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Neue Perspektiven für die Marginalisierungsforschung Doch ganz schön viel Klasse

Die soziale Frage kehrt zurück auf die Tagesordnung des Feuilletons und der Wissenschaft. Im realen Leben war sie selbstverständlich nie verschwunden. (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Sozialhilfebezug – gesellschaftliche Marginalisierung war und ist für diejenigen, die sie erleben, bitterer Alltag. Innerhalb der Sozialwissenschaften wird dies aktuell verstärkt reflektiert. Die genaue Betrachtung konkreter Lebensumstände ist die Voraussetzung für eine Sozialforschung, die Fragen gesellschaftlichen Seins realitätsnah dokumentieren will. Die Einbeziehung der subjektiven Wahrnehmungen und Handlungsorientierungen ist notwendig, um diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen, die für Menschen in marginalisierten Lagen im Alltag bedeutsam werden, auch tatsächlich zu erkennen. Dieses Wissen erhält dann direkt eine politische Komponente, wenn es darum geht, die Rahmenbedingungen zu gestalten und Menschen für die Thematik zu sensibilisieren.

Dafür bietet es sich an, den Begriff der Klasse wieder in die Diskussion zurückzuholen. In Deutschland wurde die Klassenanalyse weitgehend auf den Dachboden der Geschichte verbannt. Zumindest im Marx-Jahr 2018 macht man sich jedoch nicht sofort verdächtig, wenn man wieder mit diesen Analysen beginnt. Nach meiner Auffassung ermöglicht eine an Karl Marx orientierte Klassenanalyse unterschiedliche Lebensbedingungen in einem theoretischen Gebäude aufeinander beziehen zu können. Für Marx ist Klasse dabei mehr als die Stellung einzelner Gruppen im gesellschaftlichen Produktionsprozess. Gerade im Manifest der Kommunistischen Partei und in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte schärft er den Blick für die subjektiven Formen, in denen sich das jeweilige Interesse der Klassen und Klassenfraktionen äußert. Auch innerhalb der Arbeiter/innenklasse gibt es abgrenzbare, soziokulturelle Identitäten, aus denen sich verschiedene Handlungsstrategien entwickeln – also Klassen in der Klasse.

Es waren vor allem der französische Soziologe Pierre Bourdieu und der britische Historiker Edward P. Thompson, die diese praxeologische Klassenanalyse weiterentwickelten. Beide betonen die wechselseitige Bezugnahme objektiver Gesellschaftsstrukturen und subjektiver sozialer Praxis und beschreiben, wie das Subjektive immer zugleich auch das Objektive beinhaltet und umgekehrt. Durch diese Verbindung zwischen Handlungs- und Strukturtheorie tragen beide der gewachsenen Rolle der symbolischen Dimension von Herrschaft Rechnung. Diese Erweiterung richtet sich gegen eine Klassenanalyse, die Klassen als gegebene Substanz betrachtet. Vielmehr ist Klasse nicht statisch, sondern etwas, das sich unter Menschen und in ihren Beziehungen abspielt. Reproduziert wird sie daher nicht nur über den materiellen Reichtum, sondern auch über klassenspezifische Habitusformen. Der Habitus als Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschema wird alltäglich eingeübt und erhält durch seine klassenspezifische Ausprägung eine gesellschaftliche Dimension. Dies äußert sich bei so unterschiedlichen Dingen wie Essensvorlieben, dem Musikgeschmack oder der Wohnungsgestaltung – all dies ist klassenmäßig geprägt.

Klasse kann somit als habitualisierte Traditionslinie verstanden werden, die unter konkreten sozioökonomischen Bedingungen entstanden ist, durch diese aber nicht endgültig bestimmt wird. Der hier gewählte Fokus auf die subjektive Seite ist dabei kein Selbstzweck, sondern soll die Möglichkeit eröffnen, konkrete Erfahrungen in den Blick zu nehmen und diese als Ausdruck der Klassenstellung zu verstehen: Klasse wird erlernt und im alltäglichen Handeln, Denken und Wahrnehmen reproduziert.

Formen von Marginalisierung

Da ich diese lebensweltlichen Ausprägungen der Klassengesellschaft zu beschreiben versuche, stütze ich mich auf qualitative Daten, die es erlauben, die Bedeutungssysteme, Selbstwahrnehmungen und Motivationslagen der Befragten einzubeziehen. Gerade bei gesellschaftlicher Marginalisierung ist es wichtig, mit den Betroffenen zu reden und nicht über sie. Empirisch stütze ich mich auf zehn biografische Lebenslaufinterviews (von insgesamt 300), die im Rahmen des Projekts »Reproduktion sozialer Ungleichheit in Deutschland« zwischen 2009 und 2015 von einer Forscher/innengruppe um Boike Rehbein, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, erhoben wurden und bei denen die Befragten relativ frei erzählen konnten. Zentral war es hier, Lebensrealitäten ernst zu nehmen, um somit die Gefahr zu vermeiden, sich von konkreten Erfahrungen abzukoppeln. Marginalisierung äußert sich dabei in vielfältigen Formen, die in unterschiedlichen Bereichen wirken. Die Klasse der Marginalisierten besitzt allgemein wenig (ökonomisches, soziales oder kulturelles) Kapital. Vom Rest der Gesellschaft wird sie oft als faul, würdelos und ungeeignet für Arbeit klassifiziert. Dabei ist gerade dies – eine Arbeitsstelle – der größte Wunsch vieler Marginalisierter. Eine subjektorientierte Klassenanalyse steht vor der Aufgabe, Begrifflichkeiten und Methoden weiterzuentwickeln, die diese verschiedenen Formen der Verwundbarkeiten als soziale Phänomene erfassen und dadurch eine Verbindung zwischen dem Unten der Gesellschaft und ihrer Gesamtheit herstellt.

So zeigt sich in der Auswertung der Interviews dann auch, in welch unterschiedlichen Feldern man die Klassenlage zurückverfolgen kann: Schule, Ausbildung, Einstellung zur Zukunft, wie jemand lacht, was er/sie liest, was er/sie mag und isst – all das hängt zusammen und ist nicht zufällig verteilt. Eine Klassenanalyse, die dies bedenkt, nähert sich den Lebenswelten der Menschen an.

Beruflich haben die Eltern der zehn Befragten, allesamt Lohnarbeiter/innen, immer »mehrere Sachen gemacht«. Ein Bewusstsein als Leistungsträger/innen (in der Erwerbsarbeit) sprechen die Befragten ihren Eltern nicht zu und damit kein Bewusstsein als Arbeiter/innen. Ebenso kam es bei den Eltern zu keiner Identifikation mit dem Beruf. Stolz durch und auf die Arbeit scheint etwas zu sein, dass den Befragten nicht vermittelt wurde. An ihre eigene Erziehung scheinen die Befragten keine großen Erwartungen gelegt zu haben. Sie setzen viel materieller an. Die Erziehung war »normal eigentlich. Bin kein Straftäter, kein Gewalttäter, bleibe ich auch«, so ein Interviewparter. Erziehung wird hier lediglich als Grundlage für das weitere normierte Leben gesehen. Subjektiv wird »normal« dabei so gedeutet, Teil der bürgerlichen Rechtsordnung und damit ein Mitglied der Gesellschaft zu sein. Aus Fremdperspektive bedeutet »normal« jedoch auch weiterhin, marginalisiert zu leben. Die Vermittlung von Werten und Einstellungen, die darüber hinausgehen, oder gar (Zukunfts-)Hoffnungen, wird nirgends angesprochen.

Aktuell arbeitet keine/r der Befragten in dem Beruf, den sie jeweils gelernt haben. Ebenso findet man häufige Unterbrechungen und Wechsel der Tätigkeit. Da diese nicht selbst gewählt sind, zeigt die Austauschbarkeit der Personen aufgrund ihrer geringen Qualifikation ihre prekäre berufliche Lage – die Berufssituation der Eltern kann hier als Blaupause dienen. Mit dieser Unsicherheit geht jedoch ein Festhalten der Befragten an der Idee von Lohnarbeit als normativem Ordnungsrahmen einher. Lohnarbeit wird als Notwendigkeit gesehen, die Selbstständigkeit und ein würdevolles Leben ermöglichen soll. Sie ist jedoch kein Ausdruck von Selbstverwirklichung oder Leistungsethos. In den Interviews zeigt sich, dass selbst dieses Ziel – eine Arbeit, zu finden, welche die eigene Reproduktion sicherstellt – für die Befragten sehr unwahrscheinlich und unrealistisch ist. Wohnungslosigkeit, fehlende Ausbildung oder Krankheit machen häufig selbst einfachste Tätigkeiten unmöglich. In erster Linie geht es daher darum, irgendeinen Job zu finden und Geld zu verdienen. Da die Orientierung an der Erwerbsarbeit ungebrochen hoch ist, muss auch die Kehrseite betrachtet werden: die Arbeitslosigkeit. Alle hier Befragten haben bereits Erfahrungen damit gemacht. In kapitalistischen Gesellschaften ist fehlende Arbeit ein zentraler Aspekt gesellschaftlicher Desintegration.

Symbolische Grenzziehungen und moralische Ökonomie

Die Befragten nehmen ihre gesellschaftliche Marginalisierung selbst wahr und positionieren sich in der gesellschaftlichen Hierarchie unten, und dies trotz der vielfältigen Anstrengungen, von denen die Befragten berichten. Sie wünschen sich Inklusion in die Gesellschaft. Es geht dabei in erster Linie darum, überhaupt dazuzugehören und erst an zweiter Stelle ist relevant, wo genau. Man findet hier in gewisser Weise ein negatives Klassenbewusstsein vor, denn zentral sind Aspekte des Mangels und der Not. Insofern kann von einer Klasse auf Basis einer geteilten (negativen) Erfahrung gesprochen werden.

Die Klassengrenzen werden deutlich sichtbar, wenn die Befragten davon reden, wer sie nicht sind. Wer gesellschaftlich über ihnen stehe, sei klar zu bestimmen. Man könne mit den Leuten »gar nicht reden«, sie würden »viel von sich halten«, seien »abgekapselt« und hätten mit »reellen Problemen« nichts zu tun. Dabei werden ihnen von den Befragten moralische Mängel wie Arroganz und Abneigung zugeschrieben. Der Ökonomismus der herrschenden Gesellschaftsordnung wird von der eigenen moralischen Ökonomie abgegrenzt – Anstand wird in der eigenen Klasse gefunden: »Wenn mich zum Beispiel ‘ne Frau anspricht, ob ich 20, 30 Cent hab, dann geb ich die, weil ich weiß, wie wertvoll 20, 30 Cent sein können«, so eine Befragte. Klassengrenzen werden symbolisch gezogen und moralisch aufgeladen. Das Selbst wird als positiv bewertete soziale Identität verstanden. Das Klassenbewusstsein der Befragten wird dabei, wie sich in den Interviews gezeigt hat, am besten verstanden, wenn man die Klassengrenzen als Ausdruck von moralischen Kategorien versteht, nach denen die Welt geordnet wird.

Marx’ Kritik der politischen Ökonomie folgend geht es nun darum, aus den realen Verhältnissen eine Systematisierung zu entwickeln. Aus dem vorgestellten Konkreten soll das Abstrakte als einfachste Bestimmung entwickelt werden. Die Vielfältigkeit der Ausgrenzungserfahrungen und Benachteiligungen der Befragten findet ihren gemeinsamen Ausdruck in der geteilten Lage der Befragten: »unten« in der gesellschaftlichen Hierarchie und gleichzeitig, durch fehlende Lohnarbeit und Anerkennung durch andere, »draußen« zu sein. Ausbeutung und Ausschluss kommen zusammen. Dies wird subjektiv von den Befragten gedeutet. Diese Wahrnehmungen sind jedoch von der gesellschaftlichen Stellung geprägt und Teil des (Klassen-)Bewusstseins der eigenen Lage.

Nutzen für die Sozialdemokratie

Der Begriff der Klasse muss somit auf die Akteur/innen und ihre alltägliche Lebenswelt zentriert werden. Eine solche Forschung, sowohl thematisch auf Marginalisierung als auch methodisch auf Lebensrealitäten bezogen, kann für die gesellschaftliche Linke und insbesondere eine Sozialdemokratie relevant werden, die in der Bevölkerung wieder Fuß fassen will. Die Marginalisierten eint das Bedürfnis nach stärkerer gesellschaftlicher Integration, die für sie in erster Linie durch Lohnarbeit ermöglicht wird. Gleichzeitig können sie diese de facto nicht erreichen. Diese Lücke zeigt den enormen politischen Handlungsbedarf – und auch die Wichtigkeit der subjektiven und lebensweltlichen Dimension. Sigmar Gabriel, damaliger Parteivorsitzender der SPD, hat dies am 13. November 2009 in einer Rede auf dem Dresdner Parteitag seiner Partei ins Stammbuch geschrieben. Unter großem Applaus sagte er damals: »Wir dürfen uns nicht in die Vorstandsetagen und Sitzungsräume zurückziehen. (…) Wir müssen raus ins Leben, dahin, wo es laut ist; dahin, wo es brodelt, dahin, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben!«

Heute, fast zehn Jahre später, ist das Problem gesellschaftlicher Marginalisierung immer noch drängend: rund 860.000 Menschen haben in Deutschland keine Wohnung. Wenn jedoch aus Marginalisierten Akteur/innen werden, eröffnen sich verschiedene Formen der Handlungsmacht – von Partizipation über Teilhabe bis zur Selbstorganisation. Außerdem werden politische Ansatzpunkte deutlich: So gibt es zwar kein Bewusstsein als Lohnarbeiter/innen, aber gleichzeitig den Wunsch nach Würde, Handlungsfähigkeit und Zugehörigkeit, der sich wiederum in Lohnarbeit ausdrückt. Um all dies zu erkennen, muss man jedoch die Betroffenen ernst nehmen und sie selbst zu Wort kommen lassen. Dies gilt sowohl für die Wissenschaft als auch für die Politik.

 

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