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Wie die Technik uns entmündigt, statt uns zu befähigen Die Zukunft wird Science-Fiction sein

Kann Science-Fiction (Scifi) in die Zukunft schauen? Die einen sehen im Internet, Smartphone, Facebook etc. die Verwirklichung früherer Scifi--Visionen. Die anderen, allen voran der kanadische Autor Cory Doctorow, meinen, dass Scifi keine zuverlässige Prognose liefern könne.

Eine wichtige Funktion der Science-Fiction-Romane war und ist, die aktuellen Entwicklungen und Neuerungen in der Technik oder Wissenschaft begreifbar zu machen und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Gesellschaft und jeden Einzelnen (kritisch) zu hinterfragen. »Es gibt nicht die eine ›Digitalisierung‹«, erklärt Katharina Nocun in Die Daten, die ich rief, »die Frage ist, für welchen Weg wir uns entscheiden«. Wir beeinflussen nicht nur die Zukunft, indem wir die Entwicklung bestimmter Technologien vorantreiben – auch unsere Vorstellung von der Zukunft wird dadurch geprägt, wie wir heute über die Nutzung und Anwendung der Technologien denken und entscheiden. Science-Fiction hilft dabei, sich einen Reim auf das zu machen, was sich immer schneller und unerwarteter wandelt. Nicht immer geschieht dies in Form einer Zukunftsvision – Kriminalromane, Sachbücher und Hollywood-Blockbuster sind nicht weniger geeignet.

Die literarische Form, mit der Andreas Eschbach in NSA Technik begreifbar machen möchte, ist die einer »spekulativen Geschichte«. Dazu lässt er von einem seiner Protagonisten, der seine Abschlussarbeit auf diesem Gebiet verfasst, erklären: »Die Grundidee (…) ist, dass man die Bedeutung eines bestimmten historischen Ereignisses erst dadurch richtig einschätzen kann, wenn man herausarbeitet, was passiert wäre, wenn es nie stattgefunden hätte.« Im Dritten Reich Eschbachs gibt es bereits Personal Computer (wenngleich von der Größe eines Schranks) und Internet (obwohl das Wort nicht einmal fällt). Nationale Foren enden an den Staatsgrenzen, lokale Speicher werden alsbald verboten und durch zentrale Speicher ersetzt, und am Ende bekommt jeder Reichsbürger einen mobilen Telefonapparat. Der Besitz von Bargeld steht unter Strafe, alles – vom Bücherkauf bis zur Fahrkarte – kann ganz bequem mittels elektronischer Zahlungssysteme erledigt werden, und standardisierte Software, wie das »Tagebuch« oder ein Terminkalender, steht den Bürgern auf ihren mobilen Geräten zur Verfügung. Diese Annehmlichkeiten nutzend, ahnen die Bürger nicht, dass sie abgehört und all ihre Aktivitäten kontrolliert werden (können). Das Nationale Sicherheits-Amt (NSA) hat Zugriff auf die Daten und nutzt sie: um unbequeme Hitler-Kritiker in den Foren zu identifizieren, Proviantkäufe und Energienutzung auszuwerten, um versteckte Juden aufzuspüren, entflohene Ehefrauen einzufangen oder die nächsten Erpressungsopfer zu identifizieren (z. B. einen kriminellen NSA-Abteilungsleiter).

Bis auf die neuen technischen Spielereien besitzt das Dritte Reich von Eschbach auch jene Eigenschaften, die moderne Militärhistoriker gerne als Gründe dafür anführen, warum die Deutschen immer ihre Kriege verlieren: die beinahe pathologische Aversion gegenüber weiblicher Berufstätigkeit und die Beschränkung der Funktion von Frauen darauf, neue Soldaten zu gebären, sowie der Eindruck, die dem Ziel des Endsieges verpflichteten Behörden und Teile des Militärs würden eher gegeneinander als miteinander arbeiten und sich gegenseitig ausspionieren.

Eine Abweichung historischen Ausmaßes gibt es dennoch: In einem Beruf werden Frauen geduldet – er ist gar ausschließlich den Frauen vorbehalten. Die Protagonistin in Eschbachs NSA ist Programmiererin, denn Programmieren sei wie Stricken, eine Frauensache. »Ich kann aber nicht stricken!«, ruft die Protagonistin, vor die Berufswahl gestellt. Und dann strickt sie doch, als unverheiratete Frau, Programme und Auswertungen. Heute könnte man eher dem Autor John Shore folgend sagen, Programmieren sei wie das Backen einer (Sacher-)Torte. Unbegreiflich eigentlich, warum man stets behauptet, Informatik hätte etwas mit Mathematik zu tun…

Anders als viele andere Scifi-Autoren konzipiert Andreas Eschbach keinen künftigen (Vierten) Weltkrieg, um die potenziellen Auswirkungen heutiger Technologien zu veranschaulichen, sondern nimmt die Technologie mit auf die Reise in die Vergangenheit. Auch so lässt sich begreifbar machen, was Stanislaw Lem mit neutraler bzw. amoralischer Technologie meinte, als er in Summa Technologiae schrieb: »Sie liefert die Mittel und Werkzeuge – das Verdienst bzw. die Schuld für ihre gute oder schlechte Verwendung liegt bei uns.« Wenn man Hintertüren oder (wie im neuen Telekommunikationsgesetz avisiert) Vordertüren in die Software, Netze oder Gerätschaften einbaut, dann sind es nicht nur die »guten Jungs«, die sie nutzen, um in die Systeme einzudringen, sagte der US-amerikanische IT-Sicherheitsguru Bruce Schneier. Der Endsieg – und das ist, neben den Programmiererinnen, der zweite wesentliche Unterschied zwischen dem realen Dritten Reich und dem Reich Eschbachs – gelingt nicht etwa dank der sprichwörtlichen deutschen technischen Überlegenheit, sondern dank entwendeter – gehackter – Unterlagen der amerikanischen Universität über eine Technologie, die sich zu einer Waffe entwickeln lässt.

»In Zukunft wird nicht nur unser Laptop oder unser Smartphone gehackt werden können, sondern unsere ganze Wohnung«, schreibt Katharina Nocun. »Wer heute meint, ein Vollzugriff des Staats auf unsere digitalen Assistenten sei notwendig, wird das vielleicht im Alter von 70 Jahren mit einem smarten Herzschrittmacher anders sehen.« Und doch: »Was heute noch wie Science-Fiction klingt, wird uns noch zu Lebzeiten einholen«, schreibt sie und meint damit nicht etwa dystopische Szenarien sondern genau das Gegenteil davon: »Wir brauchen eine Digitalisierung, die sich danach richtet, was der Gesellschaft nützt, und nicht danach, was dem Profitinteresse einiger weniger Konzerne dient.« Es sei kein Widerspruch, ein Smartphone zu nutzen und gleichzeitig zu fordern, »Geheimdienste sollten sich nicht herausnehmen, unsere persönlichen Assistenten zu Wanzen zu machen«, schließlich leben wir, im Gegensatz zu den Protagonisten aus Eschbachs NSA nicht mehr im (wenn auch teilweise fiktiven) Dritten Reich, sondern in einer Demokratie. Nocun geht mit gutem Beispiel voran und zeigt, was zu tun ist: Man müsse kein Hacker oder Datenschutzexperte sein, um etwas zu verändern; eine einfache E-Mail an die Behörde würde zuweilen ausreichen. »Als Zivilgesellschaft dürfen wir uns nicht darauf verlassen, dass die Wirtschaft und die Politik alle Probleme für uns lösen werden«, dass sich »für jedes Problem ein passendes Geschäftsmodell findet«, und sie appelliert: »Es gilt, selbst aktiv zu werden.« Dazu gehöre es, zu hinterfragen, »wie eine gesellschaftlich bestmögliche Umsetzung der digitalen Technik aussehen könnte« und diese Technik im Zweifel auch selbst, nur besser, zu bauen.

Science-Fiction kann dabei helfen, dies begreifbar zu machen. Aber auch so sehen wir schon heute, »dass Geschäftsmodelle, die auf die Durchleuchtung des Menschen hinauslaufen, unsere Freiheit einschränken«. Eventuell brauchen wir künftig mehr positive Beispiele für eine Technikanwendung »die uns mehr Möglichkeiten eröffnet. Die unser Leben besser macht. Die uns zu mehr befähigt, statt uns zu entmündigen.« Mehr positive Science-Fiction-Zukunftsvisionen und mehr Utopien. »Technik entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern in einem sozialen Kontext«, schreibt Nocun.

»In Frankreich, wo man die Juden mit Hilfe von Bleistift und Papier katalogisierte, wurden 24 Prozent erfasst und ermordet, in den Niederlanden, wo man Hollerith-Maschinen benutzte, wurden 73 Prozent der vorab erfassten Juden ermordet«, schrieb Hal Faber. Nicht nur Unternehmen wie IBM oder Schufa haben sich bis dato mit dem Einsatz ihrer Technologien bzw. ihrer Rolle in den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges nicht (öffentlich) auseinandergesetzt. Die Technologie und die durch ihren Einsatz erreichten Effizienzen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter diesen Technologien Menschen, Organisationen und Unternehmen mit ihren handfesten Interessen standen. In Eschbachs NSA bestraft die Protagonisten, die durch ihr Tun oder Nichtstun zum Endsieg beigetragen haben, das Leben bzw. das nun triumphierende Reich selbst. Ihr Erbgut ist aber für die Siegermacht zu wertvoll. Sie werden als Reproduktionsmaterial verwertet. So wird der nach einem gescheiterten Selbstmordversuch behinderte frühere Erpresser und NSA-Abteilungsleiter mit seiner arischen AAA-Stufe zum wertvollen, wenngleich unfreiwilligen Samenlieferant und die ehemalige NSA-Programmiererin in einem Cyborg-Experiment mittels eines Implantats zur wortwörtlichen Gebärmaschine umgebaut, deren Chip mit dem Antlitz Hitlers als Codewort aktiviert wird.

Es war übrigens ein lustiger Einfall von Andreas Eschbach, sich bei den arischen Rassestufen ausgerechnet vom Vorbild der Energieeffizienzklassen der heutigen Waschmaschinen inspirieren zu lassen: A, AA, AAA … Aber vielleicht war es auch umgekehrt?

Katharina Nocun: Die Daten, die ich rief. Wie wir unsere Freiheit an Großkonzerne verkaufen. Bastei Lübbe, Köln 2018, 347 S., 16 €. – Andreas Eschbach: NSA. Bastei Lübbe, Köln 2018, 796 S., 22,90 €.

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