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Die Zukunft des Sozialstaats in einer digitalisierten Welt

Das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem hat die bisherigen historischen Transformationen des Produktions- und Beschäftigungssystems stets vergleichsweise gut überstanden: Anders als in anderen OECD-Ländern haben weder der Übergang zur Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft, noch die Wirtschafts- und Finanzkrise offene Massenarbeitslosigkeit oder eine massive Verarmung der Bevölkerung ausgelöst. Als effektives Bollwerk gegen die Folgen der technologischen Entwicklung und die Fährnisse der globalen Marktwirtschaft erwiesen sich hierbei die sozialstaatlichen Institutionen. Hierzu gehören eine zuverlässige öffentliche Daseinsfürsorge, die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungen, gute und verfügbare soziale und Bildungsdienstleistungen und ein Beschäftigungssystem, das der Mehrzahl der Beschäftigten eine gute und auskömmliche Arbeit bietet. Es ist dieses sozialstaatliche Institutionengefüge und nicht der Markt, das der Mehrheit der Bevölkerung einen mittelschichtsgeprägten Lebensstandard garantiert. Dennoch – eine Erosion dieser institutionellen sozialstaatlichen Garantien ist kaum mehr zu leugnen: Tatsächlich geben sozialwissenschaftlich gut belegte Erkenntnisse Anlass zur Sorge und die Digitalisierung der Produktionsprozesse stellt eine zusätzliche Herausforderung dar. Inwiefern ist das deutsche Sozialsystem noch zukunftsfähig?

Erstens: Ein wachsender Teil der Bevölkerung in Deutschland ist dauerhaft von regulärer und existenzsichernder Teilhabe am Arbeitsmarkt ausgeschlossen – gesellschaftliche Spaltungen haben sich vertieft. Prekäre Lebenslagen, verursacht durch unsichere Beschäftigungsverhältnisse, niedrige Löhne oder Langzeitarbeitslosigkeit, haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten vervielfältigt und verfestigt. Strukturelle Armut geht heute in hohem Maße mit einem geringen Grad an schulischer und beruflicher Bildung einher und wird meist an die nächste Generation weitergegeben. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) betont, dass besonders in Deutschland Kinder aus Familien in sozial benachteiligten Lebenslagen geringere Chancen auf Bildung und eine gute und nachhaltige Erwerbsintegration haben. Hinzu kommt, dass prekäre Lebenslagen zunehmend räumlich konzentriert sind; dies betrifft nicht mehr nur die neuen Bundesländer, wo schon die jüngere Sozialpolitik nicht in gleicher Weise zur Erfolgsgeschichte werden konnte wie in den alten Bundesländern. Vielmehr zeigt sich nun, dass die Chancen soziokultureller Teilhabe generell räumlich sehr ungleich verteilt sind. Die Situation in sozialen Brennpunkten hat sich zudem durch die jüngste Welle der Zuwanderung verschärft. Nicht nur an der sozialen Entmischung der Bevölkerung einzelner Stadtteile, auch an der sinkenden Wahlbeteiligung zeigt sich heute die Tiefe sozialer Spaltung. Gleichzeitig ist, wie empirische Studien nachweisen, auch die Offenheit der Politik für die Bedarfe und Interessen dieser sozial schwachen Gruppen einzugehen, kaum mehr gegeben.

Zweitens: Unter dem Eindruck zweier Jahrzehnte neoliberaler Diskursmacht ist auch das Sicherheitsversprechen des modernen Leistungsstaates brüchig geworden. Sozialpolitische Reformprojekte zielten in den vergangenen Jahren kaum mehr darauf, den einmal erworbenen Status und den erarbeiteten Lebensstandard zu schützen, sondern veränderten viele Regeln so, dass die Menschen im Bedarfsfall zunehmend auf das soziale Existenzminimum verwiesen sind, dessen Gewährung zudem unter dem Vorbehalt einer administrativen, mit großen Zumutungen bewehrten, Entscheidung steht. Nicht zuletzt hat sich durch die Strategie der Vermarktlichung die Struktur der Leistungsansprüche gegenüber den Sozialversicherungen in den vergangenen Jahrzehnten verändert – und dies ohne nennenswerte politische Widerstände innerhalb der zwei großen Volksparteien! Faktisch gelten Lohnersatz- oder Sachleistungen an der Grenze zur soziokulturellen Existenz heute im Regelfall als eine akzeptable sozialpolitische Antwort – selbst in den Hochburgen der politischen Verfechter/innen der Sozialen Marktwirtschaft. Daher muss der Erhalt eines akzeptablen Lebensstandards nicht nur bei der Altersvorsorge, sondern auch beim Bedarf medizinischer Behandlung, bei Berufsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit durch private Vorkehrungen gesichert werden. Hierdurch werden individuelle Strategien der Problembewältigung durch selbstbestimmte Entscheidungen schwierig: So ist individuelle Autonomie dort eingeschränkt, wo langjährige Arbeitsanstrengungen im Bedarfsfall (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit) aufgrund zu geringer Beiträge oder fehlender privater Vorsorge kaum zu einer kalkulierbaren Sicherung oberhalb des Existenzminimums führen. Zudem sind auch die Bewertung der Angemessenheit einer Beschäftigung im Falle der Arbeitssuche und die Zwangsverrentung älterer Arbeitsloser im Hinblick auf Autonomieverluste problematisch. Das tatsächliche soziale Risiko besteht somit heute nicht mehr allein im vorübergehenden Einkommensverlust, sondern in der latenten Möglichkeit eines dauerhaften Statusverlustes. Die Digitalisierung verstärkt die Erosion des Erwerbsstatus zusätzlich, wo Erwerbsarbeit und Wertschöpfung räumlich und zeitlich entkoppelt werden und hierdurch die Regulierung der Arbeitsverhältnisse erschwert wird. Schon jetzt ermöglicht die Nutzung der digitalen Technologie die Schaffung prekärer Beschäftigungsverhältnisse außerhalb eines arbeits- und steuerrechtlichen Rahmens, sodass Soziolog/innen gar die Entstehung eines »digitalen Prekariats« beobachten.

Drittens: Durch die zurückliegende Reformperiode seit Mitte der 90er Jahre ist eine Verunsicherung über die Verlässlichkeit des Sozialstaats entstanden. Die wachsende relative Bedeutung von Mindestsicherungssystemen und Mindeststandards kollidiert mit dem deutschen Sozialstaatsverständnis, nach dem sozialpolitische Interventionen nicht bloß situationsbezogen soziale Notlagen kompensieren (sollen). Durch ihre Eigenschaft als gesellschaftliche und politische Institution prägt Sozialpolitik die Lebens- und Erwerbsverläufe und damit das Denken und Handeln der Menschen und die jeweilige sozialstaatliche demokratische Kultur eines Landes. Die Eigenheit der europäischen Sozialstaaten bemisst sich nicht allein in unterschiedlichen Leistungshöhen, sondern anhand der zugrunde liegenden Auffassungen von Gleichheit und Gerechtigkeit und der spezifischen gesellschaftlichen Erwartung, die an den (Sozial-)Staat gerichtet ist. Diese vielfältige Wirkdimension sozialpolitischer Institutionen und die Idee, der Sozialstaat »verspreche« soziale Sicherheit für die Menschen »in die Zukunft« hinein, betonen vor allem historisch oder politikwissenschaftlich geschulte Wissenschaftler/innen in der Tradition von Karl Polanyi, Richard Titmuss oder (in Deutschland) Franz-Xaver Kaufmann. Diese institutionelle Perspektive, in der die normative und kulturelle Dimension von Sozialpolitik als zentraler gesellschaftlicher Integrationsmechanismus gilt, wird in der die vergangenen Jahrzehnte dominierenden ökonomischen, vor allem neoklassischen Begründungslogik von Sozialstaatlichkeit schlichtweg ignoriert. Entsprechende wissenschaftliche und politische Positionen reduzieren die Wirkung von Sozialpolitik auf kurzfristige Anreizwirkungen oder ökonomische Kosten.

Auf der Wirkebene problematisch ist jedoch nicht (wie im politischen Diskurs oftmals polemisch zugespitzt wird), dass nicht der jeweils individuell erreichte Lebensstandard »von der Wiege bis zur Bahre« garantiert würde. Vielmehr wird die Toleranz der Menschen überstrapaziert, wenn die Regelleistungen der Sozialversicherungen (etwa Zahnersatz, qualitativ angemessene Pflegeleistungen) nicht mehr am mittleren Lebensstandard sondern an einem (abgesenkten) Mindeststandard bemessen werden, sodass im Bedarfsfall Einbußen des Lebensstandards als inakzeptable Zumutung empfunden werden. Die Verdienste aus individueller, teilweise langjähriger Arbeitsanstrengung werden nicht mehr garantiert, sondern zunehmend von individuellen und unkalkulierbaren individuellen Marktchancen abhängig, welche jedoch immer weniger durch eigene Leistungen und Bemühungen beeinflusst werden können. Die Rücknahme des für den deutschen Sozialstaat spezifischen Sicherheitsversprechens – eben dem des Statuserhalts in Phasen von Nichterwerbstätigkeit - vermindert die Kontroll- und Planungsmöglichkeiten des eigenen Lebens und lässt die kollektive Verunsicherung anwachsen. Die jüngere Ungleichheitssoziologie hat vielfach belegt, dass auch die gefühlte soziale Unsicherheit und die Angst vor einem individuellen Statusverlust in der Mittelschicht wächst – und dies ganz unabhängig von den objektiv gegebenen Risiken.

Um diese Tendenzen der Gefährdung des sozialen Zusammenhalts einzudämmen, muss sich eine nachhaltige und moderne Sozialpolitik an zwei Grundprinzipien orientieren. Sie sollte, erstens, darauf hinwirken, dass soziale Integration für alle Menschen gleichermaßen durch Erwerbsteilhabe möglich ist. Durch die Digitalisierung nimmt die Bedeutung der Regulierung des Arbeitsmarktes wieder zu: Noch mehr als zuvor muss arbeits- und tarifrechtlich auf den Arbeitsmarkt eingewirkt werden, um geschützte Arbeitsverhältnisse auch für »Einfacharbeit« zu generieren. Doch vor allem muss das Steuer- und Wettbewerbs- sowie das Tarifrecht neue digitale Geschäftsmodelle (Beispiel Uber) so regulieren, dass prekäre Erwerbsarbeitsverhältnisse gar nicht erst entstehen und arbeits- und tarifrechtliche Standards nicht unter Druck geraten. Zusätzlich, und hierauf verweist auch das neokeynesianisch anmutende Konzept der Sozialinvestition, werden – nicht zuletzt durch die veränderlichen Qualifikationsanforderungen im Arbeitsmarkt - neue und massive Investitionen in öffentlich finanzierte Bildungs- und Dienstleistungsangebote erforderlich. Dies gilt insbesondere dort, wo in frühen Phasen eines Lebensverlaufs entstandene soziale Benachteiligungen ausgeglichen werden müssen. Hierfür wird eine besondere Förderung von Einrichtungen in bestimmten Stadtteilen und die gezielte Unterstützung bestimmter Personengruppen, etwa Langzeitarbeitslose durch Maßnahmen der geförderten Beschäftigung, in verstärktem Maße notwendig sein. Bedingungslose Sozialleistungen, die auf diese doppelte Strategie – Regulierung plus Sozialinvestition – verzichten und damit prekäre Arbeit indirekt subventionieren würden, würden der Expansion prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse dagegen eher Vorschub leisten: Sie setzen nicht an der Ursache ungleicher Marktchancen und Marktpositionen an, sondern wollen lediglich die Folgen einer fehlenden Regulierung abmildern. Das sozialpolitische Leitbild für eine Strategie, die auf den Schutz von allen – auch gerade den besonders verwundbaren – Erwerbstätigen, zielt und der Vielfalt von Bedarfslagen Rechnung trägt, ist hingegen das einer inklusiven Gesellschaft. Inklusiv ist eine Gesellschaft, wenn sie durch die rechtliche Regulierung der Produktions- und Arbeitsbedingungen allen Menschen gleiche Chancen auf soziale Teilhabe eröffnet.

Das zweite Grundprinzip sollte darin bestehen, dass individuelle und über den Erwerbslebensverlauf unternommene Bemühungen und Leistungen (wieder) so anerkannt werden, dass im Bedarfsfall (Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Elternschaft, Pflegebedürftigkeit) ein angemessener Lebensstandard gehalten werden kann. Um gesellschaftliche Akzeptanz (und politische Legitimität) zu erzeugen, muss sich dieser Lebensstandard notwendigerweise – sowohl auf der Seite der erbrachten (Arbeits-)Leistung als auch auf der Seite des sozialen Schutzes – an einem gesellschaftlichen Durchschnitt und nicht an einem minimalen Leistungs- oder Sicherungsniveau orientieren. Sozialforschungsinstitute wie das Institut für Arbeit und Qualifikation oder das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung weisen jedoch regelmäßig nach, dass bei den Arbeitseinkommen die Ungleichheit, insbesondere im unteren Lohnbereich, zunimmt und auch die sozialstaatliche Umverteilung über die Sozialversicherungen immer weniger ausgleichend wirkt. Vor allem aber gewährleisten die Sozialversicherungen immer weniger die Status- und Lebensstandardsicherung. Da eine leistungsgerechte Teilhabe die Umverteilung der erwirtschafteten Gewinne voraussetzt, wird es auch in Zukunft starker politischer Bemühungen um eine gerechtere Verteilung der Markteinkommen durch eine umverteilende Lohn- und Steuerpolitik und eine gerechtere sozialstaatliche Umverteilung bedürfen. Notwendig ist hierfür ein entschiedenes Bekenntnis zur Mittelschichtsgesellschaft, die allen die gleichen Zugangschancen zu einem mittleren Lebensstandard eröffnet und die Menschen vor einer sozialen Abwärtsspirale zuverlässig schützt. Das Prinzip der Mittelschichtsbezogenheit ist das zweite Grundprinzip, das es erneut zu stärken gilt.

Inklusivität und Mittelschichtsbezug sind letztlich zwei Seiten einer Medaille. Hierfür bedarf es gesellschaftlicher Solidarität, die leistungsstarke und leistungsschwache Menschen in einer Gesellschaft aneinander bindet und damit die Basis des Zusammenlebens und Zusammenhalts in einer demokratischen und humanen Gesellschaft bildet. Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern ein Resultat vielschichtig ausgehandelter und institutionalisierter Gegenseitigkeitsbeziehungen: Solidarität erwächst aus der Tatsache, dass alle Beteiligten – der Staat, die Menschen und die Wirtschaft –, die in einer staatlich verfassten Gesellschaft leben, aneinander durch belastbare Versprechen und Regeln gebunden sind. Der Vertrauensverlust in die politischen Institutionen und insbesondere in den Sozialstaat der vergangenen zwei Jahrzehnte erfordert daher mehr als ein fragmentiertes Nachbessern durch mehr oder weniger radikale Einzelmaßnahmen oder eine bloß rhetorische Abkehr von wirtschaftsliberalen Begründungsmustern für Sozialpolitik. Der (sozial-)politische Unterbau einer Hochleistungsgesellschaft muss gesellschaftliche Integration durch eine schützende Regulierung des Arbeitsmarktes für alle garantieren und gleichzeitig ein akzeptables Maß an Umverteilung und Teilhabe organisieren. Denn, eine moderne und vor allem demokratische Gesellschaftsordnung erhält nur dann ihre Legitimität – d. h. sie kann die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nur dann bewahren –, wenn es ihr gelingt, die Wirksamkeit solidarischer Verhältnisse überzeugend darzustellen.

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