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Die Zivilisationen in der Neuen Weltordnung

Seit dem Ende der Ära des Kalten Kriegs mit ihrem »Kampf der Ideologien« ist die Welt politisch und kulturell zunehmend unübersichtlich und auf neue Weise unsicher geworden. Missverständnisse, Orientierungsmangel und das aus beiden erwachsende Misstrauen nähren Vorurteile, Angst und oft Aggressionen. Die Bedingungen für globale Zusammenarbeit korrodieren, die doch infolge alter und neuer Herausforderungen immer dringlicher wird, wie die Weltklimakrise und zuletzt die Corona- Pandemie unwiderleglich vor Augen führen. Zuvor schien das globale Muster klar strukturiert. Identität und Differenz, Zugehörigkeit und Opposition (sowohl kulturell als auch politisch) schienen eindeutig: der »freie Westen« hier und das autoritäre kommunistische Lager dort. Auch die meisten »blockfreien« Länder waren mehr oder weniger dem einen oder anderen ideologischen Lager zuzuordnen, verbunden in einem US-dominierten System internationaler Institutionen, das ein Mindestmaß an verlässlichen Regeln und globaler Kooperation verbürgte. In der Tiefe schien die ganze Welt von einem allumfassenden Modernisierungsprozess beherrscht, der auf die zunehmende Konvergenz der verschiedenen politisch-ökonomischen Systeme nach amerikanisch-europäischem Muster hinarbeitete, entweder mit der Logik des technologisch-wirtschaftlichen Fortschritts oder aufgrund der politisch-kulturellen »Überlegenheit des Westens«.

Der Untergang des Sowjetkommunismus in den demokratischen Revolutionen Osteuropas ab 1989 hat drei konkurrierende Deutungen der neuen Weltsituation hervorgebracht: Mitte der 90er Jahre die These von Samuel Huntington, dass sich die Welt auf ein neues Zeitalter unlösbarer kulturell-politischer Konflikte zwischen den wiedererwachenden Weltzivilisationen einstellen müsse. Die tiefen Verwerfungslinien zwischen ihnen machten Verständigung, gegenseitige Anerkennung und Vertrauensbildung unmöglich. Der Welt drohe nun eine Ära der unerbittlichen kulturell-religiösen Konflikte (clash of civilizations). Im Gegensatz dazu tröstete Francis Fukuyama die westliche Welt mit der frohen Botschaft, der Untergang des Sowjetsystems bedeute das »Ende der Geschichte«, denn nun stehe nach Jahrhunderten des Suchens und Kämpfens fest, dass die Geschichte nichts Besseres in petto habe als das politische »System des Westens« mit seinen freien Wahlen, liberalen Grundrechten und freien Märkten. Künftig könne es nur noch darum gehen, diese Errungenschaften über den Rest der Welt zu verbreiten.

Nun erlebt die Welt seither aber stattdessen eine andauernde Glaubwürdigkeitskrise des Westens und einen zunehmenden Willen zur Selbstbehauptung außerwestlicher Zivilisationen. Mithin gewinnt als dritte Deutung eine These des israelischen Soziologen Shmuel N. Eisenstadt Aufmerksamkeit und Gewicht, die in Ansätzen schon seit dem Ende der Kolonialzeit in Ländern wie Indien, Ägypten und China die Intellektuellen der Befreiungsbewegungen beflügelte. Eisenstadt weist darauf hin, dass die Modernisierung zwar tatsächlich die ganze Welt erfasst, aber nicht überall auf die gleiche Weise. Vielmehr zeigt sie viele Gesichter je nach der kulturellen Prägung der einzelnen Gesellschaften. Die Logik der Modernisierung, wie sie im Westen verstanden wird, erweist sich nämlich als offen für eine breite Vielfalt konkurrierender Interpretationen, Wege und Verkörperungen, die in bestimmten Grenzen alle Legitimität beanspruchen können. Sie bleiben freilich durch den gemeinsamen Rahmen universeller Normen verbunden, auch wenn diese im Konkreten umstritten sein können, weil sie auf der Basis der ihrem zivilisatorischen Herkommen entsprechenden besonderen Ethiken, Werten und Praktiken materialisiert werden. Die Modernisierung vollzieht sich nirgends im luftleeren Raum, sondern immer nur in der historisch gegebenen sozial-kulturellen Realität, zu der vorab die in jeder Gesellschaft gelebte »Sittlichkeit« (Ethik) im Sinne Hegels gehört. Der generative Impuls der Kultur der Moderne macht sich aber in ihnen allen geltend: »die gleiche Würde aller Menschen« mitsamt all dessen, was politisch, kulturell und wirtschaftlich zu ihr gehört, vor allem gutes, inklusives Regieren. Die totale Negation dieser modernen kulturellen Werte durch religiös-politische Fundamentalisten hat sich bisher als hartnäckiger Gegenimpuls in den Prozessen der Modernisierung überall auf der Welt, als dessen innere Kehrseite erwiesen.

Anschaulich werden die verschiedenen Wege der Moderne etwa in ihren unterschiedlichen Spielarten des Kapitalismus. Unter dem jeweils andersartigen kulturellen Einfluss hat die kapitalistische Logik eine breite Palette von Kombinationen von Märkten, Regulierungen, staatlichen Eingriffen, sozialen Akteuren und Einschränkungen der Rechte des Privateigentums hervorgebracht. Neben der liberalen Marktwirtschaft US-amerikanischen Typs existiert die soziale, koordinierte Marktwirtschaft in Europa und die von gesellschaftlichen Netzwerken und dem Staat regulierte chinesische Markwirtschaft. Sie alle zeigen seit Jahrzehnten wenig Neigung, sich auf ein einziges Standardmodell hinzubewegen.

Eisenstadts Modell der multiplen Moderne setzt nicht wie Huntingtons Sichtweise einen strikten Kulturrelativismus voraus. Stattdessen geht es von einem gemeinsamen Kern aller durch die Unterschiede der Zivilisationen bedingten Varianten der Modernisierung aus: den »reflexiven Subjektivismus«. Weil es nun »objektiv« vorgegebene, rein traditionell geltende Verhältnisse nicht mehr geben kann, entsteht Legitimität nur noch durch die »autonome Beteiligung der Mitglieder der Gesellschaft an der Konstitution der sozialen und politischen Ordnung bzw. den autonomen Zugang aller Mitglieder der Gesellschaft zu diesen Ordnungen und zu ihrem Zentrum« (Eisenstadt). Das ist die normative Macht im Herzen aller Modernisierungsprozesse, während ihre institutionelle Ausformung überall nur auf dem Boden der sittlichen Werte, Praktiken und Erwartungen der unterschiedlichen Zivilisationen erfolgen kann. Im »Westen« etwa konkurrieren zwei sehr unterschiedliche Modelle der Verwirklichung der modernen Grundrechte miteinander: einerseits die libertäre Demokratie mit ihren selbstregulierten Märkten und einer Demokratie ohne soziale und wirtschaftliche Grundrechte und andererseits das europäische Modell mit seiner koordinierten und sozialen Marktwirtschaft auf der Basis liberaler und sozialer Grundrechte. Der Westen ist also in sich schon plural und kann zwar dem Rest der Welt seine eigenen Regierungsmodelle im Dialog nahebringen, aber sie nicht zur Verpflichtung für alle machen wollen.

Bisherige Forschungen haben gezeigt, dass ein fruchtbarer Dialog zwischen den Zivilisationen auf der Grundlage dieses Konzepts möglich ist, aus dem verbindende Ziele und gemeinsame politische Projekte hervorgehen. Dabei muss die Europäische Union eine Schlüsselrolle spielen. Sie ist der einzige globale Akteur, der über die kulturellen und politischen Ressourcen verfügt, um den im Kern auf technologisch-geostrategischen Rivalitäten basierenden Konflikt zwischen den USA und China, der zunehmend durch zivilisatorische Missverständnisse vernebelt und verschärft wirft, politisch konstruktiv zu handhaben. Ein solcher Dialog zeigt auch, dass es möglich und sinnvoll ist, für das angemessene Verständnis der kulturell »Anderen« und eine darauf gegründete multilaterale Kooperation die Unterschiede zwischen den »gemeinsamen universellen Normen« und den im Weltverständnis der unterschiedlichen Zivilisationen wurzelnden »besonderen« sozialen und politischen Werten herauszuarbeiten. Das jüngste Beispiel dafür ist der gut dokumentierte Dialog der Zivilisationen des Instituts für Europäische Studien in Macau.*

Es war kein Zufall, dass Willy Brandt seine gesamte bahnbrechende und am Ende sehr erfolgreiche Friedenspolitik mit den Ländern Osteuropas auf Basis der Erkenntnis entwickelt hatte, dass es in der Welt trotz der unüberbrückbaren ideologischen Gegensätze auch »überwölbende gemeinsame Interessen« gibt, die vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich und notwendig machen. Er nannte vor allem die Erhaltung des Friedens, die Bewahrung der natürlichen Umwelt als Voraussetzung aller menschlichen Zivilisation und die Entwicklung der Länder des Südens, ohne die ausgeglichene und stabile Verhältnisse in den globalen Beziehungen nicht möglich sind. Wenn die verlässliche Zusammenarbeit der großen Konfliktmächte bei der gemeinsamen Bewältigung der Herausforderungen gelingt, dann können sie im Inneren jeweils eigene Wege des guten Regierens suchen, über die sie alle vor den Foren der Weltöffentlichkeit unter fairen und gleichen Bedingungen Rechenschaft ablegen. Die gleiche Würde aller Menschen und ihre Beteiligung an den politischen Entscheidungen, die alle betreffen, ist eine Voraussetzung dafür. Die endgültige Überwindung der Überlegenheitsarroganz des »Westens« gegenüber dem Rest der Welt in Wort und Tat verbunden mit dem Respekt vor der Würde und dem Eigenrecht der anderen Weltzivilisationen, sowie ein wenig Bescheidenheit angesichts der eigenen Defizite und Krisen, wäre ein willkommener Katalysator für gutes multilaterales Regieren im Zeitalter der Vielfalt der Zivilisationen. Es geht dabei um eine »inklusive« Zivilisationspolitik.

Zu warnen ist dabei allerdings vor dem Missbrauch des Zivilisationsarguments für die machtpolitischen Zwecke einer »exklusiven« Zivilisationspolitik einzelner Machteliten. Für die EU schließt das die Erkenntnis ein, dass ein weißer, christlicher Kontinent, wie er zeitweise von der Europäischen Volkspartei und derzeit von der polnischen und ungarischen Regierung unterstützt wird, das Gegenteil einer fortschrittlichen Strategie für die europäische Unterstützung multilateraler Zusammenarbeit in der Welt bedeutet. Während der neue Multilateralismus nur pluralistisch sein kann, bevorzugen die Nationalisten eine ausschließende »zivilisatorische« Sichtweise der internationalen Beziehungen, die sich weniger auf universalistische Themen wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte konzentriert, sondern auf eine modernisierungsfeindliche »Rassen«- und Identitätspolitik mit einem privilegierten Status für ein weißes, christliches Europa. Progressive Kräfte im Westen und insbesondere in Europa müssen sich der paneuropäischen, antimuslimischen, antichinesischen, »okzidentalistischen« fundamentalistischen Rhetorik und Politik entgegenstellen, die Nationalisten in Europa und den USA bei der Verfolgung ihrer verfeindenden Sicht der internationalen Beziehungen mobilisieren.

Alle großen Herausforderungen unserer Zeit bedürfen einer Stärkung der globalen Gemeinschaftsgüter (»Commons«): Aufbau einer institutionalisierten Friedens- und Konfliktprävention, Kampf gegen den Klimawandel, finanzielle Stabilität und nachhaltige Entwicklung, Beseitigung extremer Armut, Regulierung des Handels, Kampf gegen Infektionskrankheiten, Terrorismus und Kriminalität. Es gibt noch einen zweiten Grund: Europa braucht den Multilateralismus wie der Fisch das Wasser: Als tiefgreifende und anspruchsvolle Form der multilateralen Zusammenarbeit auf regionaler Ebene ist die EU zutiefst an drei strukturellen Dimensionen des globalen Regierens (»Global Governance«) interessiert, die man als die Dimensionen eines posthegemonialen und »vielschichtigen Multilateralismus« definieren könnte: Konsolidierung bzw. demokratische und freiwillige regionale Zusammenarbeit zwischen Nachbarländern auf allen Kontinenten; Vermehrung der mehrdimensionalen interregionalen Verbindungen zwischen den Regionen, konstruktives Zusammenspiel zwischen Regionalismus, Interregionalismus und multilateralen Organisationen auf globaler Ebene: UN, WTO, WHO usw., wodurch sowohl ihre Effizienz als auch ihre Legitimität gesteigert werden.

Der globalen Kulturdiplomatie kommt bei der Erarbeitung der Grundlagen eines neuen Multilateralismus eine große Bedeutung zu. Sie bleibt eine der wichtigsten Quellen der internationalen Soft Power der EU. Sie ist der einzige globale Akteur, der über die kulturellen Ressourcen verfügt, einen neuen politisch-kulturellen Dialog der Zivilisationen anzustoßen, um Respekt und Verständnis in ihrem gegenseitigen Verhältnis an die Stelle der Missverständnisse und Konflikte treten zu lassen, die gegenwärtig bedrohlich anwachsen. Wir können unsere Werte und unsere Lebensweise in andere Kontinente nicht schlicht »exportieren«, sondern nur in offenen und glaubwürdig-selbstkritischen Dialogen und durch gutes Beispiel für Demokratie und Grundrechte werben und auf diesem Weg zur Zivilisierung der internationalen Beziehungen beitragen. Das war und bleibt der beispielgebende Erfolgsweg Willy Brandts.

* Vergleiche dazu die Ergebnisse des mehrjährigen »Macau-Dialogs der Zivilisationen« zwischen führenden Wissenschaftlern aus allen Kontinenten: Thomas Meyer/José Luís de Sales Marques/Mario Telò (Hg.): 1) Multiple Modernities and Good Governance (2018); 2) Cultures, Populism and Nationalism. New Challenges to Multilateralism (2019); 3) Regionalism and Multilateralism. Politics, Economics, Culture (2020); 4) Towards a New Multiltateralism. Cultural Divergence and Political Convergence? (2021). Alle: London/New York, Routlege.

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