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Bücher im Spannungsfeld von Kolonialismus und Holocaust Die Welt reparieren

Die afroamerikanische Schauspielerin Whoopi Goldberg sorgte unlängst für Empörung, als sie in ihrer Talkshow sagte, beim Holocaust sei es »nicht um Rasse« gegangen, und dies damit begründete, Juden sowie Sinti und Roma seien »zwei Gruppen weißer Menschen«. Daraus sprach eine Haltung, die der ebenfalls schwarze amerikanische Sprachwissenschaftler John McWhorter in seinem Buch Die Erwählten als »Third Wave Antiracism« bezeichnet. Dessen aus seiner Sicht leicht- und irrgläubigen Anhänger würden nach ihrem Lieblingsausdruck »woke« (erwacht) auch »der woke Mob« genannt. McWhorter kritisiert diese dritte Welle als eine quasireligiöse dogmatische Erweckungsbewegung mit einem »extrem scharf gestellten Fokus auf einen stark vereinfachten Begriff davon, was Rassismus ist und was dagegen getan werden kann«.

McWhorters polemische Schrift bezieht ihren Impetus aus Skandalen wie dem um Alison Roman, einer Food-Autorin der New York Times, die öffentlich gemobbt und von ihrer Zeitung geschasst wurde, weil »sie es gewagt hatte, als weiße Frau zwei Frauen of Color zu kritisieren«. Bei den angeblichen Opfern habe es sich aber um zwei erfolgreiche Prominente gehandelt: »Teigen ist halb weiß und halb Thai. Kondo ist japanische Staatsbürgerin. Keine der beiden passt zu unserer typischen Vorstellung von einer Person of Color, im Sinne von: Opfer einer historisch bedingten und strukturell perpetuierten Benachteiligung.« Gleichwohl habe eine »bestimmte Form von Empörung, die als ›antirassistisch‹ gilt« einem woken Hassmob erlaubt, Alison Roman an den Pranger zu stellen. Man fragt sich da, was geschehen würde, wenn heute ein weißer britischer »working class hero« wie John Lennon zusammen mit der japanischen Bankierstochter Yoko Ono den Song »Woman is the Nigger of the World« vorstellen wollte.

Erstaunlich ist, wie rasch diese aus den Erfahrungen afroamerikanischer US-Bürger erwachsene Bewegung ohne jeden Sinn für kulturelle Differenzen und verstärkt durch antikolonialistische Kritik nach Deutschland übertragen wurde. Angesichts von Tausenden Anhängern der »Black Lives Matter«-Bewegung auch hierzulande kommentierte Sara Maria Behbehani deshalb schon im Sommer 2020 irritiert in der Süddeutschen Zeitung, was denn mit den türkischen Mordopfern in Hanau sei: »Warum bringen so viele Deutsche mehr Empathie für einen ermordeten Schwarzen in den USA auf als für einen ermordeten Türken im eigenen Land?«

Die Penetranz der negativen Reste

Dass die meisten weißen US-Amerikaner nicht als Plantagenbesitzer ins Land kamen und ein Großteil der Deutschen in ihrer kurzen Kolonialzeit noch nicht einmal wahlberechtigt waren, scheint keinerlei Rolle zu spielen, wenn McWhorters »Erwählte« sich auserkoren wähnen, Rassismus selbst noch in homöopathischen Dosen zu wittern. Und so absurd es wäre, eine Gesellschaft, in der eine unbedachte Bemerkung, ein geschmackloser Witz, ein unanständiges Wort, eine verächtliche Geste oder auch nur eine berechtigte kritische Anmerkung einem Gewaltakt oder einer gezielten Diffamierung gleichgesetzt wird, frei, tolerant und moralisch zu nennen, so ist dies doch die Basis jener Dritten Welle, auf der die »Erwählten« reiten.

Jede einzelne Komponente sei dazu da, weiße Menschen pauschal als Rassistinnen und Rassisten zu verurteilen: »Wer sich entschuldigt, offenbart den eigenen Rassismus; wer sich allerdings weigert, sich zu entschuldigen, legt ebenfalls Rassismus an den Tag. Wer sich nicht für Schwarze Kultur interessiert, offenbart den eigenen Rassismus. Wer sich mit Schwarzer Kultur beschäftigt und beschließt, rappen oder Dreadlocks tragen zu wollen, legt allerdings ebenfalls Rassismus an den Tag.«

Dieser Lehrplan sei »einzig und allein dafür da, Rassismus zu enthüllen«. Tatsächlich aber verschleiere er ihn, denn wer sich auf solche Form moralischer Verdammung verlässt, übersieht nicht nur die realen Machtverhältnisse, sondern auch eine simple Tatsache: Mögen viele der denunzierten Weißen sich in ihren Schuldgefühlen winden oder sich gar in antirassistische Therapie begeben, so bleiben die echten Rassisten, die weißen Suprematisten davon vollkommen unberührt. Sie würden auf den Vorwurf, sie seien aufgrund ihrer Weißheit privilegiert und rassistisch, vermutlich geschmeichelt antworten, das sei auch richtig und gut so.

Wie bei vielen Fällen aktueller Identitätspolitik fühlt man sich auch hier an Odo Marquards »Gesetz der zunehmenden Penetranz der negativen Reste« erinnert. Je weiter ein Emanzipationsprozess fortschreitet, desto skandalöser werden noch fortbestehende Diskriminierungen empfunden. Andererseits fragt man sich, welche Ignoranz hinter dem oft gedankenlos erteilten Rat an die Nachkommen von Opfern der Sklaverei, des Kolonialismus, des Holocaust steckt, sie sollten auf »harmlose Bemerkungen« und »bloße Gedankenlosigkeit« nicht so mimosenhaft reagieren.

Partikularismus versus Universalismus

Einen ähnlichen Skandal wie Whoopi Goldbergs Bemerkung, für die sie sich übrigens entschuldigt hat, greift der in Deutschland geborene israelische Soziologe Natan Sznaider in seinem Essay Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus auf. Im Jahre 2015 hatte der afrikanische postkolonialistische Theoretiker Achille Mbembe, Autor der Critique de la raison nègre (2013), in Deutschland noch den Geschwister-Scholl-Preis erhalten. Fünf Jahre später forderten der »Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus« Felix Klein und der FDP-Landespolitiker Lorenz Deutsch, Mbembes Einladung als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale 2020 zu widerrufen: »Achille Mbembe sei durch die Relativierung des Holocaust aufgefallen, setze den Staat Israel mit dem Apartheidsystem Südafrikas gleich, stelle das Existenzrecht Israels infrage.« Für Sznaider liegt diesen Vorwürfen ein grundsätzlicher Konflikt zwischen Partikularismus und Universalismus zugrunde.

In seiner Preisrede von 2015 habe Mbembe als Vertreter der »Black Studies« von einer »Universalisierung der Conditio Nigra« gesprochen, »von einem strukturellen Rassismus, der vor Jahrhunderten mit der Globalisierung des Kapitalismus« begonnen habe. Damit habe Mbembe eine »Gegenfigur zur Kategorie des universalisierten Juden geschaffen«, die sich im Denken etwa einer Hannah Arendt angesichts des Holocaust finden ließe. Welche Minderheiten nun zur universalen Kategorie würden, sei eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts, postuliert Sznaider und präzisiert diese Frage so: »Sind es die Juden und damit der Versuch ihrer Vernichtung, oder sind es die ›Neger‹, die Schwarzen, die Kolonisierten, die Nichtweißen, die, wenn man Mbembe folgt, im Mittelpunkt der Weltgeschichte stehen?«

Aus dem Tumult der gegenwärtigen Debatte geht Sznaiders Essay auf Fluchtpunkte der Erinnerung zurück, in der sich die gegenwärtigen Antagonismen, partikuläre und universalistische Deutungen und Selbstbestimmungen ausprägten und fortan konkurrierten. Dabei ruft er Karl Mannheim (»Ungar, Jude, Deutscher«) und Hannah Arendt (»Jüdin, Deutsche, Amerikanerin«) ebenso in den Zeugenstand wie Claude Lanzmann und Frantz Fanon (»zwei Franzosen, ein Jude, ein Schwarzer«), Albert Memmi (»Jude, Tunesier, Franzose«) und Edward Said (»Christ, Araber, Amerikaner«). Fluchtpunkte sind Dreyfusaffäre und Shoah, französischer Kolonialismus und Algerienkrieg sowie die von Palästinensern als »Nakba« (»Katastrophe«) erlebte Vertreibung im Zuge der Etablierung des Staates Israel.

»Nationale und ethnische Erinnerungen neigen dazu, die eigenen Opfer zu privilegieren«, schreibt Sznaider. Die universalistischen Parolen der französischen Revolution (»Liberté, Égalité, Fraternité«) und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (»all men are created equal«) wurden bald weißen bürgerlichen Männern als Erbprivileg zugeschlagen, während die Erfahrungen der Opfer dazu neigten, miteinander zu konkurrieren.

Dem kurzen Atem des aufgeklärten Universalismus, der sich im Kolonialismus, der Dreyfus-Affäre, dem Holocaust und dem Algerienkrieg entlarvte, stellte die Gründung des Staates Israel dann seine Singularitätsthese entgegen und ein »Nie wieder« nicht nur in Bezug auf den Holocaust. Der Staat Israel werde dadurch »zu einer partikulären Lösung eines partikulären Problems« schreibt Sznaider, die jede Universalisierung ausschließe: »Denn nach dieser Weltanschauung machte gerade die partikuläre jüdische Erfahrung, nirgends auf der Welt willkommen zu sein, den Holocaust erst möglich. Und das Nie wieder wird realisiert in einer konkreten Handlung: der Schaffung eines sicheren Ortes, der auch dann vor einer Opferrolle schützt, wenn alle anderen Orte unerreichbar werden.«

Heilsgeschichtliche Selbstermächtigung

Die unterschiedlichen Erinnerungen an Holocaust und Kolonialismus, so Sznaider, seien somit »eigentlich unüberbrückbar«; nicht zuletzt auch aufgrund einer Psychologisierung der politischen Sprache, durch die jeder auf sein eigenes Trauma fixiert sei: »Sehen Mbembe und seine Anhänger im Boykott des Staates Israel einen Teil eines universalen Kampfes für Gerechtigkeit, dann haben sie als Gegenposition in diesem Kampf nicht das nationalsozialistische Deutschland vor Augen, sondern das Apartheidsystem Südafrikas.«

Verliert sich die Erinnerung, ja die Wahrnehmung von Auschwitz bei jenem »universalen Kampf für Gerechtigkeit« also im Nebel eines neuerlichen Bellum iustum, im Traum der nunmehr schwarzen Vernunft von einer besseren Welt? Mbembe nenne sein Engagement für die Welt »bewusst, ›Die Welt reparieren‹, ein Begriff aus dem rabbinischen Judentum (Tikkun Olam)«, schreibt Sznaider, aber spricht aus einer solchen heilsgeschichtlichen Selbstermächtigung nicht auch ein übermenschliches Selbstvertrauen? Ein quasi-religiöses, von Erweckungs- und Bußritualen geprägtes Vorgehen wirft McWhorter seinen »Erwählten« vor. In Deutschland sprachen vor 500 Jahren radikale Reformatoren wie der Münsteraner Prediger der Täuferbewegung Bernd Rothmann von einer Restitution, einer Heilung des wahren christlichen Glaubens als Teils des apokalyptischen Kampfes zwischen Gläubigen und Anhängern Roms. Dieser Versuch einer Heilung durch ultimative Konfrontation endete, wie so viele andere zuvor und danach, mit einem blutigen Massaker.

Derzeit erleben wir den Untergang der säkularen Heilserwartungen, die sich mit dem Zerfall der UdSSR verbunden hatten, während wir gerade dabei waren zu begreifen, dass ein großer Teil der Reichtümer unserer Welt von einem kleinen Teil der Menschheit bereits verbraucht worden ist. Was bislang noch unterhalb der atomaren Schwelle hochkocht, könnte – frei nach Arnold Zweigs auf den Ersten Weltkrieg gemünzter Bezeichnung – ein weiterer »Großer Krieg der weißen Männer« werden, vielleicht ihr letzter. Mehr als eine Notreparatur der Welt zu erhoffen, erscheint derzeit unrealistisch.

John McWhorter: Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022, 256 S., 23 €. – Natan Sznaider: Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. Hanser, München 2022, 256 S., 24 €.

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