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Sten Nadolnys zeitdiagnostischer Klassiker neu gelesen Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

John, der kleine Junge aus den East Midlands, entwickelt sich vom einfachen Matrosen zum ruhmreichen Kapitän Sir Franklin. So oder ähnlich lässt sich die Erfolgsgeschichte resümieren, die Sten Nadolny in seinem 1983 erschienenen Roman Die Entdeckung der Langsamkeit anhand der Lebensphasen Jugend, Ausbildung und Meisterschaft seines Protagonisten erzählt.

Anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Veröffentlichung dieses in zahlreiche Sprachen übersetzten Bestsellers drängt sich die Frage nach der Aktualität eines Buches auf, das vor der Digitalisierung unserer Lebenswelt erschienen ist und die Lebensgeschichte eines weißen westeuropäischen Mannes erzählt. Welche zeitdiagnostische Qualität hat ein auktorial erzählter Text aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, der von der ersten Hälfte des »langen 19. Jahrhunderts» – so die von Eric Hobsbawm geprägte Epochenbezeichnung – handelt, im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts? Oder anders gefragt: Wie ist es heute um die Gegenwartsbezüglichkeit von Nadolnys historischem Entwicklungsroman über unterschiedliche Zeit(lichkeit)en bestellt?

Nicht nur die Frage nach der zeitdiagnostischen Qualität eines Romans, der zur Schullektüre geworden ist, sondern auch die implizite Gegenüberstellung numerisch erfassbarer Zeitfenster, also der linearen Zeit, und qualitativer Zeitangaben, der sogenannten erlebten Zeit, führen mitten in den thematischen Kern von Nadolnys Roman hinein. Zusätzlich zur die Fortschrittsgeschichte strukturierenden Leitdichotomie zwischen der fiktiven Langsamkeit der historisch verbürgten Hauptfigur John Franklin und der Schnelligkeit seines Umfeldes werden zahlreiche weitere Zeitqualitäten miteinander verglichen.

Es ist die Rede von der zyklischen ländlichen Zeit und der durch technische Errungenschaften beschleunigten Zeit europäischer Städte, der heilsgeschichtlich-menschlichen und der naturgeschichtlichen Zeit, aber auch von Friedens- und Kriegszeiten. Mit Blick auf die romanintern als Höhepunkt inszenierte Suche nach der Nordwestpassage, der Verbindung von Atlantik und Pazifik, wird jedoch einem industriellen, der Geschwindigkeit als Leitlinie verpflichteten Zeitregime das vorläufig letzte Wort erteilt; vergleichbar mit der letzten Einstellung beziehungsweise Szene des Romans, die einen Fotografen eines englischen Wochenmagazins bei einer (technisch bedingt allerdings tendenziell langsamen) Momentaufnahme zeigt.

Obwohl Franklin selbst ein Buch über Langsamkeit als Lebensstrategie schreibt und das Schreiben im Allgemeinen als langsame Tätigkeit beschrieben und gelobt wird, werden in Nadolnys Roman auch jüngere (und schnellere) Medien und Technologien wie Fotografie oder Film thematisiert. Diversität lässt sich auch bei der Figuren- und Themengestaltung beobachten, wenn die dominante Perspektive von der männlichen Hauptfigur in Richtung einer außergewöhnlichen Frau, der mit John verheirateten Jane Franklin, geöffnet wird und ansatzweise sogar queere Lebensrealitäten angedeutet werden. Aufgrund nachwirkender historischer Ereignisse wie der Französischen Revolution und hinsichtlich der atlantischen und arktischen Forschungs- und Entdeckungsreisen wird insbesondere auch das Neue als zentrale Kategorie des Romans erkennbar. Für den strategisch vorgehenden Franklin bildet es zeitlebens eine Herausforderung; ein Umstand, der ein nostalgieaffines Lesepublikum zur Identifikation mit der Hauptfigur einlädt.

Anhand einer positiv konnotierten historischen Figur wird Langsamkeitim Roman als Eigenschaft dargestellt, die nicht nur mit Reaktionsverzögerungen und fehlendem Verständnis, sondern auch mit Ausdauer und Genauigkeit einhergeht. Letztere sind für reibungslose Abläufe auf einem Segelschiff und insbesondere für die Navigation desselben ebenso entscheidend wie schnelle Reaktionen, weshalb die vermeintliche Schwäche der Hauptfigur vor allem als Stärke akzentuiert wird.

Indem detailreich eine zeitintensive Annäherung zwischen einem indigenen Herrscher und dem englischen Kapitän beschrieben wird, führt der Roman auch auf sprachlicher Ebene vor, dass und wie Zeit beziehungsweise Langsamkeit mit Macht einhergehen. Hinweise darauf, dass Zeit und Zeitlichkeit je nach Kontext unterschiedlich bewertet werden und Zeitkategorien wie Langsamkeit relational zu denken sind, verweisen auf eine komplexe literarische Auseinandersetzung mit Fragen der Zeitwahrnehmung und -darstellung. Dass diskriminierende Verhaltensweisen des Umfeldes und (Selbst-)Zweifel der Hauptfigur nicht ausgeblendet werden, macht das Buch auch heute zu einer zeitgemäßen Lektüre.

Geradezu hochaktuell wirken romaninterne Überlegungen zum lebenslangen Lernen, dem sich der Protagonist beinahe zwangsweise verschrieben hat, und zu Reformen des Schulunterrichts, der nach Franklins Vorstellungen den unterschiedlichen Kompetenzen von Kindern entsprechend inklusiv gestaltet werden sollte. Auch die vor 40 Jahren virulenten Themen wie Umweltschutz und (Kalter) Krieg, die als Überlegungen zum Schmelzen des Polareises und zu auf zwei Seiten verlustreichen Seeschlachten indirekt in den Roman einfließen, sind mit den Jahrzehnten noch dringlicher geworden.

Der anthropogene Klimawandel und der gegenwärtige Krieg auf europäischem Boden – man denke an die derzeit proklamierte Zeitenwende – dominieren die gesellschaftlichen Debatten. Bücher wie Nadolnys Roman sind indessen nicht nur thematisch, sondern auch zeitdiagnostisch von Interesse, da sie widersprüchliche Vorstellungen und Anforderungen wie ein lebenslanges (langsames) Lernen und drängende, sofortiges Handeln einfordernde Zeitdiagnosen literarisch erfahrbar und der Reflexion zugänglich machen.

Die Interpretation des Romans, er kritisiere hauptsächlich die Schnelligkeit seiner Entstehungszeit und diagnostiziere Stress als Zivilisationskrankheit, erweist sich folglich als voreilig. Wie bei der Suche nach der Nordwestpassage, die letztlich Langsamkeit in der Form langer Transportwege beseitigen soll, geht es vor allem auch um Prozessoptimierungen. Dies erinnert durchaus an gegenwärtige Tendenzen, das eigene Leben insbesondere auch mit Blick auf Rückschläge, deren Verarbeitung die Betroffenen über sich selbst hinauswachsen lässt, als Erfolgsgeschichte zu rahmen. Die romaninternen Helden- und Fortschrittsnarrative tun das Übrige dazu, dass trotz (oder gerade wegen) der Fokussierung von Beeinträchtigungen, Krisen und Katastrophen die Botschaft vermittelt wird, dass jedermann seines eigenen Glückes Schmied sei.

Während Franklin durch das Auswendiglernen von Abläufen und den sogenannten starren Blick seine Langsamkeit zu operationalisieren lernt, sind es heute (Entschleunigungs-)Konzepte wie »Digital Detox« oder »Slow Food«, die nicht nur mit einem alternativen Zeitempfinden, sondern auch mit einem Sinnversprechen einhergehen. Sie lassen wie der Roman jedoch unberücksichtigt, dass die Verantwortung für etwaiges Scheitern dabei automatisch auf das Individuum abgewälzt wird, wodurch der Blick auf strukturelle Benachteiligungen und Behinderungen verstellt.

Mit Blick auf den rasanten Alltag des 21. Jahrhunderts zeigt sich jedoch auch das subversive Moment der tendenziell langsamen Tätigkeit des Romanlesens. Die romanbasierte Entdeckung der Langsamkeit kann zudem nur gelingen, wenn der Eigenzeitlichkeit beziehungsweise Langsamkeit des traditionellen Mediums Literatur innerhalb einer Gesellschaft Raum gegeben wird. Das anhaltende Interesse an historischen Romanen spricht allerdings dafür, dass der lesende Blick zurück und darauf basierend in Richtung Gegenwart und Zukunft attraktiv bleibt und die Zeit von Longsellern wie Die Entdeckung der Langsamkeit noch lange nicht vorbei ist.

Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. Piper, München 1987, 348 S., 12 €.

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