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Adam Zamoyski entzaubert Napoleon Die Wirklichkeit eines »phantastischen Helden«

François-René Vicomte de Chateaubriand, Politiker und Diplomat, Schriftsteller und Bonvivant, lieferte nach Napoleons Tod die nüchternste Deutung seiner Legende. Während kluge Männer wie Stendhal, Dumas und Hugo in Frankreich, Goethe, Hegel und Heine in Deutschland, Byron und Carlyle in Großbritannien dem Heldenkult des »korsischen Ungeheuers« Beifall zollten, bewies der konservative Schöngeist einen unbestechlichen Blick für das Phänomen Bonaparte. Der tote Kaiser drohe ein »phantastischer Held« zu werden, schrieb Chateaubriand. Zunächst hätten sich die Franzosen dem Nimbus seiner Person unterworfen, nun mit noch größerem Eifer dem »Despotismus seiner Erinnerung«. Er fuhr fort: »Die Welt gehört Bonaparte. Das, was der Zerstörer nicht mehr erobern konnte, vereinnahmt sein Renommee. Lebend hat er die Welt nicht erworben, tot besitzt er sie. Bonaparte ist nicht mehr der wahre Bonaparte, er ist eine legendäre Gestalt, zusammengesetzt aus den Phantasien der Dichter, den Erinnerungen der Soldaten und den Erzählungen des Volkes.« Für Chateaubriand bestand kein Zweifel, dass dieser postume Despotismus politisch noch gefährlicher werden könnte als Napoleons Despotismus zu Lebzeiten. Auf dem Thron habe man den Usurpator angreifen können, nach seinem Tod aber seien die Franzosen bereit, die Ketten freiwillig anzunehmen, in die der Tote sie werfe, »ein Hemmschuh künftiger Ereignisse«.

Die Mehrzahl der Franzosen hat es anders empfunden. Geradezu sehnsüchtig folgten sie noch lange Zeit der Botschaft, die der verbannte Kaiser in seinem »Mémorial de Sainte-Hélène« der Nachwelt hinterlassen hatte. Niemals habe er als Herold der Freiheit die Prinzipien der Revolution vergessen, konnte man da lesen, er sei ein Friedensfürst gewesen, der Kriege lediglich zum Schutz und höheren Ruhm des Vaterlandes geführt habe, zu Fall gebracht zuletzt durch den Verrat von Untergebenen. Napoleons Legende machte den Blutzoll seiner Herrschaft nahezu vergessen, hunderttausendfach wurde sein politisches Vermächtnis in den kommenden Jahrzehnten aufgelegt und gelesen. Die Verbannung auf ein fernes Eiland im südlichen Atlantik erschien darin als großes Martyrium. Balzac schrieb: »Meine Bewunderung für Napoleon wurde fast zum Fanatismus, als ich sah, wie er im Fallen beschimpft wurde.« Und Grillparzer, eingeschnürt im Klima der Metternichschen Restauration, fragte: »Ist auf der freien Erde, seit du fort. / Nun wieder frei Gedanke, Meinung, Wort?«

Von Waterloo zum Invalidendom

Von Anfang an erwuchs der Bonaparte-Mythos einer klug durchdachten Propagandastrategie, aber sie hätte historisch nicht wirksam werden können ohne die Sehnsucht der Franzosen nach ihrem Kaiser, »dem Vater des Volkes und des Soldaten«. Zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848 entfalteten der Bonapartismus und mit ihm die Hoffnung auf eine Restitution des Kaiserreichs eine enorme Mobilisierungskraft. Der Napoleon-Kult fand Ausdruck in allen möglichen Formen der Alltagsikonik, als Denkmal, Gipsbüste und Statuette, auf Stahlstichen, Medaillen und Tabakdosen, in Poemen und Chansons. Aber auch von staatlicher Seite wurde Napoleon jetzt immer entschiedener gehuldigt, bis seine sterbliche Hülle schließlich im Dezember 1840 mit pompösem Gepränge nach Paris in den Invalidendom überführt wurde. Louis Bonaparte, der Neffe des Kaisers, rechtfertigte seine Wahl zum Staatspräsidenten im Dezember 1849 mit dem Namen des berühmten Vorfahren: »Denn der Name Napoleons ist für sich allein ein Programm, das besagen will: Ordnung, Autorität, Religion, Wohlfahrt des Volkes im Innern und gegenüber dem Ausland nationale Würde.« Zwei Jahre später machte sich dieser Neffe durch einen Staatsstreich zum Kaiser der Franzosen und nannte sich Napoleon III.

Adam Zamoyski, der in London lebende polnische Historiker, hat in seiner Studie über den ersten Napoleon nicht der Neigung nachgegeben, die wirkungsmächtige Legende des Kaisers noch einmal zu entfalten. Er kennt sie zwar genau, aber er zeigt auf über 800 Seiten mit überwältigender Detailfülle, wie wenig sie der realen Person, dem Feldherrn und Usurpator des Kaiserthrons entspricht. Sein Buch ist weit mehr als eine Biografie des Protagonisten, es ist ein ausladendes Epochenpanorama, ein Kaleidoskop der europäischen Diplomatie- und Kriegsgeschichte in den drei Jahrzehnten von Napoleons Wirksamkeit, nicht zuletzt eine Studie über charismatische Herrschaft und das Psychogramm einer einzigartigen Machtgestalt im Anbruch moderner Staatlichkeit. Dabei liefert auch Zamoyski keine schlüssige Erklärung für den einzigartigen Aufstieg des Korsen in der Ära der Aufklärung und der Französischen Revolution. Wie konnte ein seit seiner Jugend leicht verwilderter Mann, eines von 13 Kindern einer ärmlichen Familie, der nie eine ordentliche Schule besucht hatte und mit neun Jahren auf eine Militärakademie geschickt worden war, zu einer herausragenden Gestalt der europäischen Politik werden? Eingehend wird die beengte und oft frustrierende Sozialisation des Knaben beschrieben, der von seinen aristokratischen Mitkadetten wegen seiner Ärmlichkeit und seiner schlechten französischen Sprachkenntnisse gehänselt wird, der maßlos ehrgeizig, aber auch jähzornig ist, der unendlich viel liest, voran Voltaire, Diderot und Rousseau, seine Hausgötter, aber auch Goethe und Richardson, der sich früh als Autor sieht und zu den Bestrebungen bekennt, das unterdrückte Korsika von seinem Zwingherrn Frankreich zu befreien. Arrogant und angestrengt selbstbewusst tritt dieser Napoleone Buonaparte, wie sein eigentlicher italienischer Name lautete, auf, als man ihn mit 16 Jahren zur Artillerie der französischen Armee beordert.

Aufstieg und Fall

Mit genauer Kenntnis der Forschungslage und auf der Basis ausgedehnter Quellenstudien in britischen, französischen, polnischen, deutschen und italienischen Archiven schildert Zamoyski die Entwicklung Napoleons vom kleinen Seconde-Lieutenant über den Ersten Konsul der Republik bis zum Kaiser der Franzosen, schließlich seine schmachvolle Verbannung nach Elba und St. Helena. Der korsische Freiheitskämpfer wandelt sich rasch zum französischen Jakobiner und zu einem Militär mit politischer Ambition, der laut Zamoyski die Ereignisse der 1790er Jahre mehr und mehr mit den Augen eines »zynischen Realisten« betrachtet. Mit 24 ist er Brigadegeneral, gerät in die Verließe der Gegenrevolution, beteiligt sich maßgeblich am 18. Brumaire, dem Staatsreich des Direktoriums, setzt die Konsulatsverfassung des Landes mit durch und steigt auf zum Ersten Konsul auf Lebenszeit, was nur noch durch die Selbstkrönung zum Kaiser der Franzosen zu überbieten ist. Möglich wird diese grandiose Karriere durch den Glanz der militärischen Siege, die strategischen Bravourstücke in Europa, Ägypten und selbst in Russland, die von der französischen Öffentlichkeit mit Bewunderung und Verehrung, Angst und Verzweiflung und nicht selten auch mit Abscheu und Hass aufgenommen werden. Napoleons Mythos, von ihm selbst professionell ins Werk gesetzt, nährte sich stets von der sozialpsychologischen Suggestivkraft eines auratischen »Genies« und »Retters«.

Adam Zamoyski zeigt freilich auch, wie verzerrt, verlogen und korrekturbedürftig sich diese Mythenbildung im Einzelnen vollzog. Sie führt nicht ohne Folgerichtigkeit zur Frage nach dem Scheitern des »großen Mannes«. Napoleon war keineswegs der kühl abwägende Stratege, als der er den Zeitgenossen lange erschien, vielmehr eigensinnig, jähzornig, wankelmütig, oft beratungsresistent, süchtig nach Macht und Selbstdarstellung. Er glaubte manisch, ja geradezu seherisch an seinen Wagemut, die Grandiosität der Tat und die Herausforderung des Schicksals.

Zamoyski weist nachdrücklich auf die strukturellen Widersprüche in Napoleons Handeln hin, schwankend zwischen Aufklärung, Befreiung und Modernisierung auf der einen Seite und der Refeudalisierung der Verhältnisse auf der anderen Seite. Mit Recht wurde der vormalige »Befreier« und Verfasser des »Code civil« in den europäischen Staaten mehr und mehr als Usurpator und Ausbeuter wahrgenommen. Auch in Frankreich wurde aus der nachrevolutionären Republik zunehmend eine aristokratisch geprägte Oligarchie, bestimmt von einer neuen Elite, die in ihrem Macht- und Prachtgehabe dem alten Regime der Bourbonen kaum nachstand. Dem besiegten Napoleon, dem »Soldaten und Emporkömmling«, wie er sich selbst gegenüber Metternich nannte, war es verwehrt, in eine angestammte Herrschaftssicherheit zurückzukehren. Nicht nur die europäischen Staaten, die sich zu seinem Sturz verbündet hatten, hatten keinen Platz mehr für ihn, sondern auch das von ihm selbst geschaffene Machtsystem Frankreichs wies ihn schonungslos zurück. Napoleon hatte es sich selbst vorausgesagt: »Meine Herrschaft überlebt den Tag nicht, an dem ich aufhöre, stark und somit gefürchtet zu sein.«

Adam Zamoyski: Napoleon. Ein Leben (aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting). C.H.Beck, München 2018, 863 S., 29,95 €.

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