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© Bild von Lars_Nissen auf Pixabay
 

Die zerstrittene Mediengesellschaft und die »Grenzen des Sagbaren«

Im Jahr 2019, als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 70 Jahre alt und entsprechend gefeiert wurde, löste eine Nachricht unter den Leitartiklern in den Leitmedien schiere Fassungslosigkeit aus: Das Grundgesetz gewährleistet in Artikel 5 Absatz 1 die Meinungsfreiheit – gleichwohl ist eine große Mehrheit der Ansicht, nicht das sagen zu dürfen, was man gern sagen möchte! Im Mai 2019 schrieb das Institut für Demoskopie Allensbach, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung der Ansicht seien, man müsse heute »sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert«. »71 Prozent sagen, dass man sich zur Flüchtlingsthematik nur mit Vorsicht äußern kann«, schrieb Renate Köcher, Allensbach-Geschäftsführerin in der FAZ vom 22. Mai 2019. Das Medienecho war enorm. Ein paar Monate später las man in der Wochenzeitung Die Zeit: »Die Zahlen wollen einem nicht aus dem Kopf. Laut einer Umfrage von Allensbach glauben 78 Prozent der Deutschen, man müsse in der Öffentlichkeit mit Kommentaren zu ›einigen oder vielen‹ Themen vorsichtig sein. (…) Und den Interviewern der Shell-Studie gegenüber stimmten 68 Prozent der befragten Jugendlichen der Aussage zu: ›In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden‹.« (Die Zeit 45/2019). Die Meinungsfreiheit muss heute also offenbar nicht gegenüber dem Staat als Abwehrrecht gesichert werden; sie scheint vielmehr durch die Gesellschaft selbst bedroht.

Den Demoskopen zufolge sieht sich die Mehrheit der Bevölkerung im öffentlichen Raum einer rigiden sozialen Kontrolle ausgesetzt; jeder zweite Bürger sei überzeugt, man werde genau beobachtet, »wie man sich in der Öffentlichkeit verhält und was man sagt«. Dabei gehe es vor allem um Auffassungen, die aus Sicht der Befragten mit einem Tabu belegt sind. Zwei von fünf Befragten fanden, die Political Correctness werde übertrieben; drei von fünf seien »genervt« von den sozialen Vorschriften und Normen. Dass beispielsweise in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf aus dem »Negerkönig« ein »Südseekönig« wurde, löse bei der weit überwiegenden Mehrheit »nur Kopfschütteln aus«.; sinngleich lautet der oben zitierte Befund der Shell-Studie. Demzufolge werden solche Einstellungen als quasi verboten erlebt, die gegen das weltoffene, universalistische Denken opponieren und sich eher auf den deutschen Staat als Referenz- und die Heimat als Werterahmen beziehen.

Offenbar sieht ein großer Teil der Bevölkerung bei migrationspolitischen Fragen eine breite Kluft zwischen den öffentlich propagierten Werten und der persönlichen Ansicht der Bürger. Bemerkenswert daran ist die Angst vor Repressalien, wenn vom Mainstream abweichende, als »rechts« etikettierte Ansichten öffentlich geäußert werden.

Die Folgen von Hass im Netz

Doch dieselbe Angst äußern auch zahllose Menschen, die sich auf Online-Plattformen gegen Fremdenfeindlichkeit geäußert haben. Verschiedene NGOs berichten immer wieder über Schimpf- und Hasskampagnen gegen User, die sich in Kommentaren für Ausländer einsetzten. Die von uns befragten Administratoren der reichweitenstarken Newsmedien (spiegel.de, focus.de, welt.de) schätzen, dass auf ihren Seiten pro Tag mehr als 10.000 Kommentare eingehen, von denen rund ein Drittel mit diffamierenden Hasstiraden »kontaminiert« sind (und von hauseigenen Bots zu großen Teilen aussortiert werden). Kuratoren und Redakteure berichten über psychische Schäden, die hassdurchsetzte Shitstorms bei vielen Betroffenen bewirken und dazu führen, dass diese sich zurückziehen. Unter dem Titel »Hass im Netz: Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie« schreibt das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), dass 73 % der Befragten im Alter von 18 bis 24 Jahren schon auf Hasskommentare gestoßen seien; etwa jeder zehnte männliche Bürger sei auch persönlich Objekt von Hasskommentaren gewesen; unter jungen Erwachsenen sogar 17 % (was auch mit ihrer intensiveren Netznutzung zusammenhängt). Jeder zweite der von Hate Speech Betroffenen dieser Altersgruppe nennt Depression als Folge. Zwei Drittel der befragten User fanden folgende Aussage zutreffend: »Hass im Netz schränkt die Meinungsfreiheit ein, weil Nutzer*innen sich seltener zu ihrer politischen Meinung bekennen«. Etwa jeder zweite User gibt an, dass er sich – als Reaktion auf Hassreden im Internet – seltener zu seiner politischen Meinung bekenne und sich seltener an Diskussionen im Netz beteilige. Rund 60 % stimmten dieser Aussage zu: »Durch den öffentlichen Hass im Netz hat sich [auch das] verändert, was man auch außerhalb des Internets sagen kann und was nicht.«

Diese wie auch weitere Befunde aus sozialempirischen Erhebungen der vergangenen Jahre zeigen, dass in Deutschland das Meinungsklima seine Durchlässigkeit verloren hat und der öffentliche Diskurs in »Meinungsinseln« zerfällt. Die mit dem Leitbild »Zivilgesellschaft« eng verbundene Idee der informationsoffenen, meinungstoleranten und diskursiv funktionierenden Öffentlichkeit wird von zwei diametralen Seiten attackiert und geschwächt: von Mainstreammedien (insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk) im Verbund mit moralisierend auftretenden Universalisten einerseits und von konservativ bis nationalistisch denkenden Milieus im Verbund mit ultrarechten Gruppen andererseits. Die eine Seite grenzt das Feld des Sagbaren ein durch rigide Sprachregelungen, mit denen Aussagen als diskriminierend tabuisiert oder als politisch inkorrekt stigmatisiert werden. Die andere Seite attackiert das weltoffene Denken, vor allem ausländer- und integrationsfreundliche Statements mit Wut- und Hasstiraden und erzeugt mit orchestrierten Shitstorms ein Klima der Angst.

Drei Dimensionen – drei Tendenzen

Wie erklärt sich diese Zerrüttung des Meinungsklimas? Wenn wir den Daten der Demoskopen folgen, war vor drei Jahrzehnten in der Ära der deutschen Wiedervereinigung der öffentliche Diskurs noch vergleichsweise offen, das Stimmungsbild stark von Toleranz geprägt. Aus meiner Sicht sind es drei Trends, die sich wechselseitig verstärkt und zur Eintrübung des Meinungsklimas geführt haben.

Erstens: In gesamtgesellschaftlicher Hinsicht durchdrang der expansive »autoritäre Kapitalismus« (Wilhelm Heitmeyer) mehr und mehr die politischen, sozialen und kulturellen Bereiche. Es habe eine »unaufhaltsame kapitalistische Landnahme« stattgefunden; sie erfasse nicht nur Produktionsweisen, sondern auch »soziale Gruppen, Lebensformen und selbst die Persönlichkeitsstrukturen« (Klaus Dörre). Große Teile der Erwerbsgesellschaft, die früher an die Gestaltungsmacht politischer Parteiprogramme glaubten, erleben sich als Verfügungsmasse des Finanzkapitals, als Zukurzgekommene, die ihre ganze Energie aufwenden, um bei steigenden Lebenshaltungskosten ihren Status zu halten und der Prekarisierung zu entkommen. Kollektive Teilnahme- und Solidaritätsmuster wurden von Verwertungs- und Konkurrenzmaximen verdrängt. An die Stelle der politischen Leitideen traten Gefolgschaftsgebote autoritär hierarchisierter Gruppen; doch wer ihnen folgt, sieht sich »kulturell ausgebürgert«, wie es Wolfgang Streeck formulierte, und von den »Macht- und Diskurseliten« zum entpolitisierten Konsumenten abgestempelt. Die damit einhergehende Ohnmacht ist der Nährboden für Radikalisierungen, die sich als diffuser Hass auf die »Eliten« artikulieren und die Grenzen des dort Sagbaren vorsätzlich verletzen. Auf der symbolischen Sprechebene wird die Landnahme des Kapitalismus mit Grenzverschiebungen des Sagbaren beantwortet. Zur Grenzsicherung und Befestigung des Walls mussten 2017 neue gesetzliche Regelungen mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) geschaffen werden, die zu hässlichen Scharmützeln entlang der Sprachgrenzen führten, wie der Fall Renate Künast mit ihrem Gang durch die Instanzen aufs Schaurigste illustriert.

Zweitens: In einer Art Gegenbewegung adaptierte die liberal denkende Mittelschicht das Leitbild der Emanzipation und formte einen individualistisch überhöhten Anspruch (Empowerment) auf Selbstbestimmung. Der feministische Impetus verwandelte sich im Auftritt so mancher Gruppen in eine selbstgerecht argumentierende Position, die ihren persönlichen Anspruch auf Unversehrtheit zu einer gesellschaftlichen Maxime dehnte und Kritik gleich als Angriff auf ihre Identität abwehrt. Insbesondere in der Welt der Hochschulen radikalisierte sich der öffentliche Streitdiskurs, indem Andersdenkende ausgeschlossen oder niedergebrüllt und Kritiker als »Rassist« oder »Faschist« etikettiert wurden. Aus Sicht der Soziologin Sandra Kostner handelt es sich um »Identitätslinke«; ihre Argumentationsstrategien sind darauf aus, in der Öffentlichkeit den konservativ Denkenden einen »Schuldstatus« zuzuschreiben. Dies gelinge, weil die Identitätslinken – statt sich mit dem kapitalistischen Verwertungsprozess zu befassen – als Anwälte von Opfergruppen aufträten, namentlich als Sprecher fremder Ethnien, Migranten und Juden. »Heutzutage bedarf es für den Vorwurf eines diskriminierenden Sprachgebrauchs nicht mehr Begriffe, die geprägt wurden, um Menschen abzuwerten. Für einen Rassismusvorwurf reicht schon die Verwendung von Begriffen wie ›abgehängter Stadtteil‹ oder ›Problemviertel‹ für sozial schwache Gebiete aus, wenn diese überwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnt werden. (…) Relevant für die Einstufung des Sprachgebrauchs als rassistisch ist einzig und allein die emotionale Betroffenheit, die geltend gemacht wird.« Es ist leicht nachzuvollziehen, dass dieser Kommunikationsstil den Abbruch des medialen Diskurses begünstigt. »Die Unerbittlichkeit, mit der Identitätslinke gerade in den zurückliegenden Jahren agieren, um Themen zu verschließen und Sprechakte als unerträgliche Zumutungen zu klassifizieren« (Kostner), hätten viele Bürger auf den Weg zu rechtsnationalen Gruppen und Parteien gebracht.

Drittens: In den analogen Zeiten existierten die Alltagswelten der verschiedenen Schichten und Milieus voneinander abgegrenzt, der Stammtisch und der Verein waren die Echokammern. Mit dem interaktiven Web 2.0 schien das übergreifende Gespräch und mit den darauf aufbauenden partizipativen Plattformmedien die mit sich selbst im ständigen Diskurs befindliche Zivilgesellschaft Realität zu werden. Indessen blieb das Bild vom respektvoll interagierenden, am Gemeinwohl interessierten Vernunftsubjekt ein Traum der Idealisten. In der real existierenden Onlinewelt gestattet der barrierefreie Zugang zu den virtuellen Öffentlichkeiten, dass sich jeder Teilnehmer nach Gusto und Gemütszustand äußern darf. Das Geschäftsmodell der US-amerikanischen Plattformbetreiber ist bekanntlich nicht am Gemeinwohl, sondern an der Steigerung des Traffic interessiert. Eingriffe gelten als Störung der werberelevanten Interaktionen und werden unter Verweis auf das hohe Gut der Meinungsfreiheit so weit möglich abgewehrt. Immerhin, die seit 2017 wirksamen Rechtsbestimmungen (Netz DG) haben den Jahresberichten des Bundesinnenministeriums zufolge zu einem Rückgang der strafrechtlich zu verfolgenden Inhaltsdelikte geführt – was wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass die Bots der Betreiber den weit überwiegenden Teil rechtsverletzender Aussagen aus dem Kommentar-Input herausfiltern. Das Bundesministerium des Innern dokumentiert in seinen Jahresberichten unter »Hasskriminalität« vornehmlich »fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten«. Unter diesem Sammelbegriff werden seit dem 1. Januar 2017 »Hasspostings« erfasst. Laut der im Jahresbericht gezeigten Statistik wurden 2017 2.270, im Folgejahr 2018 nur mehr 1.472 Straftaten registriert. Davon wurden 1.130 (77 %) Delikte rechten und rechtsradikalen Gruppen zugeordnet, 126 (9 %) linksextremen Gruppen, 94 (6 %) der Taten »ausländischer oder religiöser Ideologie« angelastet; die restlichen 122 (9 %) Hasstaten wurden unter »Sonstiges« verbucht.

Das Ineinandergreifen der drei Dimensionen bewirkte, dass sich die Grenzen zwischen dem öffentlich Sagbaren und dem öffentlich Unsagbaren immer wieder verschieben; über den Grenzverlauf gibt es keine starren, vielmehr unterschiedliche, zwischen Teilöffentlichkeiten, Milieu und Gruppe unvereinbare Vorstellungen. Die einzige für alle Milieus verbindliche, derweil in der Rechtsprechung unscharf gehaltene Grenze liefern die Eckpunkte des Persönlichkeitsschutzes und das strafrechtliche Verbot jeglicher Volksverhetzung.

Man muss nicht dem konstruktivistischen Alles-ist-möglich anhängen, um Michel Foucaults Überlegung zum Thema Wissen und Wahrheit zuzustimmen: »Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ›allgemeine Politik‹ der Wahrheit: das heißt sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.« Nur: Wir müssen heute, 40 Jahre später, diesen Gedanken vom Gesellschaftsganzen herunterbrechen auf die niedere Höhe der Gruppen und Milieus, die in ihren Kommunikationsarenen je eigene Sagbarkeitsgrenzen aushandeln. Denn die Idee eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses über das, was die Wahrheit des Diskurses sei, gehört tatsächlich zur geistreichen Welt der Idealisten.

Kommentare (3)

  • Erschütterter Stammleser
    Erschütterter Stammleser
    am 05.06.2020
    Wow, ich hätte nicht gedacht, dass ich in der NG/FH einmal rechte Hass-Kommentatoren gleichgesetzt
    sehe mit "Mainstreammedien" und "Universalisten". Das Gejammer vom "Man darf ja gar nicht mehr sagen..." kommt auch seit Jahren aus der gleichen Ecke - dabei hat sich die Grenze des Sagbaren, anders als hier im Text nahegelegt, in den letzten Jahren vor allem in eine Richtung verschoben: nach rechts. Nicht anders ist zu erklären, wie Äußerungen von AfD-Politikern (Schießen an der Grenze, Umvolkung usw.) nicht nur hingenommen und medial verbreitet, sondern die "Ängste" der zugehörigen Anhänger auch immer wieder "ernst genommen" werden.
    Klar, Schuld ist am Ende der Kapitalismus, wer sonst.
    Abseits dessen: ich habe selten so viel Statisitik-Gläubigkeit gesehen in einem einzigen Artikel.
  • Limette
    Limette
    am 11.06.2020
    Es tut mir leid, aber "die Grenzen des Sagbaren" haben schon lange vor der Afd andere getestet ( Schießen/ Mindestlohn= Nahles...Jagen/Galgen etc alles schon dagewesen) nur jetzt halt ganz böse rechts.
    Beide Seiten ( wenn man das so einteilen will) sind von einer Unerbittlichkeit, die erschreckend ist. Konservativ erscheint jetzt schon fast wie rechts und ist sozial verbrannt. Oder zumindest Anlaß zur Rechtfertigung.
    Daß die Medien das Ganze noch hypen, ist sehr bedauerlich. Jedes Stöckchen, was die Afd zb auslegt wird geschnappt und durch die Medienlandschaft gezerrt...
  • erfreute erstleserin
    erfreute erstleserin
    am 19.06.2020
    danke für die geleistete arbeit, die in diesem artikel steckt - die veröffentlichung und wissenschaftliche beschäftigung mit dem thema "kommunikation" kommt eh viel zu wenig in der gesellschaft vor (ähnlich wie psychologie und die freiheit der kunst)

    die gravierenden folgen werden hier zum teil ausgeführt bzw.sind für jeden spürbar

    ps.die mediale tagespolitik mit ihren übergriffigen kampagnen, lasse ich kurz zitternd an mir vorüberziehen ...und tauche in die welt meiner werte ein ... sie ist besonders wertvoll geworden, durch den zunehmenden mangel ...und ich stell mir vor "es ist hass, hetze, hunger, krieg ...und keiner macht da mit ..."

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