Branko Milanović ist der bekannteste und beste Analytiker der globalen Ungleichheit. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt (auch das hier besprochene erscheint im Mai auf deutsch bei Suhrkamp unter dem Titel Kapitalismus global: Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht). 2018 erhielt er den Hans-Matthöfer-Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung für sein letztes Buch Die ungleiche Welt. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Studien, die auf breiter statistischer Basis die Entwicklung der Weltwirtschaft und vor allem der Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Vergangenheit aufarbeiteten, wagt sich Milanović jetzt mit einem Blick in die Zukunft in weniger empirisch gesichertes Fahrwasser.
Dabei baut er auf früheren Arbeiten auf. Einige zentrale Befunde stehen am Anfang: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte arbeitet die Welt mit einem einzigen Wirtschaftssystem, dem Kapitalismus. Aber dieser kommt in (mindestens, müsste man kritisch einwenden) zwei unterschiedlichen Varianten daher: dem westlich liberal-meritokratischen (typisch in den USA seit ca. 1980) und dem östlich politischen Kapitalismus (typisch in China seit ca. 1990). Diesen beiden Systemen widmet Milanovic die ersten beiden großen Kapitel.
Der westliche Kapitalismus ist das Produkt einer langen historischen Entwicklung, die vom klassischen Kapitalismus vor dem Ersten Weltkrieg (typisch in Großbritannien) über den sozialdemokratischen (wohlfahrtsstaatlich mit keynesianischer Wirtschaftspolitik in Westeuropa und den USA bis 1980) zum gegenwärtigen neoliberalen Kapitalismus führte. Diese Systemvarianten definiert Milanović präzise durch die unterschiedlichen Strukturen der Ungleichheit. Der politische Kapitalismus ist dagegen ein viel jüngeres Phänomen, das aus staatssozialistischen, von kommunistischen Parteien kontrollierten Systemen hervorging. Der Autor widmet einen ausführlichen Seitenstrang der Argumentation seiner These, dass die historische Rolle des Kommunismus die Überwindung der Unterentwicklung in peripheren Ländern des kapitalistischen Weltsystems ist.
Ergebnis dieser eng mit der Globalisierung verbundenen Systemtransformationen ist eine Gewichtsverschiebung in der globalen Wirtschaft zulasten des alten nordwestlichen Zentrums. Die Wachstumserfolge des politischen Kapitalismus fordern den meritokratisch-liberalen heraus und eröffnen eine neue, innerkapitalistische Systemkonkurrenz. Dabei sind beide Systeme von hoher und wachsender innerer Ungleichheit geprägt. Beide sind nur bedingt demokratisch. Im Westen dominieren die Interessen des (reichsten) einem Prozent die Politik trotz formaler Gleichheit. Im Osten kontrolliert zwar die Politik deutlicher die Wirtschaft, aber die Interessen von Macht und Reichtum sind ähnlich verknotet.
Im zweiten Teil des Buches widmet sich Milanović der Zukunft, wobei er damit beginnt, die Wirkungen der Globalisierung auf den Kapitalismus zu analysieren. Schwerpunkt ist die Migration, die vor allem durch die globale Ungleichheit getrieben wird. Milanović sieht dadurch die redistributiven europäischen Wohlfahrtsstaaten gefährdet, die vor allem die Migranten anziehen, die ihre zukünftige Wertschöpfung für schwach halten. Migranten mit hohem Wertschöpfungspotenzial bevorzugen dagegen Zielländer mit geringer Umverteilung (z. B. USA). Die Integration der Kapitalmärkte und Wertschöpfungsketten erlaubt die Aufholprozesse ärmerer Länder, schafft zusätzliche Profite und verstärkt die Ungleichheit. Die Wohlfahrtsstaaten geraten unter Druck und linke Parteien beginnen stärker zu Protektionismus zu neigen. Die weltweite Korruption nimmt zu, da die Globalisierung gegenläufige Kontrollmöglichkeiten und -interessen schwächt.
Wohin entwickelt sich der Kapitalismus aus Sicht des Autors? Die Aussichten sind unerfreulich – zumindest aus einer sozialdemokratischen Perspektive. Geld und Profit dominieren, während traditionelle Wertesysteme (Familie, Moral) an Bedeutung verlieren, wenn alles zur Ware wird. Milanović glaubt allerdings weder an massive Jobverluste durch Roboter und künstliche Intelligenz noch an ein universelles Grundeinkommen als Lösung. Sein Wunsch ist, dass sich einer von zwei fortschrittlichen Typen von Kapitalismus durchsetzen: der Volkskapitalismus oder der egalitäre Kapitalismus.
Im Volkskapitalismus bestehen die (weiter sehr unterschiedlichen) Einkommen alle zu gleichen Teilen aus Einkommen aus Kapital und Arbeit. Es gibt wenig Umverteilung, aber freie Gesundheitsversorgung und Bildung für alle, was die soziale Mobilität sichert. Im egalitären Kapitalismus sind die Einkommensunterschiede gering, sowohl bei Kapital- wie bei Arbeitseinkommen. Daher kann sich der Staat auf die Absicherung sozialer Risiken (z. B. Krankheit) beschränken.
Milanović macht zum Schluss vier Vorschläge, um sich diesen sozialeren Kapitalismusvarianten anzunähern: ein progressiveres Steuersystem mit hohen Erbschaftssteuern; mehr Investitionen in Bildung; differenzierte Bürgerrechte, die zwar Migranten schlechter stellen, aber die Vorbehalte der Einheimischen gegen Migration verringern sollen; Verbot der privaten Wahlkampffinanzierung, um den politischen Einfluss der Reichen zurückzudrängen. Damit liegt er auf der Linie der meisten linken/progressiven Programme – mit Ausnahme seiner Vorschläge zur Migrationspolitik.
Der Autor erfüllt mit diesem Buch wieder die Erwartungen, die Leser seiner früheren Werke haben: Er legt eine klar argumentierte und gut strukturierte Analyse vor, die sich auf viele Daten und dort auf Forschungen Dritter stützt, wo es um Fragen geht, die weniger mit seiner Kernkompetenz der Ungleichheit zu tun haben. Hier liegt auch eine gewisse Schwäche dieses ansonsten überzeugenden Werks. Die gesamte Literatur der varieties of capitalism-Schule bzw. vergleichenden politischen Ökonomie blieb unberücksichtigt. Dabei kommt sie zu differenzierteren und teils auch gegenteiligen Befunden (z. B. Torben Iversen und David Soskice in ihrem letzten Buch über Demokratie und Kapitalismus; hier besprochen in der Ausgabe 7+8/2019). Eine direkte Auseinandersetzung wäre interessant und wohl auch fruchtbar gewesen.
Eine weitere, eher noch bedenklichere Lücke ist der Klimawandel, der für die Zukunft des Kapitalismus sicher von Bedeutung ist. Milanović ist besorgt über Krieg und Ungleichheit, die Aushöhlung der moralischen Fundamente, aber nicht über die Umwelt und den Planeten. Dabei wäre die Frage, welche der beiden Systeme, der politische oder der liberal-meritokratische Kapitalismus, besser die notwendige Transformation der Dekarbonisierung bewältigt, nicht nur spannend, sondern vielleicht das in Zukunft entscheidende Erfolgskriterium. Kurzfristig dürfte der Systemvergleich bei der Bewältigung der Coronakrise virulent sein, wenn beides, Offenheit und staatliche Durchgriffskapazität, den Erfolg beeinflusst. In dem Maß, wie der Klimaschutz eine Wachstumsbegrenzung erfordert, stellt sich außerdem die Frage, wie das Wachstum global verteilt werden soll und welche Auswirkungen das auf die Ungleichheit (zwischen und innerhalb von Ländern) hat – ein Aspekt, der sonst im Zentrum von Milanovićs Denken steht.
Insgesamt hat Milanović wieder ein überaus anregendes Buch vorgelegt, das mit großen Pinselstrichen eine empirisch gut fundierte und provozierende Analyse der Entwicklung der Weltgesellschaft aus dem Blickwinkel der Ungleichheit liefert. Es ist für Nichtfachleute gut lesbar, auch wenn sich ihnen manche quantitativen Zusammenhänge vielleicht erst auf den zweiten Blick erschließen. Für eine Politik der sozialen Demokratie liefert es viele Argumente, mehr für eine Angleichung der Lebenschancen und Kontrolle wirtschaftlicher Macht zu tun. Aber er zeigt auch die harten politischen und ökonomischen Realitäten, der sich eine solche Politik gegenübersieht und auf die sie Antworten finden muss.
Branko Milanović: Capitalism, Alone: The Future of the System That Rules the World. Cambridge 2019, Harvard University Press, 304 S., 29.95 $.
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