Menü

Die Wut der anderen

Nein, das Volk sind sie nicht, die da auf der Straße »Wir sind das Volk« brüllen. Dafür sind es zu viele, die nicht mitmarschieren, wenn Pegida demonstriert oder die AfD zur Kundgebung lädt. Aber wer sind sie dann? Und wer sind die anderen, die abends am Fernseher entrüstet verfolgen, was da auf der Straße vor sich geht, oder dann und wann an einer der zumeist erheblich größeren Gegendemonstrationen teilnehmen? Sind sie das »wahre Volk« und jene dort nichts als verachtenswerter »Pöbel«?

Wenn bei Aufmärschen in Dresden, Chemnitz und anderswo sogenannte »besorgte Bürger« zusammen mit Neonazis auf die Straße gehen, ist es einfach, sich auf der richtigen Seite zu wissen, der Seite der Vernunft, der Demokratie, der Weltoffenheit, der Achtung vor dem Fremden, des bürgerlichen Anstands. Allzu leicht. Eher beiläufig geht uns mittlerweile die Empörung über die Marschierenden über die Lippen, wenn wir bei einem Glas Wein oder einem guten Essen beisammen sitzen und uns wieder einmal alle einig sind: Mit denen haben wir Gott sei Dank nichts zu tun.

Aber gerade weil es so einfach ist, weil die Fronten so klar und eindeutig erscheinen, ist Misstrauen angebracht. Ist es womöglich Teil des Problems, dass wir mit »denen da« nichts zu tun haben? In unserem Nachbarland Frankreich, wo Marine Le Pens Rassemblement National (früher Front National) und neuerdings die Gelbwesten (gilets jaunes) weit mehr Menschen auf die Straße bringen als AfD und Pegida in Deutschland, wird über die Ursachen des Rechtsrucks in der Gesellschaft ernsthafter, kontroverser und ergebnisoffener diskutiert als bei uns. Das mag auch daran liegen, dass sich dort nicht wie in Deutschland eine doppelte Diktaturerfahrung als allfällige Interpretationsfolie für gesellschaftliche Konflikte dieser Art anbietet.

Als ich vor einigen Jahren in Didier Eribons soziologischer Erzählung Rückkehr nach Reims den Satz las, »dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politischer Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss«, wurde mir schlagartig klar, wie wenig wir, die wir uns für Pluralismus und Menschenrechte und für ein demokratisches Europa engagieren, eigentlich über die Menschen wissen, die sich überall in Europa vermehrt von Parteien und Bewegungen angezogen fühlen, die all diese von uns so geliebten Werte und Institutionen infrage stellen. Für Eribon sind dies vor allem Menschen, die sich ausgegrenzt und entwürdigt fühlen, »wenn sie sich als Quantité négligeable, als bloßes Element politischer Buchführung und damit als ein stummer Gegenstand politischer Verfügungen vorkommen«.

Auch bei dem 40 Jahre jüngeren Édouard Louis, der wie Eribon aus einer nordfranzösischen Arbeiterfamilie stammt und zuletzt ein berührendes Buch über seinen Vater geschrieben hat (Wer hat meinen Vater umgebracht), geht es vor allem um diesen Punkt: um die Verachtung der Eliten für die sogenannten »kleinen Leute«, um die Erniedrigung der ökonomisch und kulturell Überflüssigen und weniger Leistungsfähigen zu lästigen Kostgängern, um das Schikanieren von Leuten »die keine Arbeit finden, weil sie zu weit von der Stadt entfernt leben, weil sie zu früh, ohne Abschlüsse, aus dem Schulsystem herausgefallen sind, Leuten, die nicht mehr arbeiten können, weil die Fabrikarbeit ihnen das Kreuz gebrochen hat«.

Louis, der nach eigenem Bekunden mit der Gelbwestenbewegung sympathisiert, sieht in dem, was zumeist unscharf als Rechtspopulismus bezeichnet wird, vor allem eine Rebellion gegen den Klassenkampf von oben, der seit drei Jahrzehnten von den Eliten im Namen des Neoliberalismus gegen die da unten geführt wird. Mag sein, dass seine stark marxistisch geprägte Deutung des Phänomens allein nicht ausreicht, um zu verstehen, was heute in Europa vor sich geht. Aber als Anregung, sich die Menschen genauer anzusehen, für die die Parolen der neurechten Bewegungen anziehend wirken, ist sie sicher nützlich.

Ich erinnere mich an eine Diskussion in der Dresdener Frauenkirche zum Thema »Vom Umgang mit der Angst in einer verunsicherten Gesellschaft«, an der ich unmittelbar nach der Lektüre von Eribons Buch teilnahm. Hinterher kam ein Ehepaar zu mir, beide zwischen 60 und 70, beide, wie sie gleich zu Beginn unseres Gesprächs betonten, von Anfang an bei Pegida dabei. Er hatte zu DDR-Zeiten eine leitende Position in einem Unternehmen innegehabt, das – wie er nicht ohne Stolz anmerkte – Haushaltsgeräte für Karstadt und Horten herstellte, sie hatte in der Qualitätskontrolle im selben Betrieb gearbeitet. Ihre soziale Situation war keineswegs prekär. Sie hatten beide halbwegs ausreichende Renten, wohnten in einem der besseren Vororte von Dresden im eigenen Haus, ihre Tochter lebte als angehende Kinderärztin in Greifswald. Wenn man sie einer Klasse oder Schicht hätte zuordnen wollen, dann wohl jener, die früher einmal »Mittelklasse« hieß.

Aber ihre Wut auf die Gesellschaft, auf die Politiker, auf »die da oben« war nicht minder heftig als die der Menschen, über die Eribon und Louis schreiben. »Nach der Wende wurde unser Betrieb plattgemacht«, sagte er und sie ergänzte: »Und wir mit ihm.« Plattgemacht? Ich frage, was sie damit meinen. »Na, der Betrieb wurde geschlossen, alle Arbeiter wurden entlassen bis auf 30 Mann, die für die Demontage der Maschinen und den Abriss der Hallen gebraucht wurden. Die Maschinen wurden nach Rumänien verkauft, das Grundstück ging an einen Investor aus Hamburg, der es dann jahrelang brachliegen ließ. Wir wurden nicht gefragt. Für uns interessierte sich niemand.« Die ihnen zugefügte Kränkung lag damals schon gut 20 Jahre zurück, hatte aber offenbar nichts von ihrer ätzenden Schärfe eingebüßt.

Das Ehepaar in Dresden, das jeden Montag an den Pegida-Demonstrationen teilnimmt, hat, soziologisch betrachtet, wenig bis gar nichts mit den prekarisierten Arbeitern zu tun, die Marine Le Pen wählen, über die Eribon und Louis schreiben. Und doch haben sie eines mit ihnen gemeinsam: Sie alle fühlen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, von den Politikern zu Überflüssigen erklärt und in ihrer Würde verletzt. Und weil diese Ausgrenzung zumeist im Namen von Freiheit, Pluralismus, Demokratie und Weltoffenheit geschieht, neigen sie denen zu, die all diese Werte ablehnen. Offenbar wiegt diese gefühlte Gemeinsamkeit in den neuen rechtspopulistischen Bewegungen stärker als die traditionellen sozialen Differenzierungen nach Klassen und Schichten, was erklärt, dass sich in diesen Bewegungen heute Arbeiter, Angestellte und Beamte, Bauern, kleine und mittlere Selbstständige, Handwerker und Händler, Hausbesitzer und Mieter, Berufstätige und Rentner, kurz Berufsgruppen und Schichten zusammenfinden, deren unterschiedliche Interessenlagen eine gemeinsame politische Aktion nach herkömmlichen Mustern ausschließen.

Auf diesen Umstand weist der Soziologe Christophe Guilluy in seinem Buch No Society. La fin de la classe moyenne occidentale hin, das Anfang 2018 erschienen ist. Anders als Eribon und Louis sieht er eine neue konfliktreiche Spaltung der Gesellschaft, die sich vor allem seit den 90er Jahren und seitdem zunehmend als territoriale Spaltung geltend macht, die nicht mehr im herkömmlichen Klassen- und Schichtenschema verstanden werden kann, sondern eine Spaltung zwischen den Metropolregionen und der Peripherie darstellt. Nach Guilluy handelt es sich bei den Ausgegrenzten allenfalls um die Trümmer der alten vielgestaltigen Mittelschicht, die in den Peripherien der westlichen Gesellschaften unter dem Druck von Neoliberalisierung und Globalisierung als Rückgrat der Gesellschaft zu verschwinden droht oder bereits verschwunden ist. Was alle diese Menschen eint, ist das Gefühl, abgeschoben zu sein, nicht mehr zu zählen, und die Wut auf »die da oben«, die sie dafür verantwortlich machen.

Die neue Spaltung der Gesellschaft hat offenbar ihren Ursprung in der schon vor Jahrzehnten einsetzenden Deindustrialisierung und kulturellen Vernachlässigung ganzer Landstriche; sie beginnt in Großbritannien mit Margaret Thatcher, in den USA mit Bill Clinton, in Frankreich mit dem Verfall der Kohle- und Stahlindustrie in Lothringen und im Pas-de-Calais und in Deutschland in zwei Schüben mit dem Niedergang des Bergbaus und der Stahlproduktion in Nordrhein-Westfalen und im Saarland und später dann mit der Zerstörung der ostdeutschen Industrie im Zuge der Wiedervereinigung. Welche politischen Folgen es hat, wenn die unumgängliche Umstrukturierung den Marktkräften überlassen wird, wird deutlich, wenn man sich die regionale Verteilung der Wahlerfolge von Donald Trump, Marine Le Pen, der AfD und der Zustimmungsraten zum Brexit anschaut.

Was die Angelegenheit für die Sozialdemokratie so peinlich macht, ist, dass sich ihre Führung in den Nullerjahren vorübergehend von der rotzigen Überheblichkeit und der sozialen Gefühllosigkeit der globalisierten Metropoleneliten anstecken ließ. Seit einiger Zeit besinnt sie sich offenbar wieder auf ihre Rolle als Garant sozialstaatlicher und kultureller Kohäsion der Gesellschaft, die sie so lange mit großem Erfolg wahrgenommen hatte. Die Reformansätze beim Mindestlohn, bei Kitas und Kindergärten, bei der Pflege, den Renten und der Schaffung erschwinglichen Wohnraums mögen unter den Bedingungen einer Großen Koalition zwangsläufig unzureichend bleiben, aber sie sind doch ein deutliches Signal, dass die SPD inzwischen begriffen hat, dass es ihre Aufgabe ist, der demokratiegefährdenden Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Dass nun endlich ernsthaft versucht werden soll, die unselige Agenda-Politik der Schröderjahre mit ihrer Missachtung von Lebensleistungen und ihrer unnötigen und entwürdigenden bürokratischen Gängelung von Hilfsbedürftigen hinter sich zu lassen, ist sicher begrüßenswert.

Bleibt die Baustelle Europa. In diesem Jahr stehen Europawahlen an. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die neuen Nationalisten und Europagegner im Europaparlament erheblich an Gewicht gewinnen. Was haben wir ihnen entgegenzusetzen? Nur ein pauschales Bekenntnis zu Europa oder ein klares Votum für mehr Demokratie und Sozialstaatlichkeit in der Europäischen Union? Wollen wir weiter zusehen, wie wichtige Teile der EU-Kommission im Auftrag der exportstarken Nationalstaaten ein neoliberales Konzept der Globalisierung durchsetzen und damit zulassen, dass in Europa der soziale Zusammenhalt und die Demokratie weiter zerstört werden? Oder trauen wir uns zu, mit dem Gewicht des größten Marktes der Welt die Spielregeln des Finanzsektors und des globalen Warentausches im Sinne sozialer und ökologischer Vernunft zu ändern?

Christophe Guilluy spricht von der soft power, die sich in der Wut der Marginalisierten und Verachteten manifestiert. Aber »soft« bleibt diese nur, solange die, die sie politisch auszubeuten wissen, in Wahlen nicht die Mehrheit gewinnen. Wenn wir sie nicht endlich ernst nehmen, können sie zu einer Gewalt anwachsen, an der die Demokratie in Europa zerbricht.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben