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70 Jahre Grundgesetz als Basis für eine pluralistische und vielfältige Gesellschaft »Die Würde des Menschen ist unantastbar«

30 Jahre nach der Weimarer Reichsverfassung wurde das Grundgesetz verabschiedet. Seitdem jähren sich stets zwei verfassungspolitische Großereignisse, die zu einer vergleichenden Betrachtung einladen.

In diesem Jahr – 100 Jahre nach der Verabschiedung der Weimarer und 70 nach der Verabschiedung der Bonner Verfassung – reden nicht wenige Verfassungsrechtler und Historiker einer »Rehabilitierung« der Weimarer Verfassung das Wort, weil sie besser als ihr Ruf gewesen sei. Den Teilnehmern des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rats, denen das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und ihrer Verfassung unmittelbar vor Augen standen, bemühten sich ausdrücklich darum, die (tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen) Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung auszubügeln. Eine bedeutende Festlegung des Grundgesetzes bestand darin, die Stellung des Staatsoberhauptes in ein machtarmes, repräsentatives Amt zu verwandeln, so wie es die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien in der ersten deutschen Demokratie bereits ebenfalls präferiert hatte. Da aber das Bundesverfassungsgericht im Gegenzug gleichsam als dritte Staatsgewalt aufgewertet wurde und das Notverordnungsrecht nicht mehr im Zusammenhang mit dem Amt des Präsidenten, sondern mit den Grundrechten verhandelt wurde, entstand daraus eine, wenn nicht die bedeutendste, institutionelle Innovation der neuen Verfassung. Da die Grundrechte nun zu verfassungsfesten Normen mit Drittwirkung ausgestaltet wurden, und sie mit dem Lüth-Urteil 1958 auch für die Bürger untereinander galten, konnte aus einer Verfassung und mithilfe eines mächtiger werdenden Verfassungsgerichts eine bundesrepublikanische Werteordnung begründet werden. Damit ist bereits angedeutet, dass die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes eine Geschichte vieler Beteiligter ist. Zwischen den Parteien bildete nicht länger die Revision der Ergebnisse eines Krieges den Grundkonsens der Staatsbildung, sondern eine freiheitlich-demokratische Grundordnung. An die Stelle des Weimarer Revisionismus und Nationalismus trat eine Politik der westeuropäischen Integration und internationalen Kooperation, die bis tief in das konservative Milieu hinein akzeptiert wurde.

Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik bestätigt gewissermaßen die Analysen der Zeitgeschichtsschreibung, die im Laufe der Zeit politische, kulturelle und sozialökonomische Faktoren stärker für den Untergang der ersten deutschen Demokratie hervorgehoben hatten als verfassungspolitische Mängel. Um hier nur einige zentrale Stichpunkte zu nennen: die leichtfertig herbeigeführte Inflationskrise, die Rolle des Militärs als Staat im Staate, der knappe, aber folgenschwere Ausgang der Reichspräsidentenwahl von 1925, die unüberbrückbaren interessenpolitischen Konflikte, die rigide Austeritätspolitik wie überhaupt die Verweigerung eines stabilen sozialen Friedens und die sukzessive Hinwendung der Funktionseliten zu autoritären Lösungen – all diese Faktoren wurden stärker als Ursachen für den Niedergang der Weimarer Demokratie angesehen als seine Verfassung.

Ein internationaler Blick stützt nicht nur diese historische Interpretation, er öffnet auch unsere Augen für die Gegenwart. Ian Kershaw hat in seinem großen Buch Achterbahn gezeigt, welche politischen Wirkungen »die schlimmste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren« in dem und auf das Europa unserer Zeit hatte und hat. Zwar konnte ein Kollaps – die Verwandlung der Rezession über eine Deflation in eine Depression – aufgrund der massiven US‑Intervention in den Finanzkapitalismus, der Sonderstellung Chinas und der keynesianischen Politik in Deutschland verhindert werden, doch kaum eine europäische Regierung überstand die Finanzkrise, die über eine massive Staatsverschuldung nahezu überall in eine tiefe Wirtschaftskrise mündete. Sämtliche Regierungen in Europa reagierten unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Couleur mit harten Sparprogrammen, aus denen Konjunkturprogramme für populistische Parteien wurden.

Die Verselbstständigung der globalen Finanzwirtschaft, die nicht mehr nur als ein abstrakter Verlust demokratischer Kontrolle über gesellschaftliche Entwicklungen empfunden wurde, weil sie sich nun innerhalb kürzester Zeit in einer brutalen sozialen Polarisierung niederschlug, bewirkte so in aller Regel mehr als bloße Regierungswechsel. Eine ganze Reihe etablierter Nachkriegsparteien wurden bis ins Mark getroffen, manche verschwanden komplett aus dem Parteiensystem und die politischen Konstellationen auf dem europäischen Kontinent begannen, sich grundlegend zu verschieben. Die anhaltende Migrationskrise und die Bedrohung durch terroristische Anschläge, aber auch das aggressive politische und militärische Auftreten Russlands in Kombination mit einem neuartigen wirtschaftlichen Weltmachtanspruch Chinas und einer unberechenbaren US-Administration stellten die Leistungsfähigkeit der Demokratien Europas auf den Prüfstand – ganz unabhängig von der jeweiligen konkreten Ausgestaltung ihrer Verfassungen.

Eben deswegen reicht es nicht, die Verfassung in Krisenzeiten zu beschwören! Die Frage, wie stabil das Grundgesetz sei, führt in die Irre. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dagegen die historische Erfahrung auf seiner Seite, wenn er mahnt: »Wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass wir das beste Grundgesetz aller Zeiten haben und schon deshalb durch eine Art Lebensversicherung gegen Krisen und Katastrophen aller Art geschützt sind« (Der Spiegel vom 4. Mai 2019).

Heute gibt es keine »Weimarer Verhältnisse« in Deutschland. Aber im Vergleich zum damaligen politischen System gibt es in einem Punkt eine strukturelle Annäherung. Ähnlich wie damals erfolgt die politische Willensbildung immer weniger durch parlamentarische Wahlen als durch das parlamentarische Ringen der Fraktionen, welches lagerübergreifende Koalitionen zur Folge haben kann. Anders gesagt: Wahlen markieren politische Ausgangsbedingungen für die Parteien, doch die Wählerinnen und Wähler wissen immer weniger, welche Regierung sie am Ende des Tages erhalten.

Damit geht eine wesentliche Errungenschaft der Bonner Republik verloren. Nach 1945 betrachteten die Parteien ihr primäres politisches Ziel allmählich in der Beschaffung von parlamentarischen Mehrheiten und gaben sich nicht länger einer lautstarken, aber segmentierten Interessenvertretungspolitik hin. Darüber verwandelten sie sich deshalb von Milieu-, Interessen- oder Weltanschauungsparteien in Volksparteien, und erst damit kam in Westdeutschland ein regelrechter Parteienwettbewerb in Gang, bei dem die erste Frage war, welche der beiden großen Parteien den Kanzler stellen und die Regierung führen werde. Diese Entwicklung zur »Kanzlerdemokratie« hatte mit dem Grundgesetz eher wenig, mit der Entscheidung Konrad Adenauers, auch mit knappster Mehrheit zu regieren und der Bereitschaft Kurt Schumachers, in die Opposition zu gehen, dagegen viel zu tun. Jetzt wurde die in Weimar übliche Fixierung auf eine Große Koalition aufgegeben und die elementare parlamentarische Kombination aus Regierungs- und Alternativfunktion im Deutschen Bundestag hervorgebracht.

Inzwischen ist der Kreislauf aus komplizierten Wahlergebnissen, unübersichtlichen Mehrheitsverhältnissen, Großen oder lagerübergreifenden Koalitionen wieder in Gang gebracht worden. Die Abwertung von Wahlen in der politischen Willensbildung ruft jedoch rasch die Gefahr einer »Abnutzung und Versäulung der die politische Willensbildung tragenden Institutionen« (Hans Mommsen) hervor.

In diesem Kontext gewinnen »neutrale« Instanzen wie der Bundespräsident oder das Bundesverfassungsgericht weiter an Glanz. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon hat noch vor Kurzem den glänzenden Aufstieg unparteilicher, unbestechlicher und unabhängiger Instanzen gegenüber den unter Legitimationsverlusten leidenden herkömmlichen demokratischen Institutionen beschrieben, und der australische Politikwissenschaftler John Keane sah in seiner monumentalen Darstellung The Life and Death of Democracy das Zeitalter der repräsentativen Demokratie längst abgelöst durch eine Monitory Democracy, die auf wachsamen und notfalls aktiv in den politischen Prozess intervenierenden Bürgern beruht.

All diesen gescheiten Diagnosen zum Trotz erleben wir eine Revitalisierung der klassischen politischen Instrumente und zwar von Rechts. Sämtliche rechtspopulistischen Kampagnen bezweifeln die Autorität »neutraler« Instanzen, bekämpfen oder ignorieren zivilgesellschaftliche Errungenschaften. Sie arbeiten mit Mitteln, die weite Teile der arrivierten Linken zugunsten vermeintlich höherer Formen der Demokratie leichtfertig aufgegeben haben, nämlich mit den klassischen Instrumenten der modernen Politik: Organisation, Aktion, Demonstration und Agitation, und eben: Parteiformierung, Wahlkämpfe und Bildung von Parlamentsfraktionen. Die Linke in Deutschland wäre gut beraten, sich auf ihre Ursprünge zu besinnen und sich daran zu erinnern, wie sie selbst groß geworden ist.

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