Ausweislich ihrer Grundsatzprogramme ist die SPD schon lange eine demokratische Partei, die sich nicht nur für die sozialen, sondern auch für die ökologischen Probleme zuständig erklärt. Aber in der politischen Praxis gelingt es ihr noch viel zu selten, die beiden Problembereiche so miteinander zu verknüpfen, dass daraus eine überzeugende Fortschrittspolitik entsteht. Dies liegt zum Teil, aber keineswegs ausschließlich, an den Anpassungszwängen der Großen Koalition. Auch dort, wo Sozialdemokraten und Gewerkschafter ganz in eigener Verantwortung reden und handeln, wirken ihre Stellungnahmen zu den großen ökologischen Konflikten und Aufgaben, z. B. zur Energie- und Verkehrspolitik, oft halbherzig. Zuweilen gelten sie gar als Bremser des längst von einer Mehrheit der Bevölkerung als unabweisbar angesehenen ökologischen Umbaus. Und Grüne, die das schnelle Aus für die Kohleverstromung und die Sperrung der großen Städte für den Autoverkehr fordern, profitieren davon, weil sie in den Augen der Wähler mutiger und konsequenter sind.
Dabei ist es eigentlich nicht schwer zu begreifen, dass ökologische Probleme so gut wie immer auch soziale Probleme sind. Während Reiche und Superreiche, die in Villenvierteln und gated communities wohnen und über das Wochenende in die letzten verbliebenen Inseln unberührter Natur jetten, sich noch für einige Zeit von der fortschreitenden Zerstörung der Biosphäre freikaufen können, haben Normalverdienende diese Möglichkeit in aller Regel nicht. Sie sind darauf angewiesen, dass in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung das Wasser trinkbar und die Luft atembar bleibt, dass sich die Lärmbelästigung in Grenzen hält, Parks und Naherholungsgebiete, öffentliche Kommunikationsräume und ein funktionierendes öffentliches Verkehrssystem ebenso verlässlich zur Verfügung stehen wie all die anderen Einrichtungen der sozialen und kulturellen Daseinsvorsorge.
Auch wenn gelegentlich der Eindruck besteht oder mutwillig erweckt wird, als handele es sich bei den ökologischen Fragen um ein Steckenpferd verwöhnter Mittelschichten, so sind es doch vor allem die Geringverdienenden, die vom ökosozialen Umbau am meisten profitieren würden, weil ihre Lebensqualität und die ihrer Kinder ganz wesentlich von der Verfügbarkeit öffentlicher Güter abhängt. Voraussetzung ist, dass die sozialen Kosten, die jede Veränderung mit sich bringt, früh erkannt, angemessen bedacht und gerecht verteilt werden.
Deswegen kann sozialdemokratische Politik nicht einfach heißen: raus aus der Kohle, Autos raus aus unseren Städten. Sozialdemokraten müssen zugleich dafür sorgen, dass die im Tagebau und in der Kohleverstromung, in der Automobilwirtschaft und in den Zulieferbetrieben arbeitenden Menschen im Zuge der Umstrukturierung nicht ins Bodenlose fallen. Sie können nicht die Augen davor verschließen, dass in den ländlichen Gebieten eine Alternative zum Auto durch Bus und Bahn nicht von heute auf morgen zu schaffen ist. Ähnliche Probleme stellen sich der Masse kleiner Landwirte, wenn es an den aus ökologischen Gründen unumgänglichen Umbau der Agrarwirtschaft geht. Dass die SPD und die Gewerkschaften die sozialen Konsequenzen des notwendigen ökologischen Umbaus immer mit bedenken und daher allzu simplen Antworten auf die ökologischen Probleme gegenüber skeptisch sind, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Allenfalls wären sie dafür zu kritisieren, dass sie nicht schon viel früher die notwendige Umstrukturierung in diesen Sektoren eingeleitet haben, um so einen sanfteren und sozial weniger verlustreichen Übergang zu ermöglichen.
Dass das alte wachstumsorientierte Fortschrittskonzept nicht mehr haltbar ist, lässt sich heute nicht mehr leugnen. Der Klimawandel ist so etwas wie die Flammenschrift an der Wand, die auch Sozialdemokraten aufschrecken sollte. Aber war das alte Fortschrittskonzept früher wirklich eine überzeugende und tragfähige Grundlage sozialdemokratischer Politik? Schon 1975 hat der amerikanische Ökonom Fred Hirsch in seinem Buch über Die sozialen Grenzen des Wachstums auf verteilungspolitisch negative Aspekte des herkömmlichen Fortschritts hingewiesen. Sein Hauptargument: Bei dem wachsenden Anteil von Positionsgütern (Güter, die einerseits nicht beliebig vermehrbar sind und die andererseits an Wert verlieren, je mehr Menschen sie konsumieren, die Red.) am Konsum wird die Mehrheit der Konsumenten bei dem Versuch, die Konsumpioniere einzuholen, immer öfter um die erhofften Gratifikationen betrogen, weil diese eben gerade davon abhängen, dass sie in gewisser Weise exklusiv sind.
Man kann sich dies an einigen eingängigen Beispielen verdeutlichen: Wenn sich schließlich auch Normalverdiener ein Häuschen im Grünen leisten können, wohnen sie nicht mehr wie die Villenbesitzer einerseits in der Nähe des städtischen Kulturzentrums und genießen zugleich den Blick auf die Rehwiese, sondern befinden sich in einer endlosen Agglomeration; wenn Arbeiter und Angestellte sich einen eigenen Wagen leisten können, wird das Fahrzeug immer öfter zum Stehzeug, weil in der morgendlichen und abendlichen Rushhour sowie zu Beginn und am Ende der Ferien die Straßen meistens verstopft sind. Der lakonische Kommentar von Fred Hirsch: »Wenn alle sich auf die Zehenspitzen stellen, sieht keiner besser.«
In der Tat, ein erheblicher Teil des modernen Konsums beruht auf einer Statuskonkurrenz, bei der die große Mehrheit der Menschen nichts zu gewinnen hat. Darum ist das gerade unter Sozialdemokraten oft gehörte Argument, das wirtschaftliche Wachstum müsse unter allen Umständen weitergehen, damit sich die »kleinen Leute« auch einmal etwas gönnen könnten, was heute nur den Reichen zugutekomme, auf fatale Weise falsch. Die große Mehrheit kann ihre Lebenssituation in der vermeintlichen Aufholjagd des Statuskonsums gar nicht verbessern; sie kann nur gewinnen, wenn sie in gemeinsamer – politischer! – Anstrengung ihre Lebens- und Arbeitswelt nach ihren eigenen Bedürfnissen gestaltet.
Der Soziologe Daniel Bell und andere haben in den 70er Jahren die Hoffnung verbreitet, die sich entwickelnde neue Dienstleistungsgesellschaft werde eine umfassende Dematerialisierung von Produktion und Konsum bewirken, sodass eine zeitlich unbegrenzte Fortsetzung des Wachstumskurses ohne Degradierung der Lebensgrundlagen der Menschheit möglich werde. Wie wir heute wissen, ist dies ein Irrtum. Der erhoffte Effekt der Dematerialisierung tritt nicht ein, jedenfalls nicht in dem damals prognostizierten Umfang, weil sich auch in der Dienstleistungsgesellschaft der Durchsatz von Stoffen und der Verbrauch von Energie ständig weiter erhöht. Zudem gibt es – vor allem bei den personenbezogenen Dienstleistungen – zeitökonomische Grenzen des Wachstums auf der Seite der Konsumenten. Letzteres ist ein Aspekt, den auch die euphorischen Advokaten digitalisierter Dienste regelmäßig übersehen.
Wir befinden uns heute mitten in einer neuen technikgetriebenen Revolution unserer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Digitalisierung und künstliche Intelligenz werden in relativ kurzer Zeit unsere Gesellschaft dramatisch verändern. Dass die Digitalisierung von Arbeitsprozessen in aller Regel den spezifischen Verbrauch von Energie und Rohstoffen reduziert, dass sich hier auch erhebliche Spielräume für die Verkürzung und Humanisierung der Arbeit ergeben, ist unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten sicher positiv zu bewerten, wenn auch die Ökobilanz der Digitalisierung keineswegs so positiv ist, wie oft angenommen wird. Dennoch müssen sich Sozialdemokraten, die aus der Tradition von Aufklärung und Humanismus kommen, fragen, ob alles, was die Cleverles aus dem Silicon Valley uns als rosige Zukunft vorgaukeln, menschlich und politisch sinnvoll ist.
Würde das sogenannte »autonome« Fahren wirklich die Autonomie der Menschen stärken oder uns in moralische und juristische Dilemmata stürzen? Sind Drohnen, die in den Straßenschluchten unserer großen Städte Pakete zustellen, wirklich eine kluge Erfindung? Machen Lufttaxis, die CEOs aus dem Penthouse ins Büro und vom Büro zum Bahnhof oder zum Restaurant transportieren, unsere Städte lebenswerter? Ist die Ersetzung der Lehrerin durch den Computer und des Pflegers durch Social Bots mit unseren Vorstellungen vom Umgang mit Menschen vereinbar? Sind bewaffnete Kampfdrohnen und Kampfroboter, die selbstständig über Tod und Leben entscheiden, tatsächlich ein begrüßenswerter Fortschritt? Ist das Internet der Dinge, ist der selbsttätig Waren nachbestellende Kühlschrank, sind Sensoren im Blumentopf, die mir auf dem Handy oder dem PC anzeigen, wann die Geranien gegossen werden müssen, die Erfüllung unserer Träume?
Und noch etwas grundsätzlicher: Bleibt uns gar nichts anderes übrig, als großen Konzernen und staatlichen Stellen immer mehr Daten über unser Verhalten preiszugeben und uns schließlich – angeblich zu unserem Besten – subtil von Algorithmen lenken zu lassen? Ist die komplett durchregulierte sogenannte Smart City mit ihren gläsernen Bürger/innen wirklich das Ambiente, in dem sich freie Menschen heimisch fühlen können? Werden uns in Zukunft Roboter die Arbeit ganz abnehmen oder bleibt es dabei, dass für Sozialdemokraten die Humanisierung der Arbeit Vorrang hat, weil der Mensch ein aktives und selbstständig agierendes Wesen ist? Wollen wir, dass Geningenieure und Biotechniker alles tun, um Krankheiten auszumerzen und am Ende gar den Tod überwinden, und würde uns das tatsächlich nicht nur ein immer längeres, sondern auch ein erfülltes und freies Leben bescheren?
Ob etwas, das sich uns mit der Strahlkraft des Neuen aufdrängt, tatsächlich Fortschritt ist, müssen Sozialdemokraten am Maßstab ihrer Werte bemessen. Dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher, ist nicht zu leugnen. Dass in diesem Veränderungsprozess technische Innovationen hilfreich sein können, ist nicht zu bezweifeln. Aber wir brauchen nicht nur neue technische Lösungen. Was wir vor allem brauchen, ist eine Veränderung unseres Verhaltens als Produzenten und Konsumenten, als Staatsbürger und als Teile der Zivilgesellschaft.
Es mag schon sein, dass es beim ökologischen Umbau am Ende ganz ohne Selbstbegrenzung und Suffizienz nicht abgehen kann. Aber wichtiger noch ist eine Akzentverschiebung von der Konzentration auf den Individualkonsum zur verlässlichen Vorhaltung öffentlicher Güter. Es ist eine der größten Torheiten, sich einreden zu lassen, dass es Menschen allein dann besser gehen kann, wenn sie über »mehr Netto vom Brutto« verfügen, wie es die Lindner-FDP stereotyp verbreitet. Die Glücksforschung hat längst nachgewiesen, dass das Lebensglück keineswegs allein davon abhängt, wie viel wir uns als konsumierende Individuen leisten, sondern vor allem davon, wie wir unser Zusammenleben mit anderen und wie wir gemeinsam mit anderen unsere Lebenswelt gestalten.
Der sozialökologische Umbau erweist sich schließlich auch als ein wesentliches Moment einer nachhaltigen Friedenspolitik. Nur durch eine gründliche Veränderung unseres verschwenderischen Konsumverhaltens, eine radikale Erhöhung der Energie- und Stoffeffizienz, die schnelle Ersetzung fossiler durch regenerierbare Energiequellen und den zügigen Aufbau einer ökologischen Kreislaufwirtschaft kann eine sich heute bedrohlich abzeichnende Ära ruinöser Ressourcenkriege verhindert werden. Wie Willy Brandt und Egon Bahr einst mit ihrer Ost- und Entspannungspolitik die Welt des 20. Jahrhunderts vor einem neuen großen Krieg und einer möglichen nuklearen Katastrophe bewahrten, so wäre heute unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts eine neue friedenspolitische Anstrengung nötig, die energische Schritte zur Abkehr von unseren destruktiven Produktions- und Konsumgewohnheiten zur Voraussetzung hat.
Für die Sozialdemokratie könnte sich der ökosoziale Umbau unserer Gesellschaft als die große Chance zur Erneuerung erweisen. Wenn sie begreift, dass das heute alles beherrschende Thema der Ökologie im Kern ein linkes und damit ihr Thema ist, kann sie noch einmal zu einer großen politisch gestaltenden Kraft werden – in der Bundesrepublik, in Europa, vielleicht sogar darüber hinaus. Bleibt es aber bei Halbheiten, gelingt es der Sozialdemokratie nicht, ihre traditionelle Orientierung an der gleichen Freiheit aller konzeptionell mit den ökologischen Fragen zu verbinden, könnte sie tatsächlich auf längere Sicht als ernst zu nehmende politische Kraft verschwinden.
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