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© Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Robert Michael

Die Zukunft – von der Drohung zurück zum Versprechen

NG|FH: Lieber Heinz Bude, das Thema Katastrophe stand im Sommer 2021 nicht zuletzt aufgrund des historischen Scheiterns des demokratischen Westens in Afghanistan, aufgrund neuer Wellen der Coronapandemie und der Folgen des Klimawandels wie der Flutkatastrophe in Westdeutschland oder der Flächenbrände am Mittelmeer auf der Tagesordnung. Was genau ist das Katastrophengefühl in dieser Situation?

Heinz Bude: Wir haben es heute mit extremen Ereignissen zu tun, die die natürliche Selbstverständlichkeit unseres Lebens betreffen. Zufällig im Einzelnen, aber unabwendbar im Ganzen. Es ist ein ziemlich unangenehmer Gedanke, dass wir es mit irreversiblen Prozessen zu tun haben. Die Klimakrise ist Ausdruck eines Klimawandels. Dies ist der Kern des katastrophischen Bewusstseins, dass die Zukunft in dieser Hinsicht nicht mehr länger ein Versprechen ist, sondern eine Drohung. Das gilt für alle westlichen Zivilisationen gleichermaßen. Insbesondere für westliche deshalb, weil wir aus einer 200-jährigen Geschichte der Öffnung von Zukunft kommen.

NG|FH: Nun gibt es nicht die eine Totalkatastrophe bzw. Apokalypse, sondern es addieren sich kleinere lokale Katastrophen, selbst die Coronakrise tritt ja regional unterschiedlich auf. Im Unterschied zur Befindlichkeitsdebatte der German Angst aus den 80ern scheint es sich um sehr reale Gefahren zu handeln. Damals blieb das »Waldsterben« aus, heute geht der Wald tatsächlich vielerorts zugrunde.

Bude: Die Stimmungslage in Deutschland ist heute noch dadurch bestimmt, dass wir aus zehn Jahren Paradies kommen. Die Zeit nach der großen Weltwirtschafts- und Finanzkrise ist hierzulande die Zeit einer neuen dynamischen Konstellation geworden. Die Arbeitsmärkte haben sich sehr positiv entwickelt, ich würde sogar so weit gehen, dass für viele Menschen die Lebenschancen zugenommen haben. Wie soll man verstehen, dass alles besser und schlechter zugleich wird? Im Augenblick haben wir in aktuellen Debatten sehr viel Irrsinn. Das Wunderland Europas, welches sich um die Jahrhundertwende vom Problemfall zum Zugpferd dieses Kontinents entwickelt hatte, scheint, überspitzt formuliert, zum Tummelplatz verrückter Querallianzen geworden zu sein.

NG|FH: Also ist die Verunsicherung gesamtgesellschaftlich, von »deutscher Überforderung« konnte man lesen. Bestimmt der Katastrophismus als Lebensgefühl wirklich die Politik? Es gibt ja durchaus Analysen, die Olaf Scholz’ Beliebtheit vor allem auf das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontinuität zurückführen, nicht nur auf seine Fähigkeit Aufbruchsstimmung zu erzeugen.

Bude: Das ist eine treffende Einschätzung. Allerdings mit dem Empfinden versehen, dass man sich auch da nicht so recht traut. Scholz ist ein Übergangskandidat für eine Situation, die wir noch nicht vollständig durchblickt haben. Und wenn das Wesen von Politik die stellvertretende Deutung der Lage ist, in der die politischen Akteure vorangehen und Horizonte eröffnen, dann gibt es aktuell niemanden, der dieses Anforderungsprofil erfüllt. Also entscheidet man sich letztendlich für denjenigen, der in erster Linie den Status quo aufrechterhält, mit einigen kleineren notwendigen Veränderungen, und registriert, wie weit man damit kommt. Genau das scheint das Konzept von Scholz zu sein, auf diese vorsichtige Ungewissheit der Wähler zu setzen. Er erklärt ja nicht, dass alles in Ordnung ist, aber er fährt, was die Problembekämpfung angeht, einen eher moderaten Kurs auf Sicht, bei dem man situativ reagieren und korrigieren kann.

NG|FH: Vor der Bundestagswahl wurde versprochen, dass die notwendigen Umbrüche nicht mit Wohlstandsverlusten einhergehen werden, dabei kann man in dieser Situation doch objektiv nicht wirklich wissen, wie es weiter geht?

Bude: Das ist genau der Punkt, der den Grünen zum Verhängnis geworden ist. Die haben Aufbruch deklariert und Rückkehr denunziert. Die Grünen verhalten sich so, als hätte es keine Pandemie gegeben. Das Problem ist aber doch, dass in den Lockdowns sich die meisten an ein Leben des Rückzugs und des Selbstschutzes gewöhnt haben. Wir haben verlernt, die Gegenwart von anderen zu schätzen und uns zu freuen, dass wir nicht mutterseelenallein auf der Welt sind. Ein Horizont des gemeinsamen Lebens ist gerade für eine pluralisierte Gesellschaft lebenswichtig.

NG|FH: Sind das nicht Spannungsverhältnisse, die nicht einfach so aufgelöst werden können, denn einerseits gibt es doch eine starke Individualisierung und Separierung, auf der anderen Seite nicht nur Aufrufe zur Solidarität, sondern auch viel gemeinschaftliche Unterstützung?

Bude: Meine Diagnose dessen war, dass ein Empfinden von Verwundbarkeit in unserer Gesellschaft gewachsen ist. Und zwar mit einer gewissen Klassenindifferenz. Das Pathos der Selbstherrlichkeit hat sich aufgebraucht. Weder Wohlstand noch Bildung können einen vor den Auswirkungen der Pandemie oder des Klimawandels schützen. Resilienz ist zumeist eine Kategorie des Hochmuts und nicht der Stärke. Das ist insofern eine interessante Situation, als sie der Gesellschaft die Möglichkeit gibt, sich neu und anders zu begreifen. Nach der Pest oder nach der Cholera war’s nicht anders. Es stellt sich eine neue Konstellation von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft ein und ich glaube, dass die Leute heute so etwas genau wieder suchen.

NGFH: Aber in der Bereitschaft dieser Suche überwiegt doch erst einmal Verunsicherung, zudem stellen sich zentrale Grundsatzfragen neu. Gilt denn nicht mehr, dass eine demokratisch-linke Politik ohne die Hoffnung auf bessere Zeiten, ohne Zukunftsoptimismus und Fortschrittserzählung kaum möglich ist?

Bude: Ich formuliere es mal so, wir können aktuell nicht optimistisch sein, das wäre in der Tat ziemlich unklug, aber man kann Hoffnung haben. In der Hoffnung steckt ein metaphysisches Quantum. Willy Brandt hat das immer gewusst. Die Menschen wollen ein Gefühl dafür gewinnen, um was es uns trotz aller Differenzen von Interessen und Wünschen gemeinsam geht. Joe Biden hat immerhin einen Alptraum beendet. Man kann sich sogar fragen, ob sein Rückzug aus Afghanistan vielleicht doch ein wichtiger Schritt in die Zukunft war und nicht bloß ein Desaster, vielmehr ein notwendiges Desaster war, um zu realisieren, dass wir Geld in eine Gesellschaft gepumpt haben, die so nicht zu reparieren ist.

NG|FH: Im geltenden Grundsatzprogramm der SPD von 2007 heißt es, entweder stehen wir vor einem Jahrhundert des sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Fortschritts oder vor einem Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und entfesselter Gewalt. Doch die gegenwärtige Situation ist doch eher irgendwo dazwischen anzusiedeln?

Bude: Genauso ist es. Deshalb frage ich mich, ob es nicht Zeit für ein neues Zusammendenken von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ist. Natürlich denkt man dann sofort an ein technokratisches Regime. Ich denke mehr an einen Politikstil gezielter Grenzüberschreitung zwischen den wissenschaftlichen, der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre. Was jeder Seite viel abverlangt.

NG|FH: Technokratie, da zuckt man zusammen, aber die muss ja nicht gleich antidemokratisch sein. Beobachten wir derzeit nicht eher das umgekehrte Phänomen, dass die Demokratie abgeschottete Kommunikationsblasen, Wissenschaftsleugnung, Faktenverdrängung und Verschwörungstheorien hervorbringt?

Bude: Genau, es braucht ein anderes Denken übers Regieren jenseits von Staatsphobie, aber auch jenseits von Zivilgesellschaftseuphorie. Kluges Marktdesign für den Emissionshandel, eine Theorie des Geldes nach der Schwarzen Null, ein Verständnis von Institutionen, die dem Bedarf von Bindungen gerecht werden. Das sind die Stichworte für eine Politik der Gegenwart.

NG|FH: Wir sollten den Rechtspopulismus nicht vergessen, der nährt sich doch auch aus dieser gegenwärtigen Ungewissheit und Perspektivlosigkeit?

Bude: Selbstverständlich ist das ein Effekt der katastrophischen Konstellation. Ich finde aus soziologischer Sicht aber vielmehr interessant, wie viel dieses Irrsinns die Politik absorbieren kann und wie viel sie als Faktum akzeptieren muss. Ich glaube, dass uns Theorien der Prekarität und der Hegemonialität nicht weiterbringen. Es stimmt einfach nicht, dass nur Menschen mit prekären Zukunftsaussichten oder krassen Entwertungserfahrungen Rechtspopulisten sind. Rechts ist noch einiges zu entschlüsseln. Und dem muss man sich auch politisch stellen.

NG|FH: Was kann denn die Politik zu einer besseren Anerkennung und Vergemeinschaftung, hin zu verstärkter Solidarität beitragen?

Bude: In den Spuren von Freud könnte man sagen: Schuld macht frei. Ständig nur auf die anderen und deren Fehler verweisen, das führt letztendlich zu nichts. Wenn wir uns aber unsere eigene Schuld eingestehen, macht uns das selbst freier und beweglicher. Man kann die ganze Last von Fremdanklage und Selbstmitleid abwerfen.

NG|FH: Wie könnte das konkret aussehen?

Bude: Ich stelle mir eine politische Botschaft vor, die Abhängigkeit und Großzügigkeit zusammendenken kann. So bekommt man eine Idee, dass man sich in manchen Dingen auf andere verlassen und diese Abhängigkeit nicht fürchten muss. Man muss sich selbstverständlich nicht in allem von anderen abhängig machen, aber es gibt bestimmte Dinge, bei denen wir eben, auf Gedeih und Verderb, wie man früher sagte, aufeinander angewiesen sind. Es bedarf meiner Ansicht nach einer gewissen inneren Großzügigkeit, dieses aufeinander Angewiesensein zu akzeptieren. Das könnten wir als Fazit aus der Vergangenheit und als Chance für die Zukunft mitnehmen.

NG|FH: Jonathan Franzen hat in seinem Essay Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen argumentiert, dass es zu spät sei, den Klimawandel insgesamt zu verhindern, dass wir uns vielmehr auf Strategien konzentrieren sollten, mit den neuen Herausforderungen zu leben und umzugehen. Sollte es in diesem Sinne nicht auch bei uns stärker um wirkungsvollen Katastrophenschutz, um die notwendige Anpassung an längst im Wandel begriffene Verhältnisse gehen?

Bude: Es ist genauso wie Franzen schreibt, Adaption ist das große Thema unserer Gegenwart. Was ist intelligente Adaption und welche können oder müssen wir uns zumuten? Es ist nicht große Transformation, wie viele behaupten, die uns rettet, sondern die vielen unverzweifelten Adaptionen. Die soziale Verantwortung im eigenen Lebenskreis ist am Ende entscheidender als die individuelle Gewissensqual im Blick auf das Ganze.

NG|FH: Aber sobald es dahingehend konkreter wird, beginnen doch die Schwierigkeiten. Im Sinne Ihrer Adaption müsste man doch eigentlich Dörfer im Ahrtal oder die Innenstadt von Bad Münstereifel aufgeben. Doch natürlich muss Politik dort den Wiederaufbau der Heimat versprechen, anders kann man mit den Menschen doch nicht umgehen?

Bude: Absolut, ich verstehe, dass das eine schmerzliche Angelegenheit ist. Wir müssen jedoch auch zu einer realistischen Erkenntnis kommen. Jonathan Franzen, der ja ein leidenschaftlicher Ornithologe ist, zieht am Ende den Schluss, dass die großen Probleme der Vögel nicht etwa der Klimawandel oder dessen Effekte sind, sondern die Glasfenster, gegen die sie fliegen und an denen sie letztendlich sterben.

NG|FH: Damit erklärt er selbstverständlich nicht jegliche Handlungen, die das Klima schützen, für sinnlos, aber ökologische Veränderungen beginnen bei ihm in unmittelbaren Bereichen.

Bude: Genau. Der Gegentypus zu den Fridays for Future-Aktivisten ist gewissermaßen Franz von Assisi mit seinem Grundsatz: »Wir haben Verantwortung zu übernehmen für die Welt, die nächst zu uns ist.« Wenn wir das tun, ist schon viel gewonnen.

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