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Jugendliche im Baltikum und den Visegrád-Staaten Die Zukunft liegt woanders

Die Staaten der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) sind in den letzten Jahren immer wieder in den Mittelpunkt europäischer politischer Debatten gerückt: Die Entstehung populistischer Regime, der schrittweise Demokratieabbau und Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in diesen Ländern wurden zu zentralen Themen für die ganze Europäische Union. Die russische Invasion der Ukraine hat ihr Übriges getan, die geostrategische Bedeutung Osteuropas und der baltischen Staaten für ganz Europa zu erhöhen.

Dort wird langsam die erste Generation erwachsen, die nach dem EU-Beitritt ihrer Länder auf die Welt kam und nichts anderes kennt als die Zugehörigkeit zur Europäischen Union. Welche politischen und gesellschaftlichen Einstellungen, Ängste und Hoffnungen sie hat, das wurde in einer FES-Erhebung mit fast 10.000 jungen Menschen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren ermittelt.

»Geringes Vertrauen in nationale Institutionen, aber sehr überzeugt von der Demokratie und von supranationalen und zwischenstaatlichen Organisationen.«

Das sozialpolitische Profil dieser Generation, das dabei sichtbar wurde, ist von einer starken politischen Entfremdung, einem geringen Vertrauen in nationale Institutionen und ausgeprägten sozioökonomischen Ängsten geprägt. Trotz dieser insgesamt düsteren Aussichten gibt es auch Lichtblicke, so sind die jungen Menschen der Region im krassen Gegensatz zum geringen Vertrauen in nationale Institutionen sehr überzeugt von der Demokratie. Und besonders überzeugt sind sie von supranationalen und zwischenstaatlichen Organisationen wie der EU und der NATO.

Die ausgeprägte Entfremdung junger Menschen in Mittel- und Osteuropa und dem Baltikum von Politik ist eine zentrale und erschütternde Erkenntnis der Umfrage: Nur 5,5 Prozent von dieser Gruppe sind sehr an Politik interessiert und nur ein Fünftel betrachtet sich als eher interessiert. Diese Zahlen liegen deutlich unter vergleichbaren Werten in westeuropäischen Ländern. Überall aber ist festzustellen, dass im Durchschnitt junge Männer mehr Interesse an Politik haben als junge Frauen.

Die politische Entfremdung zeigt sich auch in dem geringen Interesse junger Menschen, selbst ein politisches Amt zu übernehmen. Fast ein Drittel aller Befragten schließt das kategorisch aus. Jene, die sich eher vorstellen können ein öffentliches Amt zu übernehmen, sind politisch tendenziell rechtsorientiert. Auch hier zeigt sich das gleiche Bild, dass Frauen weniger Interesse an ihrem passiven Wahlrecht zeigen als Männer.

In keinem Land der Region ist die Distanz zur Politik in der Jugend stärker ausgeprägt als in Ungarn. Ungarische Jugendliche sind am wenigsten politisch engagiert und am wenigsten politisch. Orbáns nationalistische und migrationsfeindliche Politik gewinnt auch unter ihnen an Boden: Eine Mehrheit von 63 Prozent der jungen Ungar:innen lehnt die Idee ab, dass ihr Land mehr Einwanderer:innen aufnehmen sollte. Obwohl junge Menschen in der Tschechischen Republik und der Slowakei ähnliche Ansichten vertreten, ist der ungarische Wert der höchste der Region. Im Baltikum sind junge Menschen wesentlich offener gegenüber Migration.

Nicht gemeint und nicht vertreten

Eine Erklärung für das geringere Interesse an Politik in Mittel- und Osteuropa und den Baltischen Staate könnte sein, dass die Standpunkte jüngerer Kohorten (noch) nicht adäquat im politischen Prozess repräsentiert werden. Nur ein bis zwei Prozent der jungen Menschen empfinden derzeit, dass die Interessen ihrer Altersgenoss:innen in der Politik auch berücksichtigt werden. Desillusionierung dürfte auch eine Rolle spielen: Diejenigen, die am wenigsten an Politik interessiert sind, sind auch am kritischsten gegenüber der Art und Weise, wie die Bedürfnisse junger Menschen repräsentiert werden.

Politisch neigen junge Menschen in Mittel- und Osteuropa sowie im Baltikum zur politischen Mitte. Eine Ausnahme bildet Polen, wo sich wie auch in Westeuropa ein Drittel der Jungen links einordnet. Rechtsorientierte junge Leute sind tendenziell etwas zufriedener mit ihrer politischen Repräsentation. Allerdings ist der Unterschied zwischen Links, Mitte und Rechts in Mittel- und Osteuropas Parteienspektren möglicherweise weniger deutlich ausgeprägt.

»Ein sehr geringes Vertrauen in die nationalen Regierungen und Parlamente, am allerwenigsten in politische Parteien.«

Trotz dieses insgesamt geringen Beteiligungslevels und trotz des Angebots von Politiker:innen mit autoritären Tendenzen, bleibt die Demokratie für die Mehrheit der jungen Menschen in der Region die bevorzugte Regierungsform. Diese grundsätzliche Unterstützung für die Demokratie steht im krassen Gegensatz zur erlebten Realität in ihren eigenen politischen Systemen. Denn was das Vertrauen in nationale Institutionen betrifft, sind die Ergebnisse düster: Junge Menschen in Mittel- und Osteuropa und den Baltischen Staaten haben ein sehr geringes Vertrauen in ihre nationalen Regierungen und Parlamente, am allerwenigsten in politische Parteien. In Mittel- und Osteuropa haben zwei Drittel sogar »überhaupt kein oder wenig Vertrauen« in politische Parteien.

Doch dieses institutionelle Misstrauen beschränkt sich weitgehend auf den nationalen Kontext. Junge Menschen in der Region vertrauen in der überwiegenden Mehrheit der EU, ähnlich wie ihre Altersgenoss:innen in Westeuropa, und sehen darin auch die Zukunft ihres Landes. Im Baltikum hatte zudem bereits vor der russischen Invasion der Ukraine eine Mehrheit der jungen Menschen großes Vertrauen in die NATO.

Nichts bedrückt mehr als Geldsorgen

Es sind die unterschiedlichen sozioökonomischen Anliegen, bei denen sich tatsächlich Gräben zwischen Ost und West auftun. Im Baltikum und den Visegrád-Staaten zählen niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit, Armutsrisiko, soziale Ungleichheit und der Braindrain bei der jungen Generation zu den wichtigsten Problemen.

Fast die Hälfte der jungen Menschen im Baltikum (41,3 Prozent) glaubt, dass niedrige Löhne eines der wichtigsten politischen Themen in den nächsten zehn Jahren sein werden. Vier von zehn Jugendlichen in Mittel- und Osteuropa teilen diese Sorge. In Deutschland haben sich sozioökonomische Anliegen in den letzten Jahren verringert wohingegen Umweltschutz und Klimawandel zu den wichtigsten Anliegen bei jungen Menschen geworden sind. In einigen anderen EU-Ländern wird die Klimakrise als noch größere Herausforderung angesehen als etwa der Krieg in der Ukraine oder die COVID-19-Krise.

»Obwohl die Jungen allgemein zufrieden und hoffnungsvoll sind, beeinträchtigt ihre finanzielle Situation die Zufriedenheit stark.«

Die Dominanz dieser sozioökonomischen Themen unter den jungen Menschen hat mit den hohen Arbeitslosenraten in der Region zu tun, die durch die Coronapandemie noch gestiegen sind. Polen und Ungarn haben die höchsten Arbeitslosenraten unter jungen Menschen, und auch von diesem Risiko sind Frauen unverhältnismäßig stark betroffen.

Obwohl diese Generation im Allgemeinen zufrieden ist und hoffnungsvoll in die eigene Zukunft blickt, beeinträchtigt ihre finanzielle Situation die Zufriedenheit stark. Finanziell besser gestellte Jugendliche sind deutlich zufriedener mit ihrem Leben und auch in ihren familiären Beziehungen, während jene aus finanziell schwächeren Haushalten von mehr Spannungen mit ihren Eltern berichten. In Armut oder Armutsgefahr lebende junge Menschen haben auch eher Konflikte mit ihren Familien.

Das Bedürfnis nach finanzieller Sicherheit wird auch in den Lebenszielen der jungen Menschen offenbar: Am wichtigsten sind in allen untersuchten Ländern Unabhängigkeit, Verantwortung und eine erfolgreiche Karriere. Ganz anders als in Deutschland, wo Familie und soziale Beziehungen die wichtigsten Ziele im Leben junger Menschen sind. Wie stark das Bedürfnis nach mehr Prosperität ist, haben auch solche Studien gezeigt, die die Bereitschaft abbilden, Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten gegen höhere Lebensstandards einzutauschen.

Die Zukunft könnte woanders liegen

Diese höheren Lebensstandards findet die Generation, die nichts anderes als die Personenfreizügigkeit kennt, häufig in anderen EU-Ländern. Der Zusammenhang zwischen einer sicheren Beschäftigung und dem Verbleib im Heimatland ist dabei deutlich: Ein Drittel der jungen Menschen mit einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung schließt aus, jemals auszuwandern. Aber ein Drittel aller jungen Menschen ist nur teilzeitbeschäftigt, und unter ihnen ist der Wunsch auszuwandern besonders stark ausgeprägt.

Die persönlichen Zukunftsaussichten junger Menschen haben sich von den Aussichten für ihre Länder entkoppelt.

Fast ein Viertel aller jungen Menschen in Mittel- und Osteuropa und dem Baltikum hat einen starken oder sehr starken Wunsch auszuwandern. Nur ein weiteres Viertel kann sich überhaupt nicht vorstellen, für länger als sechs Monate wegzugehen. Diese hohe Bereitschaft zur Mobilität dürfte auch eine Rolle spielen in der Entkopplung der persönlichen Zukunftsaussichten junger Menschen von den Aussichten, die sie für die Entwicklung ihrer Länder sehen.

Wer die Unterstützung junger Menschen bei den bevorstehenden Europawahlen zurückgewinnen will, sollte also insbesondere die Förderung von jungen Kandidat:innen und Geschlechtervielfalt glaubhaft verfolgen, sowie vermeintlich postmaterialistische Themen wie Klimawandel und Umweltschutz glaubwürdig mit wirtschaftlichem Fortschritt und Entwicklung verbinden.

Das kann beispielsweise erreicht werden, indem jeder dritte Platz auf einer Kandidat:innenliste einer Person unter 30 Jahren vorbehalten ist. Auch die Themen, die junge Menschen vermehrt betreffen – Bildung und Ausbildung, Beschäftigungsaussichten und die Lage am Wohnungsmarkt vor dem Hintergrund einer Rekordinflation – müssen von progressiven Kandidat:innen bespielt werden. So gewinnt auch die Output-Legitimität der Demokratie, nämlich die Zufriedenheit der Bevölkerung, das Vertrauen junger Menschen zurück.

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