. Dabei hat die Zivilgesellschaft Vorrang vor dem Staat. Dieser ist nicht allzuständig, weder in der Form als bürokratischer Macht- und Obrigkeitsstaat, noch als umfassender Sozial- und Fürsorgestaat. Der Staat gibt durch seine Gesetze den Rahmen vor und stellt den Menschen durch seine Leistungen (Bildungswesen, Infrastruktur) Leinwand, Pinsel und Farbe zur Verfügung. Er malt aber nicht das Bild.

Ordnungspolitisch spielt das Subsidiaritätsprinzip im Konservatismus eine zentrale Rolle. Danach darf eine höhere staatliche oder gesellschaftliche Einheit erst dann helfend eingreifen und Funktionen an sich ziehen, wenn die Kräfte der untergeordneten Einheit nicht ausreichen, um die Funktion wahrzunehmen. Das sorgt für bürger:innennahe Entscheidungen und erleichtert Partizipation und Mitbestimmung. Dabei wird allerdings eine Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung vorausgesetzt, die nicht immer gegeben ist. Denn Konflikte können dann nicht einfach nach oben abgewälzt, sondern müssen vor Ort entschieden werden. Konservatismus ist nicht bequem, sondern fordert Konfliktbereitschaft, Stehvermögen und Solidarität.

Solidarität wird dabei nicht als Einbahnstraße verstanden, sondern als einen zweiseitigen Prozess. Die solidarische Hilfe der Gemeinschaft soll nur dann und insoweit in Anspruch genommen werden, wenn er oder sie nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen. Zur Eigenverantwortung gehört, alles zu tun, um die Hilfe der Gemeinschaft nicht in Anspruch nehmen zu müssen.

Konservative sind für den Schutz des ungeborenen Lebens und gegen aktive Sterbehilfe. Ihr Einsatz für den Schutz des Lebens wäre glaubwürdiger, wenn auch die Lebensphase dazwischen mehr in den Blick genommen würde. Das Ertrinken von Geflüchteten im Mittelmeer findet weniger konservative Aufmerksamkeit als Abtreibungen.

Beim »Bewahren des Bewährten« stehen Konservative in der Gefahr, nur auf die eigene, möglicherweise privilegierte Lage zu schauen und zu übersehen, dass sich für große Teile der Gesellschaft die Zustände gerade nicht bewährt haben. So mussten praktisch alle Meilensteine für die Gleichstellung der Frauen gegen den Widerstand eines männerdominierten Konservatismus durchgesetzt werden: das Frauenwahlrecht, die Streichung des Gehorsamkeitsparagraphen, die Reform des Ehe- und Familienrechts, die Straffreiheit bei Schwangerschaftsabbrüchen, der Straftatbestand Vergewaltigung in der Ehe, Frauenquoten in der Wirtschaft.

Die CDU hat konservative Wurzeln, aber der Stamm der Partei wird in gleicher Weise von ihren sozialen und liberalen Wurzeln genährt. In ihren programmatischen Früchten kommen die drei Strömungen zusammen. Die CDU ist keine (rein) konservative Partei.

Das »C« gibt den Strömungen die gemeinsame Richtung vor. So kann ein mitfühlender Konservatismus entstehen, voller Empathie für die Menschen. Mit dem »C« sind auch Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden, die gleicherweise politische Ziele definieren wie als Maßstab für die Bewertung des Bestehenden dienen können. Die CDU will ihre ethischen Maßstäbe aus dem »C« gewinnen. Das gelingt mal besser, mal schlechter.

Konservative vs. Progressive

Panta rhei – »alles fließt« hat Heraklit gesagt. Nichts ist beständiger als der Wandel. Konservative möchten ihn eher verlangsamen, um in Ruhe das Bewährte zu sichern. Progressiven geht es oft nicht schnell genug, weil sie mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden sind. Sie stoßen sich eher an Ungleichheiten. Gleichheit spielt in ihren Gerechtigkeitsvorstellungen eine große Rolle. Demgegenüber heben Konservative eher auf individuelle Unterschiede ab, die eben auch Ungleichheiten zur Folge haben. Es geht ihnen um Chancengerechtigkeit, nicht um Gleichheit der Ergebnisse.

Progressive entwickeln Ideen von der Zukunft, während Konservative überlegen, wie der Beipackzettel mit Risiken und Nebenwirkungen aussehen müsste. Konservative sind pragmatisch und geben mehr auf Erfahrung. Progressive denken programmatischer und greifen eher auf gesellschaftspolitische Theorien zurück, um ihre Zukunftsideen zu entwickeln. Der Zeitgeist des Wandels ist Konservativen eher suspekt. Man soll sein Fähnchen nicht nach dem Wind hängen. Die Progressiven entgegnen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Konservatismus und Fortschritt sind dialektisch aufeinander bezogen. Es ist wie beim Fahrradfahren. Man muss in die Pedale treten, um nicht umzufallen. Man braucht auch gute Bremsen, um sicher vorwärts zu kommen.

In Demokratien organisieren sich Konservative und Progressive in unterschiedlichen Parteien. Die Wähler:innen stellen die von ihnen gewünschte Balance zwischen beiden Strömungen her. Partei kommt vom lateinischen pars = der Teil. Für das demokratische Miteinander ist wichtig, dass Konservative und Progressive sich bewusst bleiben, jeweils nur einen Teil des Ganzen zu vertreten. Das führt zu einer Argumentation auf Augenhöhe und bewahrt die Progressiven davor, zu einer Avantgarde von Besserwissern zu verkommen.

Klare Kante gegen Rechtsextremismus

Konservative wehren sich gegen jede Form von Extremismus. Aber ein Blick in die Geschichte lehrt, dass ihre Abgrenzung vom Rechtsextremismus für die Demokratie besonders wichtig ist. Aktuell zeigen das auch die Entwicklungen in Ungarn, Polen und den USA. Das gilt etwa für den Umgang mit Ängsten. Rechtsextreme bestärken und schüren sie, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Konservative suchen nach Wegen, die Ängste zu nehmen.

Rechtsextreme diskreditieren systematisch die unabhängigen Medien (»Lügenpresse«) und verbreiten Verschwörungsmythen und Lügen (Fake News). Konservative bemühen sich um Faktentreue und schätzen eine freie Presse, die sich um die Überprüfung von Informationen kümmert, den Mächtigen auf die Finger schaut und den Menschen in der täglichen Informationsflut Orientierungsangebote macht.

Orbán, Kaczyński und Trump zeigen, dass ihnen eine unabhängige Justiz ein Dorn im Auge ist, und sie versuchen, sie unter Kontrolle zu bringen. Konservative bejahen repräsentative Demokratie und Gewaltenteilung als System zur Kontrolle von Herrschaft und Machtausübung. Rechtsextreme wollen dieses System abschaffen. Die »Wutbürger« zeigen, wie dringend wir die repräsentative Demokratie brauchen. Deshalb müssen Konservative den Rechtsextremismus politisch bekämpfen. In diesem Sinn sind sie Anti-Faschisten. Und es muss sich von selbst verstehen, dass es keinerlei politische Zusammenarbeit geben darf. Politische Ausgrenzung ist die richtige Strategie.

Der Kipppunkt würde nicht erst mit einer Koalition überschritten. Keinerlei politische Zusammenarbeit heißt deshalb: Es gibt keine gemeinsamen Anträge mit der AfD. Es gibt keine Unterstützung für Anträge der AfD. Es werden keine Anträge gestellt, die nur mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit bekommen können. Es darf keine Minderheitsregierung geben, die sich eine Mehrheit für ihre Initiativen auch bei der AfD suchen müsste.

Wer politisch wirksam sein will, braucht Aufmerksamkeit für seine Ideen und Vorschläge. Die Algorithmen der sogenannten Sozialen Medien geben dem schrillen und polarisierenden »Entweder-oder« die größere Reichweite. Das hat zunehmend auch Auswirkungen auf die Berichterstattung der klassischen Medien. Abgewogene Einerseits-andererseits-Stellungnahmen und Kompromissvorschläge sind unverzichtbar für unsere Demokratie. Aber sie wirken oft farblos, langweilig und irgendwie grau – wie der Konservatismus. Aber wie gesagt: die Welt ist nicht schwarz-weiß.

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