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picture alliance / Westend61 | Andrew Brookes

Digitalisierung, Datenschutz und Cybersicherheit im Koalitionsvertrag Digitalpolitik ist Machtpolitik

In der Actionkomödie Miss Undercover aus dem Jahr 2000, in der Sandra Bullock in die Rolle einer FBI-Agentin schlüpft, die in eine Miss-Wahl eingeschleust wird, wird nicht nur das konservative Geschlechterrollenverständnis in der US-Bundespolizei, sondern auch die sakrosankten Auswahlverfahren der Miss-USA-Wahl auf die Schippe genommen. Jede Kandidatin wird auf der Bühne gefragt, was das Allerwichtigste sei, was der Gesellschaft noch fehle. Und eine Antwort gleicht der anderen – ob eine Kandidatin aus Iowa, Washington oder Kalifornien kommt. Nein, das Allerwichtigste sei nicht die härtere Bestrafung für die Verletzung von Bewährungsauflagen, wie von der FBI-Agentin vorgeschlagen. Erst als sie – wie alle zuvor – »Weltfrieden« antwortet, bekommt sie tosenden Beifall.

Ein Vierteljahrhundert später, zurück zur Non-Fiction: In Deutschland hat man möglicherweise nun eine ähnlich universelle Antwort auf die Frage »nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest« erfunden. Zumindest, wenn es nach dem Koalitionsvertrag der CDU, CSU und SPD Verantwortung für Deutschland geht. Die Digitalisierung – und an vielen Stellen auch in der Kombination von Digitalisierung und KI – scheint für die Koalition, die nicht GroKo genannt werden möchte, das Panaceum für viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme zu sein.

»Wir stärken die Attraktivität Deutschlands als Reiseziel«, heißt es beispielsweise zum Thema »Tourismus«. Wie? Indem man »eine neue nationale Tourismusstrategie« erarbeitet, die »[...] die Themen Tourismusakzeptanz, Lebensraumgestaltung und Digitalisierung in den Fokus rückt«. Rohstoffe? »Wir werden die Kreislaufwirtschaftsstrategie pragmatisch umsetzen und eine Digitalisierungsinitiative zur Schließung von Stoffkreisläufen starten.« Solarenergie? »Anmeldeverfahren werden wir durch Digitalisierung und Standardisierung vereinfachen.« Moderne Landwirtschaft? »Wir erschließen die Chancen aus Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Bioökonomie.« Steuerbürokratie reduzieren? »Mit stärkerer Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz stärken wir die Finanzverwaltung. Einhergehend werden wir die digitale Abgabe von Steuererklärungen schrittweise verpflichtend machen.« Bürokratierückbau? »Damit Investitionen wirken, werden wir das gesamte Staatshandeln mit Effizienzsteigerungen und Digitalisierung begleiten und dadurch eine Modernisierungs­rendite erzielen.«

Digitalisierung, das neue Zauberwort

Wie wird eine hohe Qualität der Rechtsprechung gesichert und schnelle Entscheidungen ermöglicht? Man kann es glatt erraten: Mit der Digitalisierung der Justiz.

Bis hin zu kurioseren Vorschlägen wie dem, das Waffenrecht mithilfe der Digitalisierung von Verfahren zu reformieren, damit »insbesondere Extremisten oder Menschen mit ernsthaften psychischen Erkrankungen nicht legal Waffen besitzen«. Gegen die Kinderarmut den Kindern »über eine Teilhabe-App einen unbürokratischen Zugang zu besonderen schulischen Angeboten sowie Sport-, Musik-, Kultur- und sonstigen Freizeitangeboten zu ermöglichen« oder »dafür sorgen, dass die Bahn wieder pünktlich fährt, die Straßen und Brücken wieder in einem guten Zustand sind, die ärztliche Versorgung gesichert ist« – mit Investitionen in die Infrastruktur und ... Digitalisierung.

»Digitalisierung« kommt auf 43 Nennungen im Koalitionsvertrag.

»Digitalisierung« kommt so auf etwa 43 Nennungen in dem Dokument, »Datenschutz« auf immerhin 25, »Sicherheit« sogar auf 123 – wobei sich darunter nicht nur Cybersicherheit oder IT-Sicherheit, sondern auch beispielsweise Rechtssicherheit subsumiert. Dem Thema »Digitales« ist ein ganzes Unterkapitel gewidmet, in dem es u. a. um Themen wie Resilienz, (digitale) Souveränität, Datenschutz-Reform oder Infrastruktur (Glasfaserausbau et al.) geht.

»Digitalpolitik ist Machtpolitik« wird gleich am Anfang des Abschnittes deklariert. Dementsprechend wird – angefangen bei Grundsätzen wie »Digital Only« für die »vorausschauende« und »leistungsfähige« moderne Verwaltung, »Markt vor Staat« für den Ausbau digitaler Infrastruktur oder den Schutz »digitaler Grundrechte« – über den Einsatz konkreter Lösungen und Produkte wie die Deutsche Verwaltungscloud (VDC), Deutschland ID oder eine sichere eID/EUDI-Wallet bis hin zur Stärkung konkreter Organisationen wie dem Zentrum Digitale Souveränität (ZenDiS), der Sovereign Tech Agency oder der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) – vieles direkt im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Tatsächlich liest sich das stellenweise wie eine Einkaufsliste für die deutschen (und europäischen) IT- und KI-Hersteller. Denn die Digitalpolitik wird konsequent auf »Souveränität, Innovation und gesellschaftlichen Fortschritt« ausgerichtet.

Deutschland soll zum »Rechenzentrumstandort« ausgebaut werden; dafür »holen [wir] mindestens eine der europäischen ›AI-Gigafactories‹ nach Deutschland und treiben Edge-Computing voran«. Die digitale Infrastruktur wird entscheidend vorangetrieben. Man möchte Deutschland für Talente, IT-Forscher und -Spitzenkräfte attraktiver machen – jedoch ohne den berüchtigten »Hackerparagraphen«, der IT-Sicherheitsforschung unter Strafe stellt, abzuschaffen (lediglich »Rechtssicherheit« soll geschaffen und Missbrauchsmöglichkeiten verhindert werden). Daten-Ökosysteme werden gefördert. Statt auf Datenschutz wird auf Datensouveränität gesetzt, und es soll eine Grundlage für ein Datengesetzbuch geschaffen werden. Unter diesen Rahmenbedingungen sollen die Datenökonomie etabliert, Effizienzen gehoben und Innovationen angezogen werden.

Experten warnen vor übermäßigem Vertrauen in die Lösungskraft von Technologie.

Die Vorhaben wirken ein wenig wie eine deutsche Variante des Cargo-Kults, der ursprünglich um das Ende des 19. Jahrhunderts als (religiöse) Bewegung in Melanesien entstand. Cargo-Kult beschreibt den Glauben, dass durch das bloße Nachahmen äußerer Merkmale deren Erfolg reproduzierbar sei – ohne das dahinterstehende Verständnis oder die zugrunde liegenden Strukturen zu verstehen. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur, Rechenzentren, zentraler Datensilos, Daten-Ökosysteme sowie die Digitalisierung und Zentralisierung der Verwaltungsprozesse implizieren nämlich nicht zwangsläufig mehr und bessere Innovationen, einen modernen und handlungsfähigen Staat oder etwa einen Boom der (IT-/KI-)Wirtschaft.

Vielmehr warnen Expertinnen und Experten vor einem übermäßigen Vertrauen in die heilende Kraft der Technologie: Wer glaubt, sie könne gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme lösen, habe entweder die Technologie – oder die Probleme – nicht verstanden.

»Bevor wir anfangen können, Fragen zu stellen, wie Computer und Technologie bei der Mission helfen können, muss die Mission klar sein«, riet der Techkritiker Evgeny Morozov im Interview mit der NG|FH (1/2/2024). Digitalisierung oder der Aufbau digitaler Infrastruktur werden nicht per se die Bahn pünktlicher oder die Demokratie resilienter machen. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Um den Soziologen Zygmunt Bauman zu paraphrasieren: Computer und Technologie neigen dazu, bestehende Trends – positive wie negative – zu verstärken, statt neue und disruptive Arbeits- oder Lebensentwürfe hervorzubringen. Wer jemals einen mehrseitigen Antrag ausfüllen musste, wird sich über die Vorstellung wundern, Bürokratie sei rational und effizient – selbst dann, wenn der Antrag nicht mehr auf Papier, sondern online ausgefüllt werden muss.

Zeitenwende in der inneren Sicherheit

»Die Bürokratisierung des Alltagslebens bedeutet, den Menschen unpersönliche Regeln und Vorschriften aufzuerlegen; unpersönliche Regeln und Vorschriften funktionieren aber nur, wenn sie durch Gewaltandrohung gestützt werden«, schrieb David Graeber in Bürokratie. Die Utopie der Regeln.

»Nahezu überall tauchen während dieser letzten Phase der totalen Bürokratisierung Überwachungskameras auf, Polizeifahrzeuge, Herausgeber von Ausweiskarten, Männer und Frauen in Uniformen, die [...] in Taktiken der Bedrohung, der Einschüchterung und nicht zuletzt auch der physischen Gewaltanwendung ausgebildet werden.«

Dass man im Digitalen die gleiche Richtung einschlagen möchte, wird im Abschnitt 3 Sicheres Zusammenleben bestätigt: Von einer »Zeitenwende in der inneren Sicherheit« ist darin die Rede. »Wir führen eine verhältnismäßige und europa- und verfassungsrechtskonforme dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern ein, um diese einem Anschlussinhaber zuordnen zu können«, heißt es dort, wo es um die Erweiterung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden geht: »Im Rahmen ihrer begrenzten Zuständigkeit ermöglichen wir der Bundespolizei zur Bekämpfung schwerer Straftaten die Quellen-TKÜ ohne Zugriff auf retrograd gespeicherte Daten.« Auch soll »für bestimmte Zwecke« die »automatisierte Datenrecherche und -analyse sowie der nachträgliche biometrische Abgleich mit öffentlich zugänglichen Internetdaten, auch mittels Künstlicher Intelligenz«, möglich sein – ebenso wie der »Einsatz von automatisierten Kennzeichenlesesystemen im Aufzeichnungsmodus zu Strafverfolgungszwecken«.

Spielräume ausschöpfen für ein Höchstmaß an Sicherheit.

Natürlich gelten diese Befugnisse unter Vorbehalt – nämlich »unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben und digitaler Souveränität«, was hier als alternative Umschreibung für Datenschutz fungiert. Gleichzeitig bekennt sich der Koalitionsvertrag dazu, »die europa- und verfassungsrechtlichen Spielräume auszuschöpfen, um ein Höchstmaß an Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten« und das »Spannungsverhältnis zwischen sicherheitspolitischen Erfordernissen und datenschutz­rechtlichen Vorgaben« neu austarieren zu wollen.

Der Datenschutz soll – entgegen den Ankündigungen in den Wahlprogrammen – nicht im Rahmen eines »Datenschutz-Bürokratieabbaus« reduziert, jedenfalls nicht explizit, sondern reformiert werden. »Dem Datenschutz kommt eine wichtige Bedeutung zu« heißt es sogar dort, wo es um europäische Wettbewerbsfähigkeit geht. Konkret sollen im Datenschutzrecht »aufwändige Einwilligungslösungen« durch »unbürokratische Widerspruchslösungen« ersetzt werden – für eine komfortablere Nutzung staatlicher Serviceleistungen. Die Daten­schutzkonferenz (DSK) soll im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) verankert und mit Standardsetzungskompetenz ausgestattet werden. Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz soll – »[i]m Interesse der Wirtschaft« – in »Bundesbeauftragte für Datennutzung, Datenschutz und Informationsfreiheit« umbenannt werden.

An einer Stelle überrascht der Koalitionsvertrag dann doch positiv: Zwar wird das Recht auf Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht ausdrücklich erwähnt, doch man will »die Vertraulichkeit privater Kommunikation und Anonymität im Netz« sichern – grundsätzlich. Und zwar durch »die breite Anwendung von Privacy Enhancing Technologies« (PETs), zu denen ausdrücklich auch Verschlüsselung zählt.

Mit Vollgas in die Digitalisierung

Anderswo wiederum bleibt der Koalitionsvertrag weit hinter den Erwartungen zurück – insbesondere beim Schutz kritischer Infrastrukturen oder der Bürgerinnen und Bürger. Nicht nur die aktuelle (geo-)politische Bedrohungslage, sondern gerade auch der Ansatz, »mit Vollgas in der Digitalisierung« zu fahren, sorgt für neue Cyberrisiken. Diesen will man offenbar vor allem mit dem Ausbau digitaler Kompetenzen oder durch technischen Lock-in begegnen. Wie unzureichend das ist, zeigte kürzlich die Bundesagentur für Arbeit: Nach einem Angriff auf die Online-Accounts steht den Nutzerinnen und Nutzern faktisch nur noch ein einziger – angeblich dem Vertrauensniveau angemessener – Zugangsweg offen, nämlich über die Identifizierung mittels BundID.

Ausbau digitaler Kompetenzen gegen Cyberrisiken.

Das Ziel der Cybersicherheit sei, die Freiheit zu schützen, ohne die Freiheit zu opfern, sagte Stephan J. Kremer, Präsident des Thüringischen Verfassungsschutzes, auf dem Handelsblatt-Datenschutzkongress. Die totale Bürokratie, wie Graeber sie beschreibt, birgt die Gefahr, in totale Überwachung zu münden. Ein Aspekt, der im Koalitionsvertrag tatsächlich zu kurz kommt: Der zunehmenden Überwachung der »Beherrschten« steht kaum zusätzliche – demokratische – Kontrolle der »Herrschenden« gegenüber.

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